„Das Leben ist kurz“

Religionshermeneutische Überlegungen zum Gegenwartskino

Jörg Herrmann

„Die Religion der Zukunft wird Kino sein und in Hollywood produziert“, schreibt der Filmkritiker Georg Seeßlen.  „Wir müssen zugeben, dass Kunst der religiösen Erfahrung heutzutage oft wesentlich überzeugenderen Ausdruck verleiht als die kirchliche Praxis“, konstatierte der frühere Herausgeber dieser Zeitschrift Günter Rombold.  Können also Kino und Kunsthalle zu Orten nicht nur ästhetischer, sondern auch religiöser Erfahrung werden? Wie verhalten sich diese Erfahrungen zu denjenigen, die am Ort der Kirche, also im Rahmen der traditionellen Religionskultur gemacht werden können? Und wird die Kirche am Ende durch das Kino und die Kunsthalle ersetzt?

Ist es in der Kunsthalle vielleicht die abstrakte Malerei und ihre Nähe zum Mystischen, die ins Auge fällt, so hat das Kino hingegen vor allem Affinitäten zum Narrativen der Religion. Das Kino und insbesondere das populäre Kino schwelgt in Bildern und Tönen bigger than life. An die Stelle der andächtigen Atmosphäre der Kunsthalle tritt das Schnattern der Cliquen Jugendlicher im Foyer des Cinemaxx und das Rascheln der Popkorntüten im Kinosaal. Die 16-21jährigen bilden hier das Gros des Kinopublikums. Die Gegenwart gehört dem Cinemaxx oder Multiplex-Kino mit tausenden von Sitzplätzen, der Hardware für amerikanische Mainstream-Software. In Hamburg gibt es bereits sieben dieser Megakinos. Der Siegeszug der Multiplex-Kinos in den 90ern ist zugleich ein Siegeszug des populären Films. Das populäre Kino steht dabei im Kontext eines breiten Spektrums kultureller Sinndeutungsangebote, das von der Therapieszene über die Esoterik bis zur bildenden Kunst reicht.

Vielleicht lässt sich vorab soviel sagen: Funktionen der alltagskulturellen Sinndeutung, die früher in stärkerem Maße von der Religionskultur erfüllt wurden, sind im Zuge des kulturellen Ausdifferenzierungsprozesses in die populäre Kultur übergegangen. Inwieweit das auch die großen Transzendenzen an den Wendepunkten des Lebens betrifft, wird noch zu untersuchen sein. Ich möchte im Folgenden anhand von drei Filmen den Spuren des Religiösen im Gegenwartsfilm nachgehen.

Charlie Kaufman ist ein Mann mit Endlichkeitsbewusstsein. Er weiß: „Das Leben ist kurz. Ich muss das Beste daraus machen. Heute ist der erste Tag meines restlichen Lebens.“ Charlie Kaufman, Drehbuchautor und Hauptfigur des Films „Adaption“ von Spike Jonze (USA 2003), hat zweifellos Sinn für letzte Fragen. Außerdem hat er hohe Ansprüche und neigt zu selbstquälerischen Grübeleien. Diese Eigenschaften machen ihm seine Aufgabe doppelt schwer: Er soll das Buch einer New Yorker Journalistin über einen Orchideenliebhaber als Drehbuch adaptieren. Sein nicht gerade unbescheidenes Ziel dabei: „Die ganze Geschichte des Universums zusammenführen.“ Ein unrealisierbares Vorhaben? Nicht für Charlie Kaufman. Der Film „Adaption“ erzählt von der Verzweiflung des Autors an seinem Stoff und zugleich davon, was es heißt, ein Mensch zu sein und an der Geschichte des Universums weiterzudenken und weiterzuschreiben, davon, was es heißt, mit dem unverfügbar gegebenen Voraussetzungen, Konstellationen und Situationen des eigenen Lebens in einen sinnproduktiven Dialog einzutreten und dem Leben auf diese Weise ein gelungenes Fragment abzuringen. Kaufman wird zum exemplarischen Menschen, der die Herausforderung der Schöpfung annimmt und in ihren Prozess der kreativen Mimesis eintritt.

