Blick zurück nach vorn


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Ripuarische Avantgarde

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Episoden

Andreas Mertin

Wer in den letzten Wochen und Monaten die bundesdeutschen Feuilletons aufmerksam verfolgt hat, wird auf den Streit in der Diözese Köln um die rechte zeitgenössische ästhetische bzw. künstlerische Ausdrucksgestalt des lokalen Christentums aufmerksam geworden sein. Öffentlichkeitswirksam wurde ein Konflikt inszeniert und ausgetragen, der zum einen die mediale Aufmerksamkeit auf die örtlichen Ereignisse lenken sollte, zum anderen aber auch tief greifende Meinungsunterschiede im Kölner Domkapitel offenbarte. In Frage stand: Wie muss zeitgenössische Kunst aussehen und wie muss sie sich selbst verstehen, um als christliche Kunst akzeptiert zu werden?

Episode 1

Was war geschehen? Der wohl weltweit berühmteste deutsche Maler, Gerhard Richter, hatte für den Dom zu Köln ein Fenster gestiftet, nachdem er von der dortigen Diözese mit einem Preis ausgezeichnet worden war. Ursprünglich war wohl an ein figuratives Fenster mit (katholischen?) Märtyrern des 20. Jahrhunderts gedacht worden, was sich aber für Gerhard Richter offenkundig als nicht realisierbar erwies. Statt dessen entschied er sich für ein Farbenfeld, wie er es auf verschiedenen Bildern der 70er Jahre schon einmal durchbuchstabiert hatte. Dabei werden tausende Farbfelder in einer zufälligen Zusammenstellung vorgestellt, die insgesamt zunächst ein diffuses Bild erzeugen, dann aber Neugier erwecken im Blick auf das Zusammenspiel der Farben.

Im Verlaufe der Installation des Fenster, vor allem aber im Anschluss daran, kam es zu schwerwiegenden Irritationen. Der Kölner Kardinal Meißner störte sich an der Gestaltlosigkeit des Fensters, weil er der Ansicht war, in der vorliegenden Form passe es besser in eine Moschee als in eine christliche, genauer: eine katholische Kirche. Das ist insofern interessant, als landauf landab hunderte von Kirchen mit gestaltlosen Glasfenstern ausgestattet sind, ohne jemals ernsthaft auf den Protest der Kirchenleitungen gestoßen zu sein. Abstraktion ist in den 80er- und 90er-Jahren zu einem Lieblingsstil in der Kirchenausstattung geworden. Erst um den Jahrtausendwechsel zeigen sich hier neue Entwicklungen.

Der Konflikt der katholischen Kirche mit der jeweils zeitgenössischen Kunst ist dabei keineswegs neu. Schon im Tridentinum wurde festgelegt, "dass niemand in einer Kirche oder wo auch immer ein ungewöhnliches Bild aufstellen oder in Auftrag geben darf, das nicht vorher vom Bischof abgesegnet wurde". Diese Bestimmung des Konzils setzt natürlich voraus, dass vergleichbare Konflikte schon damals vorhanden waren. Francois Boespflug hat anhand einiger Streitfälle darauf hingewiesen, „dass die Kirche nicht erst das 16. Jahrhundert abwartete, um über die strikte Orthodoxie der religiösen Malerei zu wachen“. Nach dem Tridentinum spitzte sich die Situation noch zu. „Je mehr sich die Kontrolle intensivierte, desto mehr diversifizierte sie sich auch. Die Unterscheidung zwischen einer Jagd nach dem Nackten, nach lächerlich wirkender Plumpheit, nach Monströsem, Animalischem, Anachronistischem, Grauenhaftem, Beleidigendem und schließlich marktschreierischer Prachtentfaltung erscheint deshalb keineswegs künstlich.“[1] Berühmt geworden ist der Konflikt um ein riesiges Werk von Paolo Veronese, der sich 1573 wegen seines Gemäldes „Abendmahl Christi und seiner Jünger im Haus des Simeon“ der Inquisition stellen musste - und den Konflikt mit der Umbenennung der Arbeit schlichtete (die Arbeit kann heute in der Akademie in Venedig betrachtet werden).

