Info Andreas MertinMeine Großmutter war eine eifrige Bibelleserin. Fast jedes Mal wenn ich in unserem Haus nach oben ging, um sie zu besuchen, lag neben der aufgeschlagenen Bibel ein Bibelleseplan vor ihr, nach dem sie systematisch vorging, um wieder und wieder die Bibel zu studieren. Das waren fromme Studien, wenig kritisch gegenüber Text und Inhalt der Bibel, eher eine Spurensuche nach dem persönlichen Sinn dieser Schriftensammlung. Heute, knapp vierzig Jahre später, kommt mir das geradezu unwirklich vor. Nicht, dass heute nicht mehr in der Bibel gelesen wird, auch ich mache das natürlich regelmäßig. Unwirklich erscheint mir die beharrliche Systematik dieser Aneignung. Es war mehr als das tägliche Abreißen des Kalenderblattes des Neukirchener Kalenders und der Lektüre seiner Aussagen, die in unserer Familie auch gepflegt wurde. Es war ein wirkliches Studium, ein Bedenken der biblischen Schriften im Blick auf das eigene Leben wie auf die Welt, in der wir leben.

Wie vermittelt man Jugendlichen die Faszination einer Buchsammlung wie der Bibel, wie ihre verwirrende Vielfalt und ihre tiefgehende Weisheit, ihre poetische Schönheit und ihre zum Teil erschreckende Archaik? Wie macht man klar, dass selbst trockene Gesetzestexte, einmal gegen den Strich gelesen, eine eigentümliche Faszination ausüben? Wie führt man Menschen dazu, nicht nur jene Stellen der Bibel zu lesen, der jeder schon kennt oder doch zu kennen meint? Meine ganz persönliche Faszination der Bibel, die später dann von akademischen Lehrern wie Jürgen Ebach weiter vertieft wurde, rührt gewiss auch von dieser Wahrnehmung meiner Großmutter als einer beharrlichen und sich durch alle Verständnisprobleme hindurch arbeitenden Bibelleserin her.

Ich habe dann begonnen, in der Bibel zu lesen, ganz sicher nicht so systematisch wie meine Großmutter, eher kursorisch und zufällig. Ich begann Entdeckungen zu machen und meine eigenen Fragestellungen zu entwickeln. Ich las in der Luther-Bibel, nicht in der "Gute Nachricht Bibel 68", die ich als Jugendlicher als anbiedernd und sprachlich überhaupt nicht attraktiv empfand. Etwas in der Sprache zu lesen, in der ich selbst sprach, war für mich keine Bereicherung und schon gar keine Herausforderung. So wie ich in der Literatur nicht das Selbstverständliche suchte, so sollte und musste es auch mit der Bibel sein. Die Luther-Bibel war für mich reizvoll fremd. Daneben habe ich sicher noch andere Übersetzungen gelesen - vermittelt durch Kindergottesdienst und Jugendarbeit - aber an die erinnere ich mich nicht mehr.

Viele Jahre später wurde die Frage nach dem biblischen Text - jenseits der akademischen Aneignung in der Ausbildung als Theologe - noch einmal virulent, als der Streit um die Revision der Lutherbibel von 1984 entbrannte. Denn keinesfalls wurde diese Bibel so emphatisch begrüßt wie sie heute in der Auseinandersetzung mit anderen Übersetzungen gerühmt wird. Renommierte Literatur- und Sprachwissenschaftler sprachen vernichtende Urteile über die Reformbemühungen und warnten vor dem Gebrauch, weil sie die poetische Fremdheit der Lutherbibel und -sprache zerstöre, da sie dem instrumentellen Sprachgebrauch Vorschub leiste.

Heute ist diese notwendige Fremdheit eines anzueignendem Textes geradezu ein Negativkriterium geworden. Man dürfe die Menschen nicht durch unterschiedliche Textvarianten verwirren, man müsse Jugendlichen die biblischen Texte dadurch nahe bringen, dass man jeden sprachlichen Stein des Anstoßes beiseite räumt. Und nicht nur Jugendliche goutieren dies, weil sie nicht mehr nachdenken müssen, sondern alles fein häppchenweise vorgekocht serviert bekommen. Auf dem Kirchentag 2007 in Köln meinte ein Anhänger der Volxbibel, mit dem Wort Messias brauche man heutigen Jugendlichen erst gar nicht zu kommen, das verstünden sie nicht und dann brauche man es auch erst gar nicht einzusetzen. [Hoffentlich gibt es irgendwann nicht denselben Effekt bei der Kreuzigung oder der Auferstehung Jesu.] Was man nicht versteht, wird entfernt - ein Satz, der sich gesellschafts- und medienpolitisch ebenso realistisch wie katastrophal anhört. Und die alte schwachsinnige Medienregel, keine Sätze mit mehr als 11 Wörtern zu gebrauchen, wird zur Richtschnur des Nicht-Denkers.