Ist der Film „Adaption“ vor allem mit den Fragen von Schönheit und Sehnsucht, von Sinn und Gestaltung befasst und sicher auch mit dem Prozess des Erwachsenwerdens im Durchgang durch Obsessionen und ihre Ernüchterung, so geht es in „The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Stephen Daldry, USA 2002) stärker noch um den Augenblick, um die Momente des Glücks, um die Fähigkeit, diese Augenblicke wahrzunehmen und zu feiern, aber auch um die Freiheit, dem Unerträglichen aus eigener Kraft ein Ende setzen zu können.  In beiden Filmen vollziehen sich diese Auseinandersetzungen im Dialog mit Büchern: in „Adaption“ ist es das Buch „Der Orchideendieb“ der Journalistin Susan Orlean, bei „The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ spielen gleich zwei Bücher eine wichtige Rolle: der Roman „Mrs. Dalloway“ von Virginia Woolf (1923) und der davon inspirierte Roman „The Hours“ von Michael Cunningham (2002), auf dem das Drehbuch des Films basiert.

Besonders deutlich wird die Sinnorientierungsfunktion dieser Texte am Beispiel des Romans „Mrs. Dalloway“ und seines Gebrauches durch die Protagonisten des Films „The Hours“. Die Figuren des Films erkennen sich in diesem Text wieder und gewinnen aus ihm Impulse für ihr Handeln. Der Film selbst wiederum bietet Sinnorientierung an, indem er die Sinnorientierungsgeschichten seiner Figuren erzählt und diesen Prozess des Selbstverstehens und der Selbstgestaltung im Medium kultureller Symbolisierungen sichtbar macht. Dies gilt in ähnlicher Weise für „Adaption“. Beide Filme knüpfen damit an die großen Sinnorientierungserzählungen der jüdisch-christlichen Tradition an, ohne allerdings auf diese selbst ausdrücklich Bezug zu nehmen. Die Kontinuität zur christlichen Tradition ist vielmehr vor allem eine sachliche und funktionale Kontinuität der existentiellen Erfahrungen und Fragen. Es ist insbesondere die Formulierung dieser Erfahrungen und Fragen im Horizont der Anspielung auf die rätselhafte Herkunft und Zukunft von Mensch und Welt, die diesen Filmen eine religiöse Tiefendimension verleiht.

Um das Verhältnis des Films zur traditionellen Religionskultur noch genauer  bestimmen zu können, empfiehlt es sich, zwischen motivischen, strukturellen und funktionalen Gemeinsamkeiten zu unterscheiden. Die allgemeinste Ebene ist die der funktionalen Äquivalenzen: Traditionelle Religionskultur und aktuelle Filmkultur bieten symbolische Auseinandersetzungen mit existentiellen Fragen, auf je ihre Weise. Konkretere Verhältnisbestimmungen müssen nach Verarbeitungen, Transformationen und Variationen von Inhalten, Strukturen und Motiven der Tradition fragen. Grundlegend für diese Tradition ist die heilsgeschichtliche Rahmenerzählung von Schöpfung, Erlösung und Erneuerung. Will man die genannten Filme in dieser Rahmenerzählung verorten, so gehört „Adaption“ in das Kapitel Schöpfung, während „The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ am stärksten mit dem Kapitel Erlösung korrespondiert. Ein Genre, welches das Thema des dritten Kapitels der Heilsgeschichte, die Erneuerung von Himmel und Erde, bevorzugt bearbeitet, ist der Science Fiction, ein Beispiel etwa der Film „Minority Report“ von Steven Spielberg (USA 2002). Er fragt nach dem freien Willen und der Möglichkeit einer besseren Welt.

