Notwendige Fremdheit

Ein Plädoyer für vielfältige Bibellektüren

Andreas Mertin


[Der folgende Text ist eine überarbeitete Version eines Statements auf dem Deutschen evangelischen Kirchentag in Köln 2007. Vor dem Vortrag dieses Textes wurde zwei neuere Bibelausgaben für Jugendliche vorgestellt, die Basisbibel und die Volxbibel.]


Ich möchte im Folgenden keine Kritik an den vorgestellten Bibelübersetzungen bzw. –übertragungen in dem Stil üben, wie er sich in den letzten Jahren in der öffentlichen Diskussion eingebürgert hat. Wer die Kritiken an der Volxbibel oder auch an der Bibel in gerechter Sprache liest, muss unwillkürlich den Eindruck haben, die Welt ginge unter, nur weil eine unkonventionelle Bibelübersetzung aufgetaucht ist. Das ist absoluter Unsinn und diesen Versuchen auch kirchenleitender Gremien, anderen das eigenständige Denken und Übersetzen zu verbieten, muss im Interesse auch der biblischen Botschaft entgegen getreten werden.

Die Vielfalt an Übersetzungen, die es ja ganz allgemein seit der Reformation gibt, ist insofern auch theologisch und kulturell hilfreich, als sie den Eindruck vermeidet, das Wort Gottes sei mit seiner schriftlichen Fixierung identisch. Wenn das EKD-Ratsmitglied Peter Hahne sagt, wenn auf einem Buch Bibel draufstünde, dann müsse auch der Urtext drin sein, alles andere wäre Etikettenschwindel, dann vermute ich, dass er den Luthertext für den Urtext hält. Und vermutlich meinen viele Leute das auch. Man muss aber nur einmal den Luthertext von 1545 mit dem von 1912 und 1984 vergleichen, um zu erkennen, dass es einen deutschen Urtext nicht gibt. Auch der Luthertext bedarf der ständigen Re-Lektüre und Korrektur durch die Ausgangstexte in Hebräisch und Griechisch – und dies nach dem aktuellsten Stand der Exegese. Nicht zuletzt deshalb lernen unsere TheologInnen diese Sprachen im Rahmen ihrer Ausbildung.

Wir können andererseits an Martin Luthers Sendbrief vom Dolmetschen lernen, dass jede Übersetzung ein subjektives, wenn auch überprüfbares Verfahren ist: "Zum andern mügt yhr sagen, das ich das Newe Testament verdeutscht habe, auff mein bestes vermügen und auff mein gewissen, habe damit niemand gezwungen, das ers lese, sondern frey gelasen, und allein zu dienst gethan denen, die es nicht besser machen können, Ist niemandt verboten ein bessers zu machen. Wers nicht lesen wil, der las es ligen, ich bite und feyre niemandt drumb. Es ist mein testament und mein dolmetschung, und sol mein bleiben unnd sein ... Aber was frage ich darnach? sie toben oder rasen, jch wil nicht wehren, das sie verdeutschen was sie wöllen, ich wil aber auch verdeutschen, nicht wie sie wöllen, sonder wie ich wil."

Alle Bibelübersetzungen sind Angebote zur Lektüre und es sind Angebote zur vergleichenden Lektüre. Ich bevorzuge Bibelübertragungen, die mich zu einer derartigen vergleichenden Lektüre herausfordern. Auf meinem Computer läuft das Programm MyBible, mit dem ich zahlreiche Übersetzungen und Übertragungen parallel zum Urtext lesen kann. Denn wenn Eindeutigkeit im Sinne der eindeutigen Verständlichkeit das Ziel der Heiligen Schrift wäre, warum gibt es dann vier verschiedene Evangelien (die sich zum Teil noch widersprechen)? Und warum erzählt das 1. Buch der Chronik Teile des 2. Buches Samuel in neuer Perspektive und das 2. Buch der Chronik das 1. und 2. Buch der Könige mit veränderter Bewertung und Zielrichtung? Die biblischen Schriften selbst verweisen uns auf eine Mehrzahl von Stimmen, die abgewogen und wahrgenommen werden wollen.

Meine Anfragen an die Volxbibel beziehen sich darauf, ob nicht allzu oft im Interesse der angeblich besseren Verständlichkeit die notwendige Anstößigkeit geopfert wird. Wenn es zu Beginn des Matthäusevangeliums in der Volxbibel heißt „Und so ist das mit der Geburt von Jesus abgegangen“ dann wird der im griechischen Urtext vorfindliche Hoheitstitel einfach unterschlagen. Der Hoheitstitel „Christus“ zeigt uns, dass der Bericht des Matthäus gedeutete Geschichte ist. Die Übersetzung der BasisBibel ist hier texttreuer, wenn sie übersetzt „Zur Geburt von Jesus Christus kam es so“, aber sie hat den Nachteil, dass das in unserer Alltagssprache inzwischen wie Vor- und Zuname klingt. Eine Übersetzung im Sinne von „Die Geburt des Messias Jesus geschah so“ (Bibel in gerechter Sprache) erzeugt die notwendige Fremdheit, die mich fragen lässt, was ist das für ein Titel und wieso kommt er schon bei der Geburt diesem Kind zu?