Richtig spannend wurde mir dann die Bibellektüre erst wieder im vergangenen Jahr, als ich mir die Bibel in gerechter Sprache zulegte, die mich dazu führte, vieles von dem, was ich in der Bibellektüre für selbstverständlich (allzu selbstverständlich) gehalten hatte, neu zu bedenken. Das ist es doch, was wir an der Kunst so schätzen, dass sie uns die Dinge in immer anderen Konstellationen neu sehen lehrt. Nicht das Einverständnis mit dem schon Vertrauten, das unseren Kirchen inzwischen so wichtig geworden ist, dass man sie bald schon als neokonservative Think-Tanks bezeichnen könnte, sondern die Differenz vom Erwarteten, die Auseinandersetzung mit dem Unvertrauten ist es, worauf es (mir) ankommt.

Worüber andere sich in der Rezeption der Bibel in gerechter Sprache aufgeregt haben, dass sie nicht statuarisch dem Leser die Leseentscheidung abnimmt, begreife ich als neu zu entdeckenden Reiz der Bibellektüre. Nehmen wir die erste Seite der Bibel mit dem ersten Vers des ersten Buches.


Ich schlage meine Luther-Bibel auf.

Über dem Text steht groß „Die Schöpfung“, darunter klein geschrieben „Kap 2,4-25; Ps 104,1-35“. Dann folgen Kapitel- und Versangabe und dann der Text, der am Ende von einem kleinen a abgeschlossen wird. Das kleine a führt mich unten auf der Seite zur Information, dass es Verweisstellen zum Text gibt, nämlich Hiob 38,4; Ps 90,2; Joh 1,1-3; Offb 4,11. Dieser Satz „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ hat mich seit frühester Kindheit begleitet, er ist mir ganz selbstverständlich. Heute könnte ich ihn natürlich auch in Hebräisch sagen, weil es einer der ersten Sätze war, die wir im Hebräischkurs an der Universität gelernt haben. Im Vergleich zur Luther-Übersetzung von 1545 hat sich nur wenig geändert.



Nun schlage ich zum Vergleich die Bibel in gerechter Sprache auf. Die optische Gestaltung ist etwas anders, die Bibel ist zunächst einmal dreispaltig angelegt. Auf der rechten Seite finde ich die biblischen Verweisstellen, die hier im Bereich der hebräischen Bibel verbleiben. Auf der linken Seite finde ich das Wort elohim. Ganz anders ist aber die Gestaltung des die Bibel eröffnenden Verses.

Ganze sieben Alternativen eröffnet mir die Textdarstellung. Das ist zum einen ästhetisch natürlich (fast schon zu) schön gemacht, es ergibt eine interessante Textformation, die sicher nicht zufällig so da steht. Aber es verwirrt auch: Wie soll man denn nun lesen? Das ist natürlich eine autoritätsfixierte Fragestellung. Offenkundig will mich die Bibel in gerechter Sprache ja animieren, selbst einmal die verschiedenen Varianten durchzuprobieren, selbst die Möglichkeiten des Übersetzens kennen zu lernen.

  • Bei Beginn hat Gott Himmel und Erde geschaffen – klingt das nicht etwas holprig? Bei Beginn der Sitzung … also nicht zu Beginn der Sitzung? Und wo ist der Unterschied? Ist es eine Differenz, ob jemand zu Beginn oder bei Beginn des Irakkrieges eine Predigt im Berliner Dom hält? Geht es um die Exaktheit der Zeitbestimmung? Oder geht es um die Differenz von Intentionalität und Temporalität?