„Adaption“

Es liegt nahe, dieser Dramaturgie auch im Rahmen der vorliegenden religionshermeneutischen Sichtung dieser drei auch filmkulturell herausragenden Beispiele des Gegenwartskinos zu folgen und zunächst danach zu fragen, wie der Film „Adaption“ die Schöpfungserzählung aufnimmt und fortschreibt.

Was diesen Film mit der Schöpfungsthematik verbindet, wird gleich zu Beginn deutlich. Der Prolog verläuft weitgehend parallel zur biblischen Schöpfungserzählung in Genesis 1. Indem Charlie Kaufmans Auftreten in diesen schöpfungsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt wird, wird er zugleich als Repräsentant seiner Gattung vorgestellt: Charlie Kaufmann ist der exemplarische Mensch, eine Art postmoderner Adam. Und er hat eine exemplarische kulturelle Aufgabe: Er soll ein Buch über einen leidenschaftlichen Orchideensammler, einen Diskurs über die Schönheit der Schöpfung, könnte man auch sagen, in das Medium seiner Zeit übersetzen: in einen Film. Und das im Hollywood der Jahrtausendwende, in einem Kontext, in dem Actiondramaturgie und spektakuläre Bilder gefragt sind. All dies hat das Buch der Journalistin Susan Orlean nicht zu bieten. Es erzählt von Laroche, dem verrückten Orchideenfreak, der der „Geist“, einer seltenen weißen Orchidee, auf der Spur ist. Laroche ist ein Sammler mit lebensphilosophischen Anwandlungen. Er erläutert seine Weltsicht. „Das Barometer von Bedeutung sitzt in unserem Herzen.“ Laroche ist Rezeptionsästhet. Die Blume ist schön, ein Symbol für das Gelungene der Schöpfung, für die gelungene Form. Aber dass die Blume schön ist und wie schön sie ist, kann nur subjektiv empfunden werden: im Herzen.  Charlie Kaufman kann diese Faszination nicht auf Anhieb nachfühlen. Er gibt sich jedoch alle Mühe. Und er hat hohe Ansprüche. Sein Drehbuch soll nicht irgendein Drehbuch werden, es soll vielmehr „die ganze Geschichte des Universums zusammenführen“. Sein Schreibprojekt ist Arbeit an der Form und religionsphilosophische Sinnsuche in einem. Und es ist darüber hinaus eine Metapher für die generelle Aufgabe der Lebensgestaltung, die uns als Menschen  gestellt ist.

Dass die Orchidee auch als Metapher interpretiert werden kann, dass sie eben für mehr steht, als für das Bild einer schönen Blumen und darin der blauen Blume der Romantik verwandt ist, zeigt die folgende Szene.

Die Geist-Blume ist vollkommen. Sie steht für das Absolute, für die Gegenwart des Göttlichen im Hier und Jetzt, für ein Stück Himmel auf Erden. Das Göttliche ist zugleich das Schöne: eine gelungene Form. An dieser arbeitet auch Charlie Kaufmann. Dabei muss er sich immer wieder mit seinem Zwillingsbruder Donald auseinandersetzen, der vorübergehend bei ihm wohnt und sich in den Kopf gesetzt hat, ebenfalls ein Drehbuch zu schreiben. Will Charlie einen künstlerisch ambitionierten Film schreiben, so verkörpert Donald den Typus des Action-Autors, der der Traumfabrik genau die Ware liefert, nach der sie verlangt: einen Schema-F-Thriller. Charlie will das Besondere, Donald das Funktionierende. Die beiden Zwillingsbrüder verkörpern auf diese Weise den Doppelcharakter des Films als Kunst und als Ware und damit zugleich auch die generelle Ambivalenz kultureller Symbolisierungen zwischen Substanzhaftigkeit und Tauschwert auf der einen Seite und Verweisungscharakter und semantisch-ästhetischem Gebrauchswert auf der anderen. Diese Ambivalenz der Kultur und insbesondere der Religion kommt auch in der Suche nach der seltenen Orchidee zum Ausdruck. Vollkommenheit und Schönheit sind nämlich nur eine Seite der begehrten Orchidee.

