Stationen der Intimität in Rousseaus La Nouvelle Héloïse

Roland Galle

Die Fokussierung einer großen Leidenschaft, des ‚amour-passion’, ist das Thema des Grand Siècle. Die hohen Tragödien von Racine, aber auch der wegweisende Roman von Madame de Lafayette, La Princesse de Clèves, kennen im Grunde nur diesen einen Gegenstand. Und die jansenistisch geprägte Moralistik umkreist ihrerseits in immer neuen Anläufen die Voraussetzungen, die Modulierungen, die Erscheinungsformen und das Katastrophenträchtige einer alles verzehrenden, auf Besitz oder Vernichtung bedachten Passion, die der Mensch mehr erleidet, als dass er sie zu gestalten oder gar zu genießen vermöchte.

Man wird das 18. Jahrhundert in seiner Eigenheit und in seiner Selbständigkeit gegenüber dem Jahrhundert der Klassik nicht zuletzt dadurch bestimmen können, dass man die in ihm entwickelte ganz neue Formierung von Liebeserfahrung hervorhebt. Natürlich fehlt es auch dem Jahrhundert der Aufklärung nicht an großen Leidenschaften. Sie sind aber mitgeprägt durch Elemente des affektiven Austauschs, der Identifizierung mit dem Gegenüber sowie Formen wechselseitig wirksamer Rücksichtnahme, kurz: durch die Subjektivierung der Leidenschaft. Diese Transformation bringt es mit sich, dass Liebe im 18. Jahrhundert seine monolithische Position einbüßt und nicht mehr ausschließlich an die großen Passionen gebunden ist, sondern auch –und vielleicht sogar bevorzugtermaßen – an sekundären Figurationen ablesbar ist. Als eine solcherart sekundäre Figuration der Leidenschaft wird hier die Intimität gefasst. Wie sehr die Formgebung von Affekten im 18. Jahrhundert umstrukturiert wird, das lässt sich besonders deutlich an der Genese und am sukzessiven Bedeutungsgewinn der Intimität ablesen. Das große Thema kann hier nur spotartig beleuchtet werden. Wir beschränken uns auf einen einzigen Roman und wählen aus diesem Roman wiederum nur eine ganz schmale Sequenz, drei Szenen nämlich, die zwischen der Hauptfigur Julie und einer Nebenfigur, ihrer Cousine Claire, sich abspielen. Die Szenen haben in ihrer bildlichen Stärke und Präsenz ein so großes Eigengewicht, dass sie weitgehend für sich zu sprechen vermögen. Sie gestalten eine Wirklichkeit aus, die der Leidenschaft zwischen Julie und Saint-Preux an die Seite gestellt ist und somit als eine begleitende Nebenstimme zu lesen ist. Diese Nebenstimme aber gewinnt ein so starkes Eigenleben, dass sie bisweilen die Bedeutung einer Hauptstimme zu erhalten scheint, eingeübte Prioritäten jedenfalls aufgelöst werden können.

Beginnen wir mit dem Herzensaustausch, der dem Verhältnis der Freundinnen auch in äußerst prekären Situationen eigen bleibt. Er bringt eine ganz neue Form der Kommunikation zur Welt und wird so vielleicht zum entscheidenden Ermöglichungsgrund von Intimität. Nachdem Julie der Freundin ihr sexuelles Verhältnis zu Saint-Pruex eröffnet hatte, gewinnt deren Entscheidung, das ihr anvertraute Geheimnis zu bewahren, ein äußerstes Gewicht. Gegen die überkommenen und von der institutionell gesicherten Welt des Vaters vertretenen Gesetze der honnêteté tritt die neue Trias l’amitié, la foi, la confiance und fundiert damit als Gegengewicht zur eingetretenen Destabilisierung der alten Normen die Intimität, die über alle Gefährdungen hinweg das Leben der Freundinnen tragen wird. Nicht unwichtig ist dabei, dass Claire nicht mit einem Fanfarenstoß eine neue Zeit verkündet, sondern voller Behutsamkeit ihren Entschluss einführt, signalisiert sie damit doch, dass sie – wie die Freundin – der Wirksamkeit der alten Ordnung nicht verschlossen ist.

