Intimität


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Aufruf zur Denunziation?

Oder: Das ganz banale Böse

Andreas Mertin

Info Andreas MertinDie Kirchen der Reformation waren einmal zu Recht bekannt dafür, dass sie das Subjekt stärkten, dass sie das Priestertum der Laien propagierten und lebten und dass ihre Entscheidungsstrukturen von unten nach oben verlaufen. Davon kann seit Längerem keine Rede mehr sein. Die Hierarchisierung des Protestantismus schreitet scheinbar unaufhaltsam voran – zumindest in Alteuropa. Die Drohung: "Das werde ich sofort der Kirchenleitung melden" ist zur gängigen Formel geworden. Nun ist das in aller Regel ein Ohnmachtsreflex, der dann eintritt, wenn man dem Gegenüber nicht mit Überzeugung oder Überredung beikommen kann. Das Auffallende der neueren Entwicklung ist jedoch, dass sich die Instanzen verändert haben. Gedroht wird inzwischen weniger von Christen auf der Ebene der Ortsgemeinde, als vielmehr gerade von Personen, die der jeweiligen Kirchenleitung nahe stehen oder ihr zugehören. Gedroht wird von oben nach unten.

Vor einiger Zeit saß ich abends mit einigen Theologen und offiziellen Vertretern einer Landeskirche zusammen und das Gespräch kam auf die Bibel in gerechter Sprache. Darauf meinte einer der Anwesenden, sobald ein Pfarrer die Bibel im Gottesdienst verwenden würde, müsse er sofort bei der Kirchenleitung angezeigt und disziplinarisch belangt werden. Mein Einwand, dass dies doch immer noch Sache des Pfarrers und seiner Gemeinde sei, welche Texte sie heranziehen wollten, wurde sofort beiseite gewischt. Soweit sind wir also, dass die Verwendung einer Bibel, die von christlichen Exegeten bundesdeutscher Hochschulen erstellt wurde, ein disziplinarrechtlich relevantes Vergehen darstellen soll! Selbstverständlich kann sich jemand, dem etwas in seiner Gemeinde nicht passt, an den Kirchenvorstand wenden oder sogar, wenn sein Gewissen ihn zwingt, im Gottesdienst öffentlich protestieren. Das ist sein religiöses Recht und m.E. auch seine religiöse Pflicht. Dass aber eine Kirchenleitung disziplinarrechtlich formal über die rechte Bibelauslegung bestimmen soll, ist schon eine interessante Wendung.

Dass Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich kritisch zur eigenen Kirche äußern, ins Landeskirchenamt zitiert und massiv unter Druck gesetzt werden, ist inzwischen schon alltäglich. Die katholische Kirche kennt dafür das Schweigegebot, in der evangelischen Kirche wird so lange Druck ausgeübt, bis der Betreffende seine öffentliche Stellungnahme zurückzieht - oder es wird ihm gleich die entsprechende Handlung untersagt. Die Kirche ist schließlich ein Tendenzbetrieb, in dem sich die Angestellten nach dem Dienstherrn zu richten haben. Versuchen Sie mal, die Seite www.ekhn-kritisch.de aufzurufen: sie ist nahezu spurlos verschwunden.

Einen Höhepunkt dieser Umwertung der Werte im Protestantismus konnte man nun dieser Tage vom Beauftragten für Mission der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz erleben. Es ist jene Kirche, die vom Ratspräsidenten der EKD, Bischof Huber, geleitet wird. Es ist eine preußische Kirche, und hier bekommt man noch preußische Tugenden wie Zucht, Ordnung und Gehorsam beigebracht. Auf einem Kongress der württembergischen Landeskirche über Maßnahmen gegen geistliche Stagnation und Mitgliederschwund(!) rief Pfarrer Hans-Georg Filker die Menschen dazu auf, Kirchengemeinden, die nicht zum Glauben an Jesus Christus einladen wollten, beim Oberkirchenrat zu denunzieren. Das ist das ganz banale Böse, die Wiederbelebung der Blockwartmentalität im Protestantismus.

In der religiösen Tradition, in der ich aufgewachsen bin, gehörte es zur Selbstverständlichkeit, dass ein Laie, der mit den Entwicklungen und Lehren in seiner Gemeinde nicht einverstanden war, in der Gemeinde aufstand und dies der Gemeinde kundtat. Das Priestertum aller Laien wurde so in der Pflicht zum Engagement und zur Lehrfindung in der Gemeinde interpretiert.

