Die Aura des Göttlichen

Religionen im Film

Jörg Herrmann

Seit einiger Zeit ist von einer Rückkehr der Religion die Rede. Es ist zunächst vor allem eine Rückkehr des Themas Religion auf die Agenda der Medienöffentlichkeit. Über die letzten Papst-Besuche in Deutschland wurde berichtet wie über die Tour de France zu ihren besten Zeiten, der religiöse Terrorismus ist seit dem 11. September 2001 ein Dauerthema, die Zeitungen diskutieren religionspolitische Fragen und Suhrkamp gründet einen Verlag der Weltreligionen.

Religion ist in den letzten Jahren in einem Ausmaß wieder zu einem öffentlichen Thema geworden, wie es vor vielleicht zehn Jahren noch kaum jemand vermutet hätte. Noch erstaunlicher wirkt dieser Befund, wenn man noch ein wenig weiter zurückblickt. Denn noch Ende des 19. Jahrhunderts hielten die maßgeblichen Intellektuellen das Aussterben der Religion für eine reine Zeitfrage. Religion galt ihnen als etwas Verschwindendes, fast schon Museales, jedenfalls kein Thema mit Zukunft. Doch die Gleichung Modernisierung gleich Säkularisierung wurde vom Fortgang der Geschichte durchgestrichen und überholt.

Die Religionsmärkte brummen, vor allem außerhalb des alten Europa. Aber auch hier bei uns in Deutschland bezeichnen sich 70 Prozent der Bevölkerung als religiös, wie eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung unlängst ergab. Dabei bestätigte die Umfrage die Beobachtung, dass Religion und Kirche längst nicht mehr identisch sind. Es gibt innerkirchliche und außerkirchliche Religionskulturen. Insgesamt zeigt sich ein Bild großer Pluralität. Vielfalt kennzeichnet dabei sowohl das Gesamtbild als auch die Situation innerhalb der Großbereiche der kirchlichen Religionskulturen, der nichtchristlichen Religionen, der alternativ institutionalisierten Religion und der unsichtbaren Religion der Medienkultur. Die Pluralität setzt sich auf der individuellen Ebene gleich weiter fort, denn die reine Lehre ist kaum je anzutreffen, die gelebte Religion ist vielmehr zumeist ein synkretistisches Gebilde, ein individuelles Patchworkergebnis subjektiver Sinnarbeit. Multireligiosität und Vielfalt kennzeichnen also die heutige religionskulturelle Lage. Aber es ist nicht mehr das entspannte Multikulti-Idealbild früherer Zeiten. Die Pluralität ist größer, aber auch deutlich schwerer geworden. Sie ist durchzogen von Fundamentalismen und Konflikten, von Brüchen, Spaltungen und Verwerfungen.

Der Film scheint zunächst einmal nicht an der vieldiskutierten Rückkehr der Religion zu partizipieren. Jedenfalls nicht hinsichtlich der Darstellung expliziter Religion. Hier ist der Trend eindeutig: Waren religiöse Themen und Motive in der ersten Hälfte der gut einhundertjährigen Geschichte des Films noch präsenter, so hat ihr Vorkommen im Film in der zweiten Hälfte und besonders im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts kontinuierlich abgenommen. Gelegentlich erscheint auch im 21. Jahrhundert noch ein Jesusfilm auf der Leinwand. Ich denke zum Beispiel an Mel Gibsons nicht unproblematischen Film „Die Passion Christi“ von 2004. Explizite Verarbeitungen religiöser Traditionen finden sich also immer wieder, aber auch immer seltener.

Dafür ist etwas anderes zu beobachten. Der Film partizipiert nämlich auch an der Transformation der Religionskultur, an der Verwandlung von sichtbarer kirchlich institutionalisierter Religion in unsichtbare Individuenreligion. Eine wichtige Ressource dieser unsichtbaren Religion ist die Medienkultur und nicht zuletzt der Film. Man spricht darum auch von Medienreligion. Ein zentraler Bezugspunkt des medienreligiösen Diskurses ist Thomas Luckmanns funktionale Religionstheorie, die Religion als kulturelle Bearbeitung von Sinn- und Identitätsfragen versteht. Vor diesem Hintergrund erscheint Luckmann die klassische Säkularisierungsthese als moderner Mythos. Religion kann nicht sterben, sie kann nur ihre Form verändern. Ein Ergebnis dieser Umformungsprozesse ist eben, so Luckmann, dass aus der deutlich sichtbaren und kirchlich institutionalisierten Religion zu großen Teilen unsichtbare Individuenreligion geworden ist. Im Ergebnis lassen sich sichtbare und unsichtbare, kirchliche und außerkirchliche Religionskulturen unterscheiden – solche Religion also, die aufgrund ihrer traditionellen Ausdrucksformen schon auf den ersten Blick als Religion kenntlich ist und solche Religion, die erst aus der Perspektive eines funktionalen Begriffes von Religion als solche beschrieben werden kann.