„Früher war es eine religiöse Handlung“, bemerkt Laroche. Heute ist es nur noch das Verlangen nach dem Kick, ein banaler Rausch, der nicht über sich hinausweist, das Ergebnis der Umwandlung des Schönen in eine Erlebnis-Droge, die Verfügbarmachung der Ekstase.

Charlie und Donald Kaufmann kommen diesem Drogenthema ebenfalls auf die Spur, als sie mit Susan Orlean Kontakt aufnehmen. Dies scheint der einzige Weg für Charlie zu sein, aus seiner kreativen Krise herauszufinden. Donald bietet seine Hilfe an und gemeinsam fahren sie nach New York, wo Donald sich als Charlie ausgibt und ein Interview mit Susan Orlean führt, das zu weiteren Nachforschungen Anlass gibt. Es stellt sich heraus, dass die Journalistin eine Affäre mit Laroche hat und beide mittlerweile dem Drogenglück frönen. Der Film nimmt eine dramatische und burleske Wendung, die beiden Zwillingsbrüder werden entdeckt, als sie den Liebenden in Laroches Gewächshaus in Florida nachspüren, es kommt zu einer grotesken Verfolgungsjagd im nahe gelegenen Sumpfgebiet, Laroche wird von einem Krokodil verschlungen, Donald wird angeschossen und stirbt kurz darauf bei einem Verkehrsunfall. Charlie hingegen kommt mit dem Leben davon und kann am Ende sogar sein Drehbuch noch erfolgreich zum Abschluss bringen.

Eine Szene aus diesem bewegten Schlussteil des Films verdichtet Wesentliches. Charlie und Donald harren in einem Versteck aus. Donalds zentrale lebensphilosophische Einsicht: „Du bist, was du liebst.“ Die Identität bildet sich in der Auseinandersetzung mit dem Geliebten, mit den Objekten der Sehnsucht. Die Selbstwerdung vollzieht sich dabei, so könnte man interpretieren, im Prozess des Liebens selbst. Die Vergegenständlichung des Objektes hingegen führt in die Erstarrung, in die Substantialisierung des Drogenkicks. Offengehalten wird der schöpferische Prozess der Liebe, der Fortgang der Schöpfung, nicht zuletzt durch das  Wissen, dass kein Partikulares die Sehnsucht nach dem Absoluten im letzten zu erfüllen vermag. Realisierbar ist allenfalls ein Vorschein, eine gelungene Sinndarstellung, die die Schönheit der Schöpfung - wie sie in „Adaption“ durch die seltene Orchidee symbolisiert wird - kreativ und mimetisch fortzuschreiben vermag. Das kann ein gelungener Film wie „Adaption“ sein oder ein geglücktes Buch wie „Der Orchideendieb“. Diese Überlegungen zeigen, dass Sinnerfüllung offenbar nicht nur kognitiv zu denken ist, sondern von Wahrnehmungen natürlicher und kultureller Gegenstände angeregt wird, die mentale Prozesse von semantisch-ästhetischer Dichte auszulösen vermögen.

The Hours

Davon, dass sich dieses Glück der Sinnerfüllung jedoch nicht festhalten lässt, dass es flüchtig ist und nur in Augenblicken erscheint und dass das Leben genau so gut in eine Unerträglichkeit umschlagen kann, aus der nur noch der Tod zu erlösen vermag, davon handelt der Film „The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ von Stephen Daldry.