  • Als Anfang hat Gott Himmel und Erde geschaffen – das hört sich schon fast etwas zu forsch an. Ganz so verbreitet ist die Formulierung „Als Anfang“ nicht. Aber bei Google stoße ich auf ein Buch über biblische Schöpfungstheologien, das genau so heißt: Als Anfang schuf Gott … Noch häufiger finde ich die paradoxe Formulierung „Ende als Anfang“, die vor allem mit dem Holocaust verbunden ist.

  • Zu Anfang hat Gott Himmel und Erde geschaffen – das klingt mir wiederum fast zu lapidar. Es schreit irgendwie danach, ein „Gleich“ davor zu setzen: Gleich zu Anfang hat Gott ....

  • Durch einen Anfang hat Gott Himmel und Erde geschaffen – diese Formulierung gefällt mir spontan am Besten, weil sie so rätselhaft ist und so auf einen Vorgang verweist, der nur rätselhaft umschrieben werden kann. Ich gebe „Durch einen Anfang“ in die Suchmaschine ein und stoße – neben einigen Verweisen auf die Bibel in gerechter Sprache – auf folgende Notiz der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Literatur ist wie die Kunst generell durch einen Rahmen begrenzt und stellt einen eigenen ästhetisch konstruierten Kosmos dar, ein durch einen Anfang und ein Ende in sich geschlossenes Ganzes. Gerade dadurch kann Literatur aber Modell der unbegrenzten Welt sein, denn sie ist durch ihre Medialität die Abbildung einer vorgängig kulturell konstruierten Realität auf eine andere, nämlich eine literarische Realität und damit ‚Übersetzung‘. Ja, so könnte ich mir das vorstellen.

  • Im Anfang hat Gott Himmel und Erde geschaffen – das scheint auch eine verbreitete Formulierung zu sein; die Websuche verweist mich auf ein Buch von Joseph Ratzinger: Im Anfang schuf Gott. Und ich stoße auf eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst mit einem Werk des von mir geschätzten Künstlers Ben Vautier: Er malt auf schwarzem Grund mit weißer Handschrift im Anfang war das Wort.

  • Zu Beginn hat Gott Himmel und Erde geschaffen – wirkt mir zu geschäftsmäßig und ruft wie auch „Zu Anfang“ nach einem vorangestellten „Gleich“: Gleich zu Beginn hat Gott … Aber der Kontrast von sprachlicher Beiläufigkeit und inhaltlicher Bedeutsamkeit ist natürlich interessant.

  • Am Anfang hat Gott Himmel und Erde geschaffen – als letzte Variante taucht jene auf, von der man vielleicht gemeint hat, so müsse jede Bibel anfangen. Aber wie wir schon bei den beiden erwähnten theologischen Büchern gesehen haben, ist das gar nicht so selbstverständlich. Am Anfang ist jedenfalls durch die Korrespondenz mit Johannes 1,1 quasi christlich geadelt.

Wie nun? Bei oder zu Beginn? Als/Zu/Im/Am Anfang? Oder dann doch Durch einen Anfang? Offenkundig verschiebt jede der vorgeschlagenen Übersetzungen den Sinn des Ganzen um einen kleinen Akzent. Kommt es darauf an? Und wenn es darauf ankäme, um den Sinn zu verstehen? Offenkundig können sich weder Päpste noch Exegeten auf eine einzige Übersetzung einigen. Und das ist auch gut, denn jede Lesart bereichert die Lektüre durch eine Konnotation.

Gleich zu Beginn der Lektüre der Bibel in gerechter Sprache werde ich so auf das schwierige und zugleich doch neuen Sinn erschließende Geschäft des Übersetzens aufmerksam gemacht. Vielen Leuten ist es vermutlich gleich, ob dort zur Eröffnung der hebräischen Bibel Bei / Zu / Als / Im / Am oder Durch steht. Mir ist es das nicht. Ich verstehe, dass gleich mit den ersten Sätzen Vielfalt denkbar wird, dass es so, aber auch anders sein kann und dass ich eindeutige Gewissheit nur um den Preis der Erkenntnis bekommen kann. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ – wenn mich jemand nach dem ersten Satz der Bibel fragt, werde ich wahrscheinlich weiterhin die Lutherbibel zitieren; ich habe es so gelernt. Aber die Überraschung auf dem Gesicht des Gegenübers, wenn ich statt dessen einmal sage „Durch einen Anfang hat Gott Himmel und Erde geschaffen“ möchte ich mir nicht entgehen lassen.