Nochmals thematisiert wird dieser geradezu ideale Zusammenhang von erstem Geständnis und weiterer Entfaltung der Freundschaft sehr viel später, wenn Claire – nach Milord Edouards Angebot an Julie, mit Saint-Preux auf einem seiner Landgüter zu leben – ihrer Freundin versichert, dass sie jede von ihr getroffene Entscheidung mittragen werde und in diesem Zusammenhang auf das erste Geständnis Julies ihr gegenüber wieder eingeht:

„Ne lis-tu pas dans mon cœur attendri le plaisir de partager tes peines et de pleurer avec toi? Puis-je oublier que dans les premiers transports d’un amour naissant, l’amitié ne te fut point importune, et que les murmures de ton amant ne purent t’engager à m’éloigner de toi, et à me dérober le spectacle de ta foiblesse? Ce moment fut critique, ma Julie; je sais ce que vaut dans ton cœur modeste le sacrifice d’une honte qui n’est pas réciproque. Jamais je n’eusse été ta confidente si j’eusse été ton amie à demi, et nos ames se sont trop bien senties en s’unissant, pour que rien les puisse desormais séparer.”[1]

In einem Augenblick, in dem das weitere Lebensglück der Freundinnen zur Entscheidung steht, rekurriert Claire auf das Geständnis Julies, mit dem beider Beziehung im Roman überhaupt eingeführt wurde. So ist die Bedeutung dieses Geständnisses durch seinen Stellenwert im Roman, dadurch, dass es von Claire in einer zentralen Lebenskrise wieder aufgegriffen wird und durch die von Claire selbst angesprochenen Folgewirkungen hervorgehoben. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Claire mit der Kommentierung dieses ersten Geständnisses gleichsam die Bedingungen formuliert, unter denen die Beziehung der Freundinnen ihre spätere Form gewinnen konnte. Mit ihrem Geständnis zeigte Julie in der Sicht Claires vor allem an, dass ihr Weltverhältnis nicht auf die murmures des Geliebten eingeengt wurde und ihre aufkommende Leidenschaft die sozialbezogene Affektivität, in die sie hineingewachsen war, nicht einfach zu zerstören vermochte. Somit wird Julies Selbsteröffnung für Claire zum Garanten für die Kontinuität ihrer Freundschaftsbeziehung. Indem Julie ihre Liebeserfahrung als foiblesse offenlegt und eine honte qui n’est pas réciproque nicht scheute, begründete sie eine Herzensbindung, die von Claire als Primat von Freundschaft und Intimität über die Leidenschaft verstanden werden kann.

Befestigen lässt sich diese Interpretation Claires interessanterweise durch einen Brief Saint-Preux’, in dem dieser, mitten in der wechselseitigen Verwirrung über die zunehmende Sinnlichkeit in der Liebe zu Julie aus einer Beobachtung der Freundinnen eines der schönsten Genrebilder des Romans und eine Apotheose der – ihm nicht möglichen und also sentimentalisch gesehenen – Freundschaft macht:

„[…] paisible et pure jouïssance qui n’as rien d’égal dans la volupté des sens, jamais, jamais ton pénétrant souvenir ne s’effacera de mon cœur. Dieux! quel ravissant spectacle ou plutôt quelle extase, de voir deux Beautés si touchantes s’embrasser tendrement, le visage de l’une se pencher sur le sein de l’autre, leurs douces larmes se confondre, et baigner ce sein charmant comme la rosée du Ciel humecte un lis fraichement éclos! J’étois jaloux d’une amitié si tendre; je lui trouvois je ne sais quoi de plus intéressant qu’à l’amour même, et je me voulois une sorte de mal de ne pouvoir t’offrir des consolations aussi cheres, sans les troubler par l’agitation de mes transports. Non, rien, rien sur la terre n’est capable d’exciter un si voluptueux attendrissement que vos mutuelles caresses, et le spectacle de deux amans eut offert à mes yeux une sensation moins délicieuse.” (II, 115)