veronese

So gesehen steht Kardinal Meisner in einer langen Tradition kritischen Umgangs der Kirchenleitungen mit zeitgenössischer Kunst. Wie also soll die christliche Religion künstlerisch Gestalt annehmen? Hier differieren offensichtlich die Meinungen. Kardinal Meisner plädierte dabei keinesfalls für mittelalterliche Kunst, sondern entschieden für die Kunst der Moderne. Dagegen lehnte er das ästhetische Spiel der Postmoderne, für die Gerhard Richter sicher ein treffendes Beispiel[2] ist, entschieden ab. Meisner verwies in der Diskussion um die Gestaltfindung des Christentums auf Werke von Joseph Beuys, in denen künstlerische Avantgarde und religiöser Impuls des 20. Jahrhunderts exemplarisch zusammen kämen. Herausragendes Beispiel sei etwa die Kreuzigungsdarstellung von Beuys, die sich heute etwas unscheinbar in der Stuttgarter Staatsgalerie befindet.[3]

In einem Vortrag kurz nach seinen ersten Äußerungen zum Thema, aber noch vor der Predigt zur Eröffnung der Kolumba, wünschte sich der Kölner Erzbischof mehr avantgardistische Künstler, die sich in ihren Werken mit Christus auseinandersetzen. Arbeiten wie die „Kreuzigung“ von Joseph Beuys seien in der Lage, menschliche Grunderkenntnisse wiederzugeben. Künstler sollten tiefe Erkenntnisse suchen, nicht rasche Erlebnisse, betonte der Kardinal. Die Plastik von Beuys zeigt mittels Hölzern, Nadeln und Blutkonserven-Flaschen eine Kreuzigungsgruppe mit Maria und Johannes. Die gegenstandsfreie Darstellung von Gerhard Richter dagegen sei eine unbefriedigende Gestaltwerdung: „Wenn wir schon ein neues Fenster bekommen, soll es auch deutlich unseren Glauben widerspiegeln. Und nicht irgendeinen“. Das Fenster von Richter passe „eher in eine Moschee oder ein anderes Gebetshaus“ als in die gotische Kathedrale. Kunst müsse Wirklichkeit zeigen. Interessant ist daran, dass die Stuttgarter Staatsgalerie zur Beuys’schen Arbeit hervorhebt: „Der Verzicht auf jede realistische und figürliche Schilderung verleiht den Dingrelikten eine metaphorische Bedeutung.“ Die Arbeit von Beuys ist erkennbar nur als Metapher wahrzunehmen und zu deuten. Das Gleiche ließe sich aber auch für die Arbeit von Richter in Anschlag bringen.

Insofern zeigt Meisner ein radikal verkürztes Kunstverständnis. Es reduziert Kunst auf eine spezifische Form der Darstellungsästhetik und das lässt fraglich werden, ob Meisner etwas von dem von ihm so gelobten Joseph Beuys, der untrennbar auch mit der Moderne und ihrem Bruch mit der Darstellungsästhetik verbunden ist, verstanden hat. Beuys ist nur mit den Impulsen der Moderne und nicht gegen sie zu haben. Beuys steht Gerhard Richter näher, als es Meisner sich in seinen kühnsten Träumen vorstellen kann, denn die Post-Moderne steht in einem Reflexionsverhältnis zur Moderne.

An der Figuration kann und sollte sich die Differenz nicht auftun - das wäre eher Zeugnis einer elementaren Unkenntnis der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ästhetik, worauf viele Kommentatoren zur Verteidigung der Arbeit von Richter hingewiesen haben. Aber der Vorwurf der Gestaltlosigkeit, den Meisner erhoben hat, berührt etwas, was Teile des Katholizismus seit Jahren mit sich herumschleppen. Und damit kommen wir zum zweiten Teil der Geschehnisse.