Kommen wir noch zu einer kleinen bisher nicht thematisierten Differenz von Lutherbibel und Bibel in gerechter Sprache: das kleine Wort elohim auf der linken Seite des Textes. In der Einleitung der Lutherbibel werde ich darüber informiert, dass immer dann, wenn das Wort HERR zu lesen sei, „im hebräischen Grundtext der Gottesname, geschrieben >JHWH< gebraucht wird. Das Glossar informiert mich darüber, dass diese Übersetzung „im Anschluss an eine alte Tradition“ geschehe. Über elohim erfahre ich nichts. Es steht dort einfach das Wort „Gott“. Nun ist aber gerade dieses Wort im Lichte von Exodus 20, 1-5 ein problematisches Wort, weil es ja nun keinesfalls das von den Verfassern der Bibel intentierte abruft, sondern weitgehend kulturgeschichtlich geprägt ist.

Das kleine Wort elohim auf der linken Seite des Textes der Bibel in gerechter Sprache bringt mir aber weitergehende Informationen und verdeutlicht mir, dass eine einfache Übertragung mit „Gott“ durchaus an der Sache vorbei gehen kann.  „Die Bibel in gerechter Sprache versucht das auch in deutschen Wiedergaben ernst zu nehmen. Darum wird elohim an manchen Stellen mit »die Gottheit« übersetzt. Dass sich dann im Deutschen ein »sie« anschließt, kann zu einer guten Einübung werden, die verbreitete merkwürdige Vorstellung, Gott sei zwar kein Mensch, aber ein Mann, zu verlernen.“ Weil aber „Gottheit“ nach unserem Sprachgefühl eine sehr distanzierte Redeweise ist, variiert die Bibel in gerechter Sprache die Übersetzung. „Gerade hier zeigt sich, dass das Übersetzen der Bibel ein stets unabgeschlossenes Projekt bleibt.“ Da aber links neben dem Text das Wort elohim steht und ich ja auf das Übersetzungsproblem aufmerksam gemacht wurde, kann ich nun an den entsprechenden Stellen selbst überprüfen, wie die Übersetzer der Bibel in gerechter Sprache vorgegangen sind und wie ich selbst diese Stelle deuten / lesen würde.

Auf diese Weise trägt die Bibel in gerechter Sprache auch zu einer Kompetenzerweiterung der Laien bei, die des Hebräischen oder Griechischen nicht mächtig sind bei. Meine Großmutter, so vermute ich, wäre mit der Bibel in gerechter Sprache jedenfalls gut klar gekommen. Sie verwendete für ihre tägliche Lektüre unterschiedliche Bibelausgaben, natürlich vorrangig die Lutherausgabe von 1909, mit der sie aufgewachsen war, aber auch andere Übersetzungen wie die Elberfelder Bibel von 1905. Ihr ging es um den Sinn des Bibeltextes, den sie mit Hilfe von erläuternden Texten sich zu erschließen trachtete. Und hier wäre ihr die Bibel in gerechter Sprache eine Hilfe gewesen, denn sie hätte nicht nur wichtige Begriffe im Glossar erläutert gefunden, sondern sie hätte durch den Einbezug der hebräischen und griechischen Begriffe verstanden, dass das, was sie las und sich erarbeitete, eben eine Übersetzung war – aus einem ihr zunächst einmal ganz fremden Kontext mit ganz unterschiedlichen Lebensbedingungen. „Gott“ – das sagt sich so leicht, aber ein kleines daneben stehendes elohim samt Erläuterung macht deutlich, dass auch das Wort Gott nur eine tastende Annäherung ist. Dass elohim ein Plural ist, hätte sie, die nicht wie heutige Schülerinnen und Schüler mit der historisch-kritischen Bibelauslegung aufgewachsen war, vermutlich arg irritiert. Aber, dessen bin ich mir sicher, wenn das in den biblischen Texten so stand, dann wollte sie darüber auch informiert sein und sich ihre eigene Meinung bilden. Und das kann man nur im Vergleich, im Durchbuchstabieren von Textvarianten – ganz so wie es die Bibel in gerechter Sprache mit dem ersten Vers des ersten Kapitels des ersten Buches der hebräischen Bibel vorführt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/51/am240.htm
© Andreas Mertin 2008