Seine Struktur ist komplex, er erzählt die Geschichten von drei Frauen und verwebt sie zu einer. In der ersten Geschichte, die in den 1920er Jahren in England spielt, geht es um die Schriftstellerin Virginia Woolf, die an ihrem Roman „Mrs. Dalloway“ arbeitet und mit ihrer psychischen Krankheit kämpft; in der zweiten Erzählung, die im Amerika der 1940er Jahre angesiedelt ist, geht es um die Hausfrau Laura Brown, die am Tag des Geburtstages ihres Ehemannes besonders unglücklich ist und sich auf der Suche nach ihrem eigenen Leben in die Lektüre von Woolfs Roman vergräbt. Die dritte Geschichte handelt von Clarissa Vaughn, einer New Yorker Lektorin, die eine Party ausrichten will, zu Ehren ihres an Aids erkrankten Freundes, des Dichters Richard. Auch in ihrem Leben spielt das Buch von Woolf eine Rolle: Richard hat sie nämlich früher einmal Mrs. Dalloway genannt, damals, als die beiden noch ein glückliches Paar waren.

Das eigene Leben zu suchen, kann auch heißen, den eigenen Tod zu suchen – als Konsequenz des Unerträglichen. Das Motiv des Unerträglichen verbindet alle drei Erzählungen des Films: auch die schwangere Laura Brown verzweifelt an der Unerträglichkeit ihrer Lebenssituation und Richard, vom Endstadium einer Aidserkrankung gezeichnet, erst recht. Dennoch soll gefeiert werden. Clarissa, von Richard ‚Mrs. Dalloway’ getauft, ist mit Ähnlichem wie die Hauptfigur in Virginia Woolfs Roman befasst: mit den Vorbereitungen eines Festes zu Ehren von Richard, der einen bedeutenden Literaturpreis für sein Lebenswerk erhalten hat. Wie Mrs. Dalloway in Woolfs Roman kauft auch Clarissa Blumen. Das Leben will gefeiert sein, so nah es dem Tod auch immer kommt. Der Tod ist in „The Hours“ ständig präsent, nicht zuletzt, als es darum geht, einen toten Vogel zu beerdigen.

„Ich weiß aber nicht, woher ich komme“, sagt das Mädchen. Wir wissen nicht, woher wir kommen und wohin wir gehen, sagt der Film. Auch Laura Brown weiß es nicht. Dennoch will sie sich umbringen. Der Tod scheint immer noch besser als dieses Leben, eine Erlösung. Sie hat ihren Sohn bei einer Bekannten abgeliefert und sich in ein Hotel zurückgezogen. Was geschieht nun?

Laura Brown hat es sich anders überlegt. Sie wird sich nicht mehr umbringen. Sie lässt sich von Mrs. Dalloway leiten und ist gleichsam durch die Lektüre zu einem neuen Leben wiedergeboren. Doch auch dieser Weg fordert einen hohen Preis: Laura Brown verlässt ihre Familie kurz nach der Geburt ihres zweiten Kindes. Sie findet in Kanada zu einem neuen Leben, wie wir später erfahren werden. Das Unerträgliche ist nicht unentrinnbar. In ihrem Fall wenigstens. Anders steht es bei Richard, der ihr Sohn ist, wie im Verlauf des Films deutlich wird. Richard ist seiner Aidserkrankung ausgeliefert.

Das Glück lebt in der Erinnerung, doch die vergangenen Glücksmomente können das Leiden der Gegenwart nicht aufwiegen. Nur der Tod kann noch erlösen. Auch Laura Brown war auf diesem Weg. Doch sie hat sich schließlich anders entschieden. Wir sehen sie am Ende des Films noch einmal wieder: Sie ist nach New York gekommen, nachdem sie vom Tod ihres Sohnes erfahren hat.

Die Dialektik von Tod und Leben, von Ende und Anfang wird in dieser Szene noch einmal deutlich: Es zeigt sich, dass Laura Browns Ausbruch aus ihrem Familienleben eine notwendige Voraussetzung für ihr weiteres Leben in einem über ein bloßes Überleben hinausgehenden Sinne war. Im Fall von Richard und Clarissa sind die Verhältnisse zugespitzter: Nur der Tod Richards kann Clarissa zum Leben befreien. Richard weiß das und zieht die Konsequenzen.