Episode II

Kardinal Meisner hat es nicht bei der Kritik der Fenster von Gerhard Richter und der Heraushebung der Arbeit von Joseph Beuys belassen. Er hat in einer Predigt - also einer Auslegung und Verkündigung des Wortes Gottes - folgendes ergänzt: "Dort, wo die Kultur von der Gottesverehrung abgekoppelt wird, erstarrt der Kultus im Ritualismus und die Kultur entartet. Sie verliert ihre Mitte."

Diesen Satz muss und sollte man mehrfach lesen, um ihn recht zu verstehen. Es geht nicht um das Wort „entartet“, dessen Genese und Geschichte wesentlich komplexer ist, als die Kritiker es unterstellen (dazu mehr weiter unten). Nur ein einziger Feuilletonist kritisierte, was hieran zu kritisieren ist: nämlich dass in einer fatalen Tradition des 19.(!) Jahrhunderts eine biologistische Vokabel auf die Kultur angewendet wird. Das ganze lebensphilosophische Gerede von der kranken Kultur liegt zeitlich weit vor dem Deutschen Nationalsozialismus und war von Anfang an ebenso falsch wie dieser.

Zunächst aber hat der Satz von Meisner aber eine selbstreflexive Spitze, die man durchaus aufmerksam zur Kenntnis nehmen sollte, weil sie vermutlich plausibel macht, warum Meisner sich so sehr für das neue Kölner Diözesanmuseum eingesetzt hat und trotzdem gegen andere Kunst Stellung bezog. Denn sein Satz besagt auch, dass ein religiöser Ritus ohne Kunst in Ritualismus erstarrt. Allgemeiner gesprochen: Kultus ohne Kultur ist - um es mit einem Wort von Adorno zu sagen - Idiotie.[4] Dieser Teil seiner Ausführungen sollte nicht einfach unter den Tisch fallen. Er sollte - bei aller Differenz, die in der Sache weiterhin besteht - zum Common Sense in der Diskussion um Kunst und Religion gehören.

Aber er gehört traurigerweise eher selten zur selbstkritischen Reflexion des Katholizismus, sondern vielmehr zum Standardrepertoire einer katholischen Kritik am Protestantismus. Ende der 80er-Jahre hat der Münchener Philosoph Eberhard Simons in zwei Aufsätzen in theoästhetischen Fachzeitschriften die entsprechende Auffassung vom Verhältnis von Kunst und Religion bzw. Christentum skizziert.[5] Aus Simons Sicht gibt es eine in der europäischen Kunstgeschichte weitgehend konsistente Invariante, und zwar den "genuinen Zusammenhang zwischen Kunst und Religion, zwischen künstlerischer Mitteilung und biblischer Verkündigung, als der eine ganze Verkündigungs- und Lebenszusammenhang."[6] Es sei eine der Leistungen der jungen christlichen Religion gewesen, "einen neuen menschlich ergreifenden Geist der Kunst ... zur Verkörperung gebracht" zu haben. Dies habe über Jahrhunderte als selbst- und gemeinverständlich gelten können. Es gab aus seiner Sicht nur wenige Irritationen, keine kirchenamtlichen Kunstverbote und kaum Konflikte zwischen Kunst und Glaube. Erst der Bilder- und Kirchensturm der Reformation habe die Selbstverständlichkeit des Zusammenhangs von Kunst und Religion in Frage gestellt. Das empfindet Simons heute noch als "dramatisch", "desaströs" und "tragisch". Auch die katholische Kirche sei inzwischen der protestantischen Säkularisierung zum Opfer gefallen. "Die Vertreibung der christlichen Botschaft nach Innen und die Sublimierung des Glaubens ins rein 'Geistige' (die Simons der Reformation anlastet) bedeuteten Auflösung und Vernichtung dieser Botschaft. Dieses Rückzugsideal zu verfolgen ist gleichwohl identisch mit der Tendenz der Vertreibung der Kunst aus der Kirche."[7] Die Spaltung von Kunst und Religion ist demnach kein Teil der objektiven Entwicklung der abendländischen Gesellschaft, sondern ein katastrophaler „Substanzverlust des Glaubens“, eine „Auflösung und Vernichtung“ der christlichen Botschaft, die zur „Dauerkrise des Christentums“ führe. Von dieser Entwicklung sind dann sowohl die Nachgeschichte der Kunst wie des Christentums berührt: Ästhetisierung, Formalisierung und Unverbindlichkeit der Kunst, Rationalisierung, Entsakralisierung und Bürokratisierung der Kirche seien die Folgen. Künftig bedürfe es einer „schöpferischen Wende im Zusammenhang von christlicher Botschaft und Verkündigungsgestaltung, von Kirche, Theologie und Kunst“. Es ist leicht zu sehen, dass sich Kardinal Meisners Überlegungen mit den Ausführungen von Eberhard Simons decken. Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass Meisners Ausführungen keine Einzelmeinung darstellen, sondern eher die grundsätzliche Haltung von Kirchenleitungen darstellen - übrigens auch evangelischer, wie die Äußerungen von Thies Gundlach ja einschlägig ausweisen.[8]