Über Saint-Preux’ hier nicht zu diskutierende Selbstcharakterisierung hinaus ist wichtig, dass er – wie Claire – an einem Primat der Freundschaft festhält und die Entbundenheit von Sinnlichkeit, von la volupté des sens und l’agitation de mes transports, als eine Zusatzqualität der Freundschaft gegenüber der Liebe behauptet und eben daraus sein Fasziniertsein ableitet. Wie weit Saint-Preux damit zur Stimme Rousseaus wird, das zeigt sich nicht nur anhand vergleichbarer Passagen aus dem Emile[2], sondern in mancher Hinsicht auch im Romanverlauf selbst. Die etwas simple Testfrage zumindest, wer im Leben Julies – wie der Roman es vergegenwärtigt – die wichtigste Person sei, ist nicht so leicht zu beantworten, wie es scheinen könnte. Indem Claire – anders als Saint-Preux – alle Krisen der Freundin begleitet und in allen Krisen ihr die emphatische Nähe bezeugt, die im Roman als vielleicht wichtigster neuer Wert ausgebildet wird, schafft sie mit Julie zusammen ein Bild von gleichsam idealer Zwischenmenschlichkeit, das im Roman nicht wieder perspektivisch relativiert und schon dadurch überhöht wird.

Die Stationen, die dies veranschaulichen, sind äußerst mannigfaltig. Sehr sprechend ist eine Begegnungsszene zwischen den Freundinnen, die Saint-Preux wiedergibt, die er also miterlebt hat und die ihn selbst jedenfalls in eine Nebenrolle drängt. Das Wiedersehen zwischen Julie und Claire – im 6. Brief des 5. Buches – vergegenwärtigt – wird in ein äußerst intensives Bild gefasst, in dem standardisierte Motive der sensibilité, aufklärerische Genrebilder und wohl auch Elemente aus Leonardos Anna Selbdritt in Phantasmen einer Identitätsdiffusion übergehen. Erregte Freude und Mitgefühl durchdringen sich und führen diesen äußersten Gefühlszustand herbei:

„En ouvrant la porte de la chambre, je vis Julie assise vers la fenêtre et tenant sur ses genoux la petite Henriette, comme elle faisoit souvent. Claire avoit médité un beau discours à sa maniere mêlé de sentiment et de gaité; mais en mettant le pied sur le seuil de la porte, le discours, la gaité, tout fut oublié; elle vole à son amie en s’écriant avec un emportement impossible à peindre: Cousine, toujours, pour toujours, jusqu’à la mort! Henriette / appercevant sa mere saute et court au devant d’elle en criant aussi: Maman! maman! de toute sa force, et la rencontre si rudement que la pauvre petite tomba du coup. Cette subite aparition, cette chute, la joye, le trouble saisirent Julie à tel point, que s’étant levée en étendant les bras avec un cri très-aigu, elle se laissa retomber et se trouva mal. Claire voulant relever sa fille, voit pâlir son amie, elle hésite, elle ne sait à laquelle courrir. Enfin, me voyant relever Henriette, elle s’élance pour secourir Julie défaillante, et tombe sur elle dans le même état.” (II, 598 f.)