Auch für Virginia Woolf lautet die Alternative irgendwann London oder der Tod. Und in London zu leben, in der soziokulturellen Umgebung also, die sie bräuchte, um eine erfülltes Leben führen zu können, ist ihr aufgrund ihrer Krankheit nicht möglich. Erlösen vom auf die Dauer Unerträglichen kann nur der Tod. Ihm gegenüber stehen unverfügbare Momente des Glücks, die das Leben lebenswert machen und deren bewusste Wahrnehmung bedeutet, sie zu feiern und mit Hilfe kultureller Praktiken (Feste, Bücher) zu steigern, zu erinnern und zu gestalten.

Menschsein, so könnte man interpretieren, bedeutet, von seiner endlichen Freiheit bewussten Gebrauch zu machen: In der immer kulturell vermittelten Wahrnehmung der unverfügbaren Glückmomente und zugleich in ihrer kulturellen Gestaltung, die – wie in „Adaption“ – dem Prinzip der kreativen Mimesis folgt, oder eben auch in der Wahrnehmung der menschlichen Freiheit, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, wenn es in kontingente Unerträglichkeit umgeschlagen ist.

In beiden Filmen, in „Adaption“ und in „The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ wird das Ineinander von Lesen und Schreiben betont, die Wechselwirkung dieser Medienpraktiken: Charlie Kaufmann liest und schreibt, Virginia Woolf schreibt, was Laura Brown später lesen wird und was sie wiederum als Autorin ihres eigenen Lebens mitbestimmt. Ihr Sohn Richard schreibt, was Susan Orlean liest. In diesen Verkettungen von Schreiben und Lesen sind mimetische Prozesse wirksam, die sich über Generationen hinweg fortpflanzen. Aus der Ambivalenz von Licht und Dunkelheit, von Glück und Leiden kann diese Praxis gleichwohl nicht hinausführen. Auch die großen Transzendenzen werden nicht näher bestimmt, nur angespielt als das rätselhafte Vonwoher menschlicher Existenz. Gottesgewissheit im alten Sinne ist den Filmen fremd. Es gilt vielmehr: „Das Leben ist kurz. Ich muss das Beste daraus machen.“

Minority Report

Ob zukünftige Kulturtechniken mehr leisten können, ob sie einen Ausweg eröffnen können, ob Welt und Mensch mit ihrer Hilfe verbessert oder gar erneuert werden können, erörtert der Science Fiction „Minority Report“ von Steven Spielberg (USA 2002). Ist eine bessere Welt möglich? Kann die Kultur das Böse abschaffen?

In „Minority Report“ sieht es zunächst ganz danach aus. Wir schreiben das Jahr 2054. Seit sechs Jahren arbeitet die Washingtoner Polizeieinheit „Precrime“ erfolgreich an der Verhinderung von Morden, die von drei Menschen mit hellseherischen Fähigkeiten vorausgesehen werden. Vor dem Hintergrund dieses Erfolges soll nun darüber abgestimmt werden, ob das Projekt „Precrime“ auf das ganze Land ausgedehnt werden soll. Die Regierung schickt den Ermittler Danny Wittwer, um die Abteilung in Augenschein zu nehmen und sich ein Urteil über deren Arbeit zu bilden.

Der Polizist John Anderton ist seit sechs Jahren bei „Precrime“. Er hat vor einem halben Jahr seinen Sohn verloren. Er ist bei einem Schwimmbadbesuch spurlos verschwunden. Andertons Frau hat sich daraufhin von ihm getrennt. Anderton haben diese Schicksalsschläge hart getroffen: Er flüchtet sich in Erinnerungen und in Drogenräusche. Sein ohnehin schweres Leben bekommt eine dramatische Wendung, als die Precogs eines Tages einen Mord voraussehen, den Anderton begehen soll. Nun versucht der Polizist, gejagt von seinen ehemaligen Kollegen, seiner eigenen Zukunft auf die Spur zu kommen. Wer ist der Mann, den er in der Vision der Precogs umzubringen scheint? Anderton findet bis in das Hotelzimmer, in dem sich die Vision der Precogs zuträgt. Er hat Agatha dabei, eine der Precogs, die er aus ihrem Tempeldasein befreit hat, um ihm bei seiner Recherche als Detektiv auf den Spuren der eigenen Zukunft zur Seite zu stehen.