Betrachten wir in einem zweiten Schritt die kulturkritische Spitze des Satzes von Meisner. Sie lautet: Wenn die Kultur sich vom Gottesbezug abwendet, verliert sie ihre Mitte. Natürlich hört man hier nur allzu deutlich den Bezug auf und die Tonlage von Hans Sedlmayrs „Verlust der Mitte“. Hier kokettiert Meisner mit einem katholischen Kunsttheoretiker, dessen Nähe zum Nationalsozialismus ihn hätte freilich davor warnen sollen, auch noch die Vokabel „entartet“ hinzuzufügen. Der Verlust der Mitte ist es, der Meisner wie Sedlmayr umtreibt. Ironischer Weise hätte Sedlmayr insbesondere Joseph Beuys als herausragendes Beispiel einer Kultur gezeichnet, bei der der Verlust der Mitte evident geworden ist. Wer Sedlmayrs Buch heute liest, muss die gesamte Kultur nach 45 als gescheiterte Kultur wahrnehmen.

Nun ist aber das zugrunde liegende Modell von Meisner wie Sedlmayr ein zutiefst religiöses. Es ist ein mögliches religiöses Interpretament dieser Welt. Es besagt zunächst nichts anderes, als dass im Kern der Kultur nach diesem theologischen Modell Gott präsent ist bzw. sein muss.[9] Dieses Modell kann man deskriptiv (d.h. freiheitlich) verstehen oder normativ (d.h. konservativ). Deskriptiv verweist es uns auf das, was in der zeitgenössischen Kultur de facto geschieht. Wir müssen demnach sehen lernen, was uns die zeitgenössische Kunst sehen lehrt, und wir können davon ausgehen, dass genau darin etwas von der Kultur Gottes geschieht. Normativ aber wäre es, die zeitgenössische Kultur zu begrenzen und zu reglementieren. Das geht nur, wenn man zu wissen meint, wie Gott in der Kultur vorzukommen habe. Kardinal Meisner macht erkennbar von der zweiten Lesart Gebrauch. Es geht ihm weniger darum, die Fülle Gottes in der gegenwärtigen Kultur wahrzunehmen, zu erkennen und zu benennen, als vielmehr darum, von seinem Gottesbild aus scheinbar abweichende Kulturphänomene zu kritisieren und zu begrenzen. In meiner Perspektive ist dies ein äußerst reduziertes Bild des christlichen Kulturverständnisses. Es kollidiert zudem mit dem selbstkritischen Satz aus der Predigt von Meisner, denn wenn die Kultur nur sagt, was der Religiöse schon weiß, bereichert sie den religiösen Gedanken nicht, sondern illustriert ihn nur.