Heutzutage ist das anders: heute rufen leitende Angestellte der Kirche die Gemeindeglieder statt zur Reform gleich zur Denunziation beim Oberkirchenrat auf. Nicht Gestaltung und Veränderung der Gemeinde von innen heraus lautet ihr Appell, sondern die Meldung an und Verurteilung durch die kirchliche Obrigkeit. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich den Skandal vermitteln kann, der in diesem Ansinnen steckt. Die Zumutung, das ecclesia semper reformanda unmittelbar von der Gemeinde weg auf die kirchenleitende Ebene zu verlagern, ist wirklich ungeheuerlich. Sicher kann nur ein „Direktor“ einer preußischen Behörde auf diese Idee kommen. Dass dies aber als Meldung und nicht als Skandal verbreitet wird, zeigt wie weit wir im Protestantismus gekommen sind.

Nun gibt es vermutlich überhaupt keine Kirchengemeinde, die nicht zum Glauben an Jesus Christus einlädt. Jeder Gottesdienst beginnt mit einer entsprechenden Einladung, ja ist selbst eine solche Einladung. Auch sieht jede Liturgie entsprechende Einladungen vor, am deutlichsten ausgesprochen vielleicht noch in der Abendmahlsliturgie. Offenkundig kann es den Tatbestand, dass eine Gemeinde nicht zum Glauben an Jesus Christus einlädt, so gar nicht geben.

Was also ist wirklich gemeint, wenn gefordert wird, Kirchengemeinden zu denunzieren, die nicht zum Glauben an Jesus Christus auffordern? Es geht nicht um das Maranatha der biblischen Verkündigung, es geht nicht um Schrift und Bekenntnis, es geht nicht um das Zeugnis ablegen, nicht um Confessio, sondern es geht ganz lapidar um die Missionierung von Atheisten und Muslimen, letztlich: aller Nicht-Christen. Wer sich dem verweigert, wer also auf Konfession statt Mission setzt, soll bei der kirchlichen Obrigkeit angezeigt werden. Und noch einmal präziser: es geht nicht darum, dass man Muslime oder Atheisten zum Gottesdienst einlädt. Es geht vielmehr darum, dass diese von ihrem Glauben bzw. ihrer Weltanschauung abgebracht werden sollen. Wer keine aktive Missionierung betreibt, begeht ein Vergehen, das der Obrigkeit gemeldet werden muss.

Nun könnte man einwenden, es gehöre sozusagen zu den Dienstpflichten eines Direktors einer Stadtmission und Beauftragten für Mission einer Landeskirche, von den Mitgläubigen religiöse Mission zu fordern. Früher, als das Diakonische Werk noch Innere Mission hieß, hätte deren Direktor eben auch soziale Mission gefordert. So weit so gut. Heute aber, angesichts des langsamen Dahinsterbens dessen, was wir einmal Volkskirche genannt haben, mutiert die Verweigerung der aktiven Missionierung zum Verbrechen an der Kirche bzw. – ich sage es einmal zugespitzt - an der Kirchenleitung. Die sich abzeichnende zunehmende Zentralisierung der Evangelischen Kirche verbunden mit einem elementaren Mangel an Vertrauen in das Wirken des Heiligen Geistes zeigt hier (s)eine böse Fratze. Mir graut vor einer Kirche, in der das Zeugnis des Glaubens nicht mehr reicht, und die Missionierung der Andersdenkenden im Interesse der Kompensation des Mitgliederschwundes zur Normalität wird.

Als im Bereich der Kultur Tätiger lebe ich in einem Kontext, in dem besonders viele Menschen arbeiten, die ein distanziertes Verhältnis zur Kirche haben. Georg Baselitz hat einmal ganz intuitiv in einem Interview gesagt, er habe sich immer gewundert, warum sein Onkel, der doch ein ganz toller Typ war, dennoch Pfarrer geworden sei. Tatsächlich besteht eine empirisch beschreibbare Entfremdung zwischen großen Teilen der Kultur und der Kirche. Wenn ich es recht verstehe, ist es nun so, dass ich als Christ, als kulturell tätige Gemeinde, als kulturell offene Kirche zur Missionierung der Künstler aufgerufen bin, mehr: verpflichtet bin. Und wer sich diesem Diktat nicht unterwirft – und im Bereich der Kultur ginge das nur unter Aufgabe der Kultur -, der vergeht sich an der Kirche. Tatsächlich sieht eine Schrift jener Kirche, aus der der Direktor der Stadtmission stammt, derartiges bereits vor. Zwar noch nicht strafbewehrt, soll in den Gemeinden aber dennoch darauf geachtet werden, möglichst nur Künstler und Architekten der ACK-Kirchen zu beschäftigen.

Liebe Leute, das sage ich ganz offen, der Heilige Geist verteilt die kulturellen Charismen nicht nach diesem Kriterium. Ebenso wenig wie Glaube gemacht werden kann, ebenso wenig kann Kultur herbei geglaubt werden. Aber es wird die Bedenkenträger des empirischen Dahinschrumpfens der Volkskirche nicht stören, über kurz oder lang gehört auch die kulturelle Mission (der religiös begründete Kulturkampf) zum Aufgabenbereich einer Gemeinde - was dann bei Nichtbefolgung denunziert werden kann.