Crow hat sich, wie sich zeigt, selbst getötet, indem er die Pistole von Anderton an sich gezogen und abgefeuert hat. Anderton ist also nicht zum Mörder geworden. Der menschliche Wille ist offenbar doch frei und die Zukunft keineswegs deterministisch festgelegt. Diese Lesart wird auch von der Schlusssequenz des Films unterstützt: Auch Lamar Burgess, der Chef von Precrime, bringt sich selbst um und sorgt damit zugleich für eine Beendigung des „Precrime“-Projectes. Seine Geschichte, die noch viel komplizierter ist und hier nicht in allen ihren Winkelzügen rekonstruiert werden kann, zeigt: Das scheinbar perfekte Verbrechensbekämpfungssystem ist am Ende genauso fragwürdig und unvollkommen wie der Mensch, der es ersonnen hat und dessen Welt es verbessern sollte.

„Das Leben ist kurz“

Der schöpferische Mensch kann viel leisten, aber einen neuen Himmel und eine neue Erde kann er nicht schaffen - noch nicht jedenfalls. Das Gegebene, die Welt, in der wir uns vorfinden und die das Christentum als Schöpfung Gottes interpretiert, ist ebenso kontingent wie ihre radikale Verwandlung. Vielleicht ist eine bessere Welt ein menschenmögliches Projekt, eine andere Welt ist wohl nur als Gabe denkbar. Darüber zu sinnieren, bringt jedoch nichts. Realistisch ist hingegen die Einstellung von Charlie Kaufman. Er formuliert das Memento Mori der Bibel in der Sprache eines Drehbuchautors des 21. Jahrhunderts: „Das Leben ist kurz. Ich muss das Beste daraus machen. Heute ist der erste Tag meines restlichen Lebens.“ Dass hier ein Drehbuchautor von dem Besten spricht, verstehe ich als Hinweis darauf, dass dieses Beste auch und nicht zuletzt eine ästhetische Dimension hat: das Beste ist nicht nur das Gute und das Wahre, es ist auch das Schöne. Religionspädagogen sprechen gerne vom ‚gelungenen Leben’. In ihm finden Authentizität, Ethik und Ästhetik zu einer geglückten Komposition zusammen. Der Film „The Hours“ deutet an, dass diese Komposition im Lebensvollzug in der Regel nur in Augenblicken und Stunden gelingt, fragmentarisch eben. Darüber hinaus reicht allein das Kunstwerk. Es entspricht auf der Ebene des Kulturellen dem, was die Geist-Orchidee aus „Adaption“ auf der Ebene des Natürlichen verkörpert: eine Antizipation von Vollkommenheit.

Die traditionelle Religionskultur hat eine eigene Sprache ausgebildet, um diese Erfahrungen des gesteigerten Lebens zu kommunizieren. Sie bleibt jedoch leer, wenn ihr keine aktuellen Anschauungen, keine Zeitbilder und keine Gegenwartserfahrungen mehr zugeordnet werden können. Die vorgestellten Filme liefern solche Bilder und Erfahrungen. Sie können helfen, neue Zugänge zu den traditionellen und aktuellen Diskursen letzter Bedeutung zu eröffnen. Sie können uns helfen, unser Leben im Spiegel einer gelungenen Form und im Horizont der letzten Fragen besser zu verstehen, tiefer zu empfinden und weiser zu gestalten.

Literatur

Jörg Herrmann, Sinnmaschine Kino, Gütersloh 2000

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/52/jh17.htm
© Jörg Herrmann