Ein frühes Spät-Werk

Henri Matisse

Die Chapelle du Rosaire von Henri Matisse in Vence

Andreas Mertin

BuchlogoWenige Kapellen sind im 20. Jahrhundert als so wegweisend und neue Perspektiven erschließend empfunden worden wie die von Henri Matisse gestaltete „Chapelle du Rosaire“ in Vence. Und nur wenige der vielen ausgezeichneten Künstlerkapellen des 20. Jahrhunderts wirken heute am Beginn des 21. Jahrhunderts noch so dem 20. Jahrhundert verhaftet wie diese Kapelle. Das liegt zum einen natürlich daran, dass bei dieser Kapelle der persönliche Anteil des Künstlers so groß ist. Und es liegt daran, dass Matisse mit seiner künstlerischen Lösung auch innerkirchlich so überzeugend wirkte, dass man sich an seiner Gestaltung ein Vorbild nahm. Heute wirkt daher das Bildprogramm weniger verstörend oder irritierend, als vielmehr auf eine ganz bestimmte Weise vertraut.

Matisse selbst hat in seinen Notizen geschrieben, dass er sich 1947 „zunächst aus freundschaftlichen Gefühlen für die Schwester, die ihn pflegt, dann aufgrund des immer tiefergehenden Interesses für die Sache in den Kopf gesetzt (habe), die Glasmalereien, zwei Altarbilder und den Leidensweg Christi zu gestalten.“[1] Auf Bitten von Matisse wird der französische Architekt Auguste Perret zur architektonischen Beratung herangezogen. Die Darstellungen von Matisse zeigen zum einen den Hl. Dominikus, zum anderen Maria mit Kind und schließlich einen Kreuzweg. „Bei allen drei Wandbildern handelt es sich um schwarze Tuschezeichnungen auf weißen Keramikfliesen, die Figuren werden allein von der reinen Umrisslinie geformt und Matisse verzichtet weitgehend auf eine Heraushebung von physiognomischen Details.“[2]

1950 schreibt Henri Matisse zusammenfassend in einem Brief an Pater Couturier:

Der Leidensweg ist beendet. (...) Es handelt sich nicht mehr um den Prozessionsweg der Vorzeichnung, sondern um eine Art großes Drama, in dem  die  Szenen  zwar  immer eine  Zahl  tragen,  jedoch  ineinander übergehen, ausgehend von Christus am Kreuz, der eine Traumdimension angenommen hat - wie die ganze übrige Tafel.  Dazu hat mich ein unnachgiebiges Bewußtsein der Verzeichnung geführt, die an der Wand hängt. Ich fürchte, daß diese Tafel nur schwer akzeptiert werden wird, denn sie entspricht nicht ganz der Vorstellung der Gläubigen von Vence - für die die Photographie die unüberschreitbare Vollendung darstellt. Ich werde trotzdem diese Tafel brennen lassen - denn sie ist endgültig. Es geht ein dramatisches Gefühl von ihr aus. Der Leidensweg ist hier ähnlich angelegt wie auf den bretonischen Kalvarienbergen. Für mich ist das ein bedeutendes Resultat, das Werk ist hart, sehr hart sogar und mag die meisten, die es sehen werden zur Verzweiflung bringen. Gott hat mir die Hand geführt – was kann ich da tun’ mich beugen – aber die anderen wissen davon nichts.“[3]

Das Ergebnis ist für die damalige Zeit sicher etwas Außergewöhnliches. Die konsequente Gestaltung einer Kapelle aus einer künstlerischen Hand mit einer konsequenten Formensprache. Anders als es Mark Rothko Ende der 60er-Jahre dann machen wird, verzichtet Matisse in dieser katholischen Künstlerkapelle nicht auf die christliche Ikonographie, sucht ihr aber konsequent eine neue Form zu geben, wobei einige der Gestaltfindungen auf spätere Bildlösungen wie etwa von Keith Haring vorwegweisen.



[1]    Zit. nach Mann, Stephen (1996): Von Matisse bis Mack. Die Künstlerkapelle im 20. Jahrhundert /. Frankfurt am Main: Lang (Europäische Hochschulschriften, 276), S. 18.

[2]    Stephen Mann, a.a.O., S. 21

[3]   zit. nach Stephen Mann, a.a.O., S. 25ff.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/54/am249.htm
© Andreas Mertin, 2008