Episode III: Exkurs zu einem inkriminierten Begriff

Kommen wir zum dritten „Skandalon“ dieser Episodenreihe: der bei Meisner schon vertraute Rückgriff auf Assoziationen an die Geschehnisse während des Nationalsozialismus. Hier ist Meisner nie zimperlich gewesen. Offenkundig ist auch für Meisner alles mit dem Nationalsozialismus Verbundene etwas Schreckliches. Und wo immer er nun sonstwo auf etwas Schreckliches stößt, konnotiert er es damit. Dadurch macht er allerdings ein historisches Ereignis zu einer rhetorischen Münze, er nivelliert es. Statt sich der Mühe einer historischen oder kulturgeschichtlichen Beurteilung zu unterziehen, soll der Verweis auf assoziativ oder real mit dem Nationalsozialismus verknüpfte Begriffe für eine moralische Verurteilung ausreichen. Zumindest 2005 bei seinem unsäglichen Vergleich von Holocaust und Abtreibung ging Meisner so vor. In der Werbebranche nennt man das den „gesunden Biss“. Der Medientheoretiker Douglas Rushkoff verweist darauf, dass diese Form sprachlich bewirkter Problemverkürzung als Public-Relations-Strategie in Amerika entwickelt wurde, um das Volk im Sinne der Regierung zu beeinflussen. Statt die anstehenden Probleme in ihrer Komplexität zu erläutern und zu vermitteln, werden Slogans entwickelt, die dem Gegner moralisch keine Alternative lassen. „Anstatt die Öffentlichkeit durch intellektuelle Argumente zu überzeugen, bemühen sich die Public-Relations-Experten vor allem um die Vereinfachung von Problemen und rufen eine emotionale Reaktion bei den Zuschauern hervor“.[10] Es ist nicht unplausibel, auch Meisner Satz über die Kultur in diesen Kontext einzuordnen.

"Dort, wo die Kultur von der Gottesverehrung abgekoppelt wird, […] entartet die Kultur. Sie verliert ihre Mitte". Hier werden die Begriffe Kultur, Gottesverehrung, Verlust und Mitte miteinander verbunden und mit der Diagnose „entartet“ verknüpft. Die Verbindung der Worte „Kultur - Gottesverehrung - Verlust - Mitte“ ist eindeutig, sie verweist uns auf Hans Sedlmayrs einschlägiges Buch „Verlust der Mitte“ [11] aus dem Jahr 1948. Man muss dort nur das achte Kapitel lesen, um den Ursprung und Bezugspunkt der Äußerungen Meisners zu erkennen. Bei Sedlmayr heißt es unter der Überschrift „Autonome Kunst und autonomer Mensch“:

„In demselben historischen Raum, der das Quellgebiet der zur Autonomie strebenden modernen Kunst ist […] ist es zu dieser hier rein aus den Tatsachen der Kunst erschlossenen Trennung von Gott und dem Menschen gekommen, zur Proklamation des „autonomen Menschen" […] Es ist nun offenbar so, daß dieses Auseinanderhalten dem Wesen des Menschen (und Gottes) widerspricht und durchgeführt zu einem Absturz des Menschen ins Untermenschliche führen muß, auch wenn das ursprünglich nicht gemeint war. Dem 19. und 20. Jahrhundert scheint es auferlegt zu sein, die Falschheit der Annahme vom autonomen Menschen in einem ungeheuren historischen Experiment unter entsetzlichen Leiden zu demonstrieren und zu widerlegen. Denn der Ausgang des Experiments, der heute schon sichtbar ist, kann nur so verstanden werden, daß es den autonomen Menschen nicht gibt und nicht geben kann. So wenig wie die autonome Kunst, Architektur, Malerei usw. Es gehört zum Wesen des Menschen, Natur und Übernatur zu sein. Menschliches und Göttliches in ihm lassen sich nicht ohne Schaden für das Menschliche trennen. Der Mensch ist Vollmensch nur als Träger des göttlichen Geistes. So gesehen wäre die Störung, die wir als „Verlust der Mitte" gekennzeichnet haben, eben in der wesensunmöglichen Trennung des Göttlichen und Menschlichen im Menschen zu suchen, in dem Auseinanderreißen von Gott und Mensch und im Verlust des Mittlers zwischen Mensch und Gott, dem Gottmenschen. Die verlorene Mitte des Menschen ist eben Gott: der innerste Kern der Krankheit ist das gestörte Gottesverhältnis.“[12]