Verschärft wird dieses Bild der sich überlagernden Körper als Ausdruck einer geradezu existentiellen Nähe durch eine der Schlussszenen des Romans. Sie wird von Wolmar, also dem Ehemann Julies, erzählt. Und zwar wird die Szene erzählt, nachdem Julie gestorben ist. Gegenstand ist, dass Claire – zum Entsetzen Grimms übrigens[3] – schließlich Julies Sterbebett teilt.[4] Der frühere Herzensaustausch wird nun zu einem veritablen Identitätstausch gesteigert. Wolmar gibt die Szene geradezu protokollarisch wieder, wenn er schreibt, dass seine Frau zur Freundin sagt: „[…] mon mal ne se gagne pas, tu ne te dégoûtes pas de moi, couche dans mon lit.“ (II, 710) Die zuvor mehrmals in Bezug auf die Kinder bezeugte Verschmelzung wird am folgenden Morgen zum Merkmal für die Charakterisierung der Freundinnen und ihrer Beziehung selbst werden können:

„Sur l’état où Made d’Orbe étoit la veille,“ schreibt Wolmar rekapitulierend, „je jugeai du desespoir où j’allois la trouver et des fureurs dont je serois le témoin. En entrant je la vis assise dans un fauteuil, defaite et pâle, ou plutôt livide, les yeux plombés et presque éteints; mais douce, tranquile, parlant peu, et faisant tout ce qu’on lui disoit, sans répondre. Pour Julie, elle paroissoit moins foible que la veille, sa voix étoit plus ferme, son geste plus animé; elle sembloit avoir pris la vivacité de sa Cousine.” (Ebd.)[5]

Die Szene des unerwarteten Wiedersehens erweist sich nun als Vorbereitung für diese letzte Begegnung zwischen den Freundinnen. Die Identitätsdiffusion der vorausgehenden Szene ist nun zu einem veritablen Identitätstausch gesteigert. Der aber – und darin dürfte die schreckenerregende Zuspitzung dieses Schlussbildes liegen – ist nur möglich um den Preis des Todes. Vielleicht aber liegt in dieser Anverwandlung einer intimitätserfüllten Freundschaft an den Tod deren äußerste Nobilitierung, usurpiert sie doch mit der Einheit von Liebe und Tod ein Motiv, das bislang dem amour-passion vorbehalten war. Sehe ich recht, so wird man bis zu Proust warten müssen, bevor die nicht-sexuelle Nähe von Menschen wieder eine derart bedrängende Intensität erreichen wird.

Anmerkungen

[1]    Jean-Jacques Rousseau, Julie, ou La Nouvelle Héloïse, in: Œuvres complètes II, Paris 1964, S. 1-745, hier: S. 205.

[2]    „Le prémier sentiment dont un jeune homme élevé soigneusement est susceptible n’est pas l’amour, c’est l’amitié. Le prémier acte de son imagination naissante est de lui apprendre qu’il a des semblables, et l’espéce l’affecte avant le séxe. Voila donc un autre avantage de l’innocence prolongée; c’est de profiter de la sensibilité naissante pour jetter dans le cœur du jeune adolescent les prémiéres semences de l’humanité.” (J.-J.R., Emile ou de l’éducation, in: Œuvres complètetes, IV,Paris 1969, S.239-868, hier: S. 502)

[3]    „La meme Cause qui ôte La gentilesse et La delicatesse aux petits details, produit quelquefois dans d’autres, des choses dégoutantes. Qu’en dis tu, Cousine, dit Julie à Claire, pendant sa derniere maladie, mon mal ne se gagne pas; tu ne te degoute pas de moi, couche dans mon lit. … cela est horrible.” (Leigh-Corr, VIII, S. 348)

[4]    Unterstrichen wird die Bedeutung der so verbildlichten Nähe der Freundinnen noch durch die Exklusion Wolmars: „Pour moi, l’on me renvoya, et véritablement j’avais besoin de repos.“ (II, 710)

[5]    Vgl. dazu: „Quand j’embrasse ta fille; je crois te presser contre mon sein. Nous l’avons dit cent fois; en voyant tous nos petits Bambins jouer ensemble, nos cœurs unis les confondent, et nous ne savons plus à laquelle appartient chacun des trois.” (II, 400) Entsprechend auch: II, 601 und II, 691.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/53/rg1.htm
© Roland Galle, 2008