Auch scheint mir die Volxbibel allzu oft geschwätzig: Wo es in der BasisBibel heißt „Sie hatten noch nicht miteinander geschlafen. Da stellte sich heraus, dass Maria schwanger war - aus dem Heiligen Geist“ lautet die Übertragung bei der Volxbibel: „Obwohl sie noch nicht verheiratet waren und keinen Sex hatten, war Maria plötzlich schwanger. Und zwar hatte der Geist der von Gott kommt, dafür gesorgt: Er hatte sie auf übernatürliche Weise schwanger gemacht.“ Wo der Urtext 11 Worte braucht, hat die Basisbibel 18 Worte und die Volxbibel ganze 33 Worte. Und was heißt das: Der Geist hat Maria auf übernatürliche Weise schwanger gemacht? Ist das alltagssprachlicher und verständlicher? Da lobe ich mir doch jede Taube im merkwürdigen Landeanflug, die auf einem mittelalterlichen Gemälde bei der Verkündigung den Heiligen Geist symbolisiert und mir zugleich deutlich macht, dass dieser Vorgang ein Geheimnis ist und bleibt.

Oft, so habe ich den Eindruck, wird der biblische Text auch dort an die Jugendsprache angepasst, wo die Vorlage absolut verständlich ist. Offensichtlich geht es an dieser Stelle gar nicht um Verständlichkeit, sondern um „geile oder grelle Sprache“. Das aber macht die Bibel zu einem Teil der Eventkultur. Ob das ihrem Verstehen wirklich förderlich ist, möchte ich bezweifeln.

Was ich dagegen sehr gut an der Volxbibel finde, ist, dass sie auch als freier Text verfügbar ist. Ich habe die Volxbibel in mein Bibelprogramm eingebunden und kann nun ihren Übertragungsvorschlag mit anderen vergleichen. Genau das vermisse ich an der ansonsten in meiner subjektiven Wahrnehmung wesentlich besser gelungenen, aber auch deutlich steiferen und mittelschichtsorientierten BasisBibel. Ihre Zugänglichkeit ist wesentlich schwieriger und sie ist entgegen den technischen Möglichkeiten eben nicht auf Vergleiche mit anderen Übersetzungen angelegt. Darin entspricht sie den konventionellen Bibelausgaben. Der Stand der Technik ermöglicht aber andere Zugangsweisen, die den Leser nicht entmündigen und belehren, sondern zum eigenen Urteil befähigen.

Was mich an beiden Projekten unangenehm berührt, ist ihre Vermarktung. Auf den Internetseiten wird man sofort zum Kauf des Produkts animiert, bei der Basisbibel ungleich stärker als bei der Volxbibel. Es mag den Zeichen der Zeit entsprechen, aber Kommerzialisierung war noch nie ein gutes theologisches Argument. Es macht das vorgebliche missionarische Interesse unglaubwürdig.

Worum es bei Bibelausgaben für Jugendliche in heutiger Zeit meines Erachtens gehen müsste, wäre in der Lektüre Vergleiche zu ermöglichen und den Leser zu faszinieren, wie viele Möglichkeiten die Texte enthalten. Die zigtausenden unterschiedlicher Kreuzigungsdarstellungen in der Kunst haben auch nicht den Blick auf die Kreuzigung verstellt, sondern den Blick freigehalten für neue Entdeckungen und Wahrnehmungen. Das sollten auch Bibelausgaben ermöglichen.

Mir ist für eine Jugendübersetzung das wichtig, was Heinrich Detering über sein Lieblingsbuch: Die Bibel in der FAZ geschrieben hat und womit ich meine Statement auch beschließen möchte, weil es besser nicht zu formulieren ist:

 „Es sind Stimmen aus fünf, sechs Jahrtausenden, die hier zu Wort kommen; Gottesgeschichte und Menschheitsgedächtnis, Offenbarung und Widerrede. Hiobs Empörung und Kohelets stoische Resignation, die erotische Leidenschaft des Hohenlieds und die fromme der Psalmen, die rätselhafte Einfachheit der Gleichnisse und die Paradoxien des Römerbriefs, die Gerichtsvisionen der Propheten und der Trost Matthäi am letzten: es ist ein Stimmengewirr ohnegleichen, im weitesten denkbaren Klangraum, und irgendwie trotzdem immer nur das eine Wort. Und eine Summe der Literatur sowieso, mitsamt der noch kommenden, vom "Faust" und dem Josephsroman bis zum hinkenden Teufel John Silver und, ja, bis zu Slow Train Coming auch. Eigentlich fehlt hier überhaupt nichts, ist alles da, und da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.“ Diese Erfahrung sollten auch Jugendbibeln vermitteln!

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/51/am236.htm
© Andreas Mertin 2008