„Die verlorene Mitte des Menschen ist eben Gott“ - Sedlmayrs Satz führte schon seinerzeit zu einer Verdammung der gesamten Moderne. Und er schrieb den Apologeten der Moderne ins Stammbuch: „Als normal und befriedigend kann der Gesamtzustand nur dem erscheinen, der, selbst in den Zuständen dieser Epoche befangen, an den ‚autonomen’ Menschen glaubt und Gott leugnet.“[13] Sedlmayr selbst vermeidet zwar den Begriff der „entarteten Kunst“, aber er verwendet wiederholt Begriffe wie das „Untermenschliche“, ja „das Zersetzende“, zu dem die Kunst tendiere. Der zentrale Begriff aber ist der einer Krankheit, die es zu heilen gilt. Ich sehe nicht, wie man Sedlmayr beerben kann, ohne ihm auch in dieser Sache zu folgen. Indem Meisner die Begriffe Kultur, Gottesverehrung, Verlust und Mitte mit der Diagnose „entartet“ verbindet, macht er aber genau dies: er beerbt bewusst die nationalsozialistische Tradition.

Es mag sein, dass er zunächst nur sagen wollte: wenn die Kunst sich von Gott abwendet, macht sie etwas ganz Schlimmes. Und weil er es so gewohnt ist, setzt er für „etwas ganz Schlimmes“ Begriffe aus dem Geschehen von 1933 bis 1945 ein. Aber in diesem Falle macht er de facto etwas völlig anders: er stellt sich in der Diagnose auf die Seite der nationalsozialistischen Kunstkritik. Das ist mehr als ein Lapsus, es zeigt, wie schnell die rhetorische Münze „wie im Nationalsozialismus“ ins Gegenteil verkehrt werden kann. Wer entartete Kunst sagt, muss notwendig artgerechte Kunst oder eben auch Art der Kunst sagen. Er muss also wissen, was die artgemäße Bestimmung von Kunst ist, er muss eine normatives Bewusstsein von Kultur haben. Diese Idee eines normativen Bewusstseins von der Kultur stammt nicht von den Nationalsozialisten, sondern war ein Common Sense der Kulturtheorie des 19. Jahrhunderts, deren Fatalität die Nationalsozialisten nur ins öffentliche Bewusstsein gebracht haben.

Der Aufschrei des Feuilletons nach der Predigt von Meisner wegen der Verwendung des Wortes „entartet“ war daher berechtigt, aber auch scheinheilig.[14] Es hat viel mit bloßer Tabuisierung und wenig mit wirklicher Aufarbeitung von Geschichte zu tun, was da in den Kulturseiten deutscher Zeitungen und Zeitschriften vorgebracht wurde. Ich vermute einmal, die wenigsten Kritiker haben sich mit der Geschichte des Begriffes „entartete Kunst“ beschäftigt. Sie haben vielmehr im Geschichtsunterricht in der Schule gelernt, dass es einmal eine von Nationalsozialisten organisierte Ausstellung „Entartete Kunst“ gab und sie haben im Bewusstsein behalten, dass dies etwas ganz Böses war, was die Kultur in Deutschland nahezu vernichtet hat. Und dieses Schulwissen sollte ja auch für die Alltagsorientierung ausreichen.

Aktuell konnotiert sich „entartet“ mit dem Geschehen rund um die Ausstellung „Entartete Kunst“ oder mit dem Krankheitsbild des Krebstumors wie der nebenstehende Graph des Wortschatzes Deutsch der Universität Leipzig ausweist. Es gibt, das muss auch im Blick auf Meisners spätere Selbstverteidigung - „er habe es nicht so gemeint“ - gesagt werden, keinen unbefangenen Gebrauch der Kombination von „entartet“ und Kunst oder Kultur. Selbst wenn man, wie es im Folgenden geschehen soll, auf die Vorgeschichte der Begriffsverwendung verweist, so ist auch diese so falsch wie jene.