Vor diesem hier nur sehr verkürzt beschriebenen Theoriehintergrund wurden Film und Fernsehen, Literatur und Internet religionshermeneutisch untersucht. Dabei wurde deutlich, dass auch der Film Sinnstiftungsfunktionen von der kirchlichen Religionskultur übernommen hat. Das Kino erschöpft sich eben nicht in der Inszenierung großer Gefühle und eindrucksvoller Bilder. Es setzt sich, auf andere Weise als die Religion, ebenfalls mit letzten Fragen auseinander. Zur Besonderheit der Medienreligion des Kinos gehört dabei, dass ihre Praxis in mancher Hinsicht Ähnlichkeit mit der Praxis des kirchlichen Christentums hat: im Kino wie in der Kirche werden innerhalb ritueller Rahmungen narrativ basierte Lebensdeutungen zur Aufführung gebracht. Filme wie „Titanic“, „American Beauty“, „Cast Away“, „The Hours“, „Magnolia“, „Lola rennt“ und „Esmas Geheimnis“ machen eigene Sinnangebote und sind in dieser Hinsicht eine Konkurrenz zu den traditionellen Religionskulturen. In den letzten Jahren ist allerdings ein Gegentrend zur Verwandlung sichtbarer in unsichtbare Religion deutlich geworden. Die alte, sichtbare Religion ist wieder präsenter und neu gefragt. Unsichtbare Religion ist out. Kenntlichkeit und die Differenz des Spezifischen haben auch im Religiösen Konjunktur. Wie kommen diese Differenzen im Film zur Darstellung?

Die Stärke des Films ist dabei, so denke ich, seine umfassende Sinnlichkeit. Er stellt jedes Thema vom Kopf auf die Füße. Denn der Film muss das Leben nachbilden. Er muss Sichtbares zeigen. Auch wenn es um Religion geht, um die Beziehung zum Transzendenten und damit letztlich Undarstellbaren. Darum zeigt der Film Verkörperungen, Praktiken und Auswirkungen von Religion: religiös imprägniertes Leben. Dabei partizipiert der Film am Trend der Pluralisierung und des Synkretismus.

Wir können darum nicht den Film entdecken, der das Christentum, den Hinduismus, den Buddhismus, den Islam oder das Judentum repräsentiert. Es sind vielmehr Aspekte, Interpretationen, Dimensionen und Auswirkungen von Religion, die zur filmischen Darstellung kommen. Dabei steht sicher der Kern des Christentums, wenn man von so etwas sprechen kann, bei einem Film wie Martin Scorseses „Die letzte Versuchung Christi“ mehr im Zentrum wie der Kern des Buddhismus bei Kim Ki-Duks „Frühling, Sommer, Herbst, Winter.... Frühling“. Es ging uns eben nicht um Verfilmungen der jeweiligen Ursprungserzählungen, sondern um filmische Auseinandersetzungen mit religiösen Themen und Traditionen, die auch filmästhetisch von Interesse sind. Und in der Hinsicht hat Kim Ki-Duks Film etwas zu bieten, auch wenn er nicht das Lebens Buddhas zum Gegenstand hat, sondern vor allem als ein Beispiel für west-östlichen Religionssynkretismus gelten kann, für das Sampling christlicher und asiatisch-buddhistischer Elemente.

Die Logik dieses Synkretismus ist ganz subjektiv. Das gilt für alle Filme. Und gerade das macht ihre Perspektiven auf Religion reizvoll und interessant. Denn hier haben Filmkünstlerinen und Filmkünstler ihre individuellen Sichtweisen und Aneignungen des Religiösen ins Bild gesetzt, ohne sich um die Meinung des Vatikan, der EKD oder der Scharia zu kümmern. Es entstehen dadurch vielfältige Spannungen zu den orthodoxeren Interpretationen der jeweiligen religiösen Traditionen, die neue Lesarten, neue Perspektiven und Fragestellungen eröffnen können. Wenn etwas Scorsese seinen Jesus in letzter Minute vom Kreuz steigen und vorübergehend in ein normales Familienleben eintauchen lässt, verführt durch einen teuflischen Engel, der dem Gekreuzigten versichert, er habe genug gelitten, dann lässt sich diese Wendung auch als Anfrage an die traditionelle Sühneopfertheologie lesen und diskutieren. Musste Gottvater wirklich seinen eigenen Sohn grausam töten, um die Sünden der Menschheit zu sühnen? 

Aber es sind längst nicht nur und vielleicht gar nicht zuerst solche inhaltlichen Fragen und Erkenntnisse, die man beim Sehen der Filme gewinnen kann. Es geht nicht zuletzt, wie der Titel schon sagt, um die Aura des Göttlichen. Das ist zugegebenermaßen ein etwas steiler Titel. Als könnten wir durch das Lichtspiel des Kinos einen Blick auf eine Spur der Götter, auf ihre Aura, erhaschen. Doch wer weiß? Vielleicht lässt sich mit einer Technik, die mit 24 Bildern in der Sekunde arbeitet, Göttliches manchmal besser einfangen, als mit der Ikonenmalerei. Das jüdisch-christliche Bilderverbot, im Kern ein Kultbildverbot, ist ja schließlich das Verbot einer Festschreibung, einer Vergegenständlichung. Der Film bringt das Bild immerhin in Bewegung und ins Fließen. Er löst das starre Bild auf und nähert es dem Leben wieder an, seiner Unverfügbarkeit und seiner Ereignishaftigkeit. Er erzeugt damit zugleich eine komplexe, fließende Aura, die von den dargestellten religiösen Themen und Konnotationen mitbestimmt wird. Der Film kann die Ausstrahlung einer Religion so spürbar werden lassen, er kann sie zur ästhetischen Erfahrung werden lassen. So können Filme einen auch ganz stark ästhetischen Zugang zu religionskulturellen Welten eröffnen. Was sagen diese Wahrnehmungen über den Charakter einer Religion? Und umgekehrt: Wie prägen religionskulturelle Muster den Blick der Kamera, die Dramaturgie der Erzählung, die Struktur des Plots, die Art des Humors? Wie stark formen religiöse Traditionen nach wie vor unseren kulturellen Ausdruck? Und eben nicht nur unsere europäisch-amerikanische filmkulturelle Artikulation, sondern die filmkulturelle Artikulation und Produktion in globaler Perspektive.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/52/jh18.htm
© Jörg Herrmann 2008