Kunst an sich ist nicht christlich – das wissen die Schlawiner, und suchen sie nun mit christlichen Zeichensetzungen zu taufen, zu missionieren, zu prägen. Wie das praktisch aussieht, konnte ich vor kurzem erfahren: eine Künstlerin hatte eine Kapelle gestaltet, ein einladender und bergender Ruheraum zur Andacht und Meditation. Man konnte beobachten, wie die Menschen von sich aus – ganz ohne Einladung und Mission – in die Kapelle gingen, sich hinsetzten, wieder aufstanden, mit ihren Fingern über das alte Holz und den Altarstein tasteten. Sie machten Erfahrungen mit dieser Welt, mit der Schöpfung und mit dem, wie Menschen im produktiven kulturellen Sinne mit der Schöpfung arbeiten können. Diese Erfahrung hat nach meiner Deutung viel mit jener Erfahrung zu tun, die Jakob in Gen 8, 10ff. macht und religionsproduktiv deutet. Das alles aber hat jenen Kirchenvertreter nicht interessiert, der dekretierte, dieser Raum sei trotz aller Erfahrungen, die er auslöst, trotz der sinnlichen Einladung, die er ohne Zweifel ausspricht, kein christlicher Raum. Christlich sei ein Raum nur, wenn er von christlichen Zeichen geprägt sei: also Kreuz und Opferstock, Gesangbücher und Blumen. Man müsse auf den ersten Blick erkennen, dass es sich um einen christlichen Raum handele. Im Umkehrschluss lässt sich dem entnehmen, dass christliche Räume nicht selbst zur Erfahrung einladen, sondern durch einen Überschuss an Zeichenbildung charakterisiert sind (was empirisch stimmt, aber doch ein eher kritisch zu erörternder Tatbestand ist.). Ich hatte immer gedacht, all das sei eher ein Charakteristikum des katholischen Barock – aber da muss ich mich geirrt haben. Denkbar wäre nun in logischer Konsequenz, dass demnächst jene der Kirchenleitung gemeldet werden, die in Räumen predigen, die nicht missionarisch im skizzierten Sinne ausgerichtet – oder sollte man besser sagen: zu(grunde)gerichtet - sind. Wer auf das Kreuz in einem religiösen Raum verzichtet, gerät so in den Verdacht, den Muslimen schon Vorschub zu leisten. Ich würde das, nach den entsprechenden Äußerungen Kardinal Meisners zu den Richter-Fenstern im Kölner Dom, die Meisnerisierung der evangelischen Kirche nennen. Und wer – wie die reformierte Tradition – auf all das überbordende Zeichenarsenal verzichtet, muss gewärtig sein, als nicht mehr christlich angesehen zu werden.

Man mag das alles für überzogen halten, aber ich hätte noch vor 15 Jahren nicht gedacht, dass bei Künstlern zunächst nach ihrer Kirchenzugehörigkeit gefragt wird oder dass die Christlichkeit von Kirchen angeblich von äußeren Zeichen abhängt und nicht von der Verkündigung des Wortes Gottes.

Nun kann man sich grundsätzlich fragen, worauf sich dieser denunziatorische Appell zur Mission unter Andersdenken stützt, denn die neutestamentlichen Autoren »setzen weniger an gezielter Tätigkeit voraus als Missionsfreunde wünschen mögen« (Chr. Burchard). Seit frühester Kindheit ist mir ein höchst fragwürdiges Exemplum des Gedankenguts der Missionsarbeit immer unmittelbar vor Augen gewesen: der so genannte Nick-Neger. Das war die kirchlich-populärkulturelle Spardose für die Weltmission, genauer „zum Besten der Evangelischen Heidenmission“. Sie zeigte einen vor seiner Wellblechhütte knienden Schwarzafrikaner, der immer demütig dankbar seine Hände erhob, wenn man einen Groschen in die Wellblechhütte warf. Auf der Wellblechhütte stand zu lesen: „Komm herüber und hilf uns“ – „Den Armen wird das Evangelium gepredigt“. Noch heute steht dieses Ungetüm in meinem Bücherbord, um mich täglich daran zu erinnern, wie leicht wir das Wort Gottes mit unseren gesellschaftlichen Vorurteilen verwechseln. Damals waren es die „Neger“, heute Atheisten und Muslime – eben alle Heiden.

Die neu eingekehrte Blockwartmentalität in meiner Kirche, die nicht nur bestimmte „christliche“ Standards fordert und evaluiert, sondern deren Nichteinhaltung gleich kirchenleitend meldet, mag vieles sein; eines ist sie sicher nicht: evangelisch.

Es wird Zeit, das wirklich Evangelische neu zu entdecken.


Artikelnachweis: https://www.theomag.de/53/am244.htm
© Andreas Mertin 2008