Kulturkritikern des deutschen Feuilletons ist es aber zuzumuten, einmal weiter zu denken und nachzuschlagen, woher der Begriff „entartete Kunst“ eigentlich kommt, ob er m.a.W. eine genuine Sprachschöpfung der Nationalsozialisten war oder ob er aufgrund einer längeren Tradition von den Nationalsozialisten aufgegriffen und zugespitzt wurde. Und tatsächlich hat der Begriff in der Sache eine jahrhunderte alte Tradition und in der exakten sprachlichen Formulierung eine zumindest 200-jährige Geschichte. Erstmalig wird er als wörtliche Formel 1797 von Friedrich Schlegel verwendet und betrifft die griechische Poesie. Der Sache nach, darauf hat Cornelia Schmitz-Berning in ihrem Werk zum „Vokabular des Nationalsozialismus“[15] hingewiesen, gab es „über den Zusammenhang des Niedergangs von Staat, Religion und Kunst […] in der Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts einen europäischen Konsens.“ „The degenerate Arts sunk with the degenerate City“ hieß es schon 1763. Für den Protestanten Jacob Burkhardt ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Barock ganz selbstverständlich „entartete Kunst“.

Zwei besondere Ausformungen sind zum Ende des 19. Jahrhunderts bemerkenswert. Das ist zum einen die dort sich vollziehende Verbindung mit dem Antisemitismus, die einhergeht mit der Assoziierung von „entarteter Kunst“ mit „entarteten Menschen“. Der Schluss von „entarteter Kultur“ auf „entartete Menschen“ ist eine verbreitete Denkform am Ende des 19. Jahrhunderts, ist aber insbesondere in antisemitischen Kontexten einschlägig (und wird dann von den Nationalsozialisten zur zentralen Bedeutung). Die andere Ausformung ist der explizite Wille, den naturwissenschaftlich-biologischen Begriff der ‚Entartung’ auch auf die Kultur anzuwenden.

Und hier ist die Quellenlage eindeutig: es ist der Arzt und Schriftsteller Max Nordau, der das in seinem zweibändigen Werk „Entartung“ explizit einfordert und programmatisch macht: „Die Entarteten sind nicht immer Verbrecher, Prostituierte, Anarchisten und erklärte Wahnsinnige. Sie sind manchmal Schriftsteller und Künstler […] Einige dieser Entarteten des Schriftthums, der Musik und Malerei sind in den letzten Jahren außerordentlich in Schwang gekommen und werden von zahlreichen Verehrern als Schöpfer einer neuen Kunst […] angepriesen“.[16] Derartige Kunstwerke wirken verwirrend und verderbend auf die Anschauungen eines ganzen Geschlechts. Als Arzt erkenne er darin auf den ersten Blick „das Syndrom oder Gesammtbild zweier bestimmter Krankheits-Zustände […], der Degeneration oder Entartung und der Hysterie“.[17]

Diese historischen Hinweise müssen für den an Tabuisierungen gewöhnten Feuilletonisten irritierend sein, zerschlagen sie doch die simple Gleichung eines Begriffs mit der nationalsozialistischen Verwendung. Sie zeigen aber zugleich, dass kulturtheoretisch bereits im 18./19. Jahrhundert etwas Grundsätzliches schief gelaufen ist, nämlich die unreflektierte Übernahme biologischer und naturwissenschaftlicher Begriffe auf kulturelle Phänomene im Interesse einer Normierung kultureller Phänomene.

Und das führt uns zurück zu Kardinal Meisner und seinen Kölner Äußerungen. Woran Meisner sowohl bei seinen Äußerungen zum Glasfenster von Gerhard Richter wie zum Gottesbezug der Kunst anknüpft, ist das zentrale Interesse an einer Norm(ierung) der Kunst und der Kultur im Dienste der Religion. Genau darum muss vehement gestritten werden, genauer: es muss bestritten werden. Das Verhältnis von Kunst und Religion ist das der religiösen Erfahrung mit einer vorgängigen ästhetischen Erfahrung. Nicht mehr - nicht weniger.

Anmerkungen

[1]    Fr. Boespflug, Die bildenden Künste und das Dogma. Einige Affären um Bilder zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert in: ... kein Bildnis machen, hg. von Dohmen/Sternberger, Würzburg 1987, S. 149-166, hier S. 158.

[2]    Scheer, Thorsten (1992): Postmoderne als kritisches Konzept. Die Konkurrenz der Paradigmen in der Kunst seit 1960. München: Fink.

[4]    Man muss „das Kunstwerk als ein bestätigtes, geltendes erfahren in ihm teilhaben an den Reaktionen all derer, die es zuvor sahen. Fällt das einmal fort, so liegt das Werk in seiner Blöße und Fehlbarkeit zutage. Die Handlung wird aus einem Ritual zur Idiotie, die Musik aus einem Kanon sinnvoller Wendungen schal und abgestanden.“ Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Aph. 143.

[5]    E. Simons, Kunst statt Religion? Zur Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Religion, Kunst und Kirche 4/88, S. 198ff. Ders., Gibt es christliche Kunst? Zur dramatischen Geschichte und Gegenwart christlicher Kunst, Das Münster 1/89, S. 66ff.

[6]    Simons, Kunst statt Religion?, a.a.O., S. 200

[7]    Simons, Gibt es christliche Kunst?, a.a.O., S. 68.

[9]    Die metaphysische Grundierung der großen Kultur wird ja nicht nur einseitig aus katholischer Perspektive vertreten, sondern zum Beispiel auch von George Steiner. Steiner, George (1990): Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Unter Mitarbeit von Botho Strauß und Jörg Trobitius. München: Hanser (Edition Akzente). Vgl. dazu Verf., Ist Gott eine ästhetische Formel? Von Meistern der Leere, Sinnsuchern und theologischen Zwergen https://www.theomag.de/classics/am4.htm

[10]   Rushkoff, Douglas (1995): Media virus. Die geheimen Verführungen in der Multi-Media-Welt. Frankfurt am Main: Eichborn, S. 25ff.

[11]   Sedlmayr, Hans (1991): Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. 17. Aufl. Frankfurt/M, Berlin: Ullstein.

[12]   Ebd. S. 169f.

[13]   Ebd. S. 205. Protestantisch wird man dazu mit Paul Tillich anmerken müssen, „dass in der Beziehung zu Gott Gott allein handelt und dass kein menschlicher Anspruch, besonders kein religiöser Anspruch, aber auch kein intellektuelles, moralisches oder religiöses ‚Werk’ uns wieder mit ihm vereinigen kann.“ Und das gilt natürlich auch für kulturelle Werke. Vgl. Paul Tillich, Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung (GW Bd 7,1), Stuttgart 1962, S. 33.

[14]   Es ist nicht ohne Pikanterie, wenn die gleichen Kritiker, die sich über Meisners Wortwahl echauffieren, im gleichen Atemzug antijudaistische Klischees bedienen, die ebenfalls aus dem Wortschatz der Nationalsozialisten stammen. Nur hat man eben in der Schule nicht bei allen Wörtern gelernt, wann der „Nazometer“ anzuschlagen hat. Hier hat der sarkastische Witz von Harald Schmidt seine wahre Pointe. Vgl. dazu Henryk M. Broder, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,517416,00.html

[15]   Schmitz-Berning, Cornelia (2007): Vokabular des Nationalsozialismus. 2. durchges. u. überarb. Aufl. Berlin: de Gruyter.

[16]   Nordau, Max Simon (1892): Entartung. Berlin: Duncker. Zit. nach Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, a.a.O., S. 185.

[17]   Ebd. S. 186.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/50/am234.htm
© Andreas Mertin