Säkulare Spiritualität

Eine Matrix über innere und äußere Räume heute

Jörg Mertin

Spirituelle Räume sind einerseits intrapsychische Orte, andererseits materielle Orte in der äußeren Realität. In ihnen und da, wo sie zusammenkommen, ereignen sich Übergänge und Verbindungen zwischen Materie und Geist, Immanenz und Transzendenz. Unterstützend dafür können Regeln, Traditionen, Gemeinschaften sein.

Materielle Orte sind in dieser Hinsicht traditionelle Kirchenräume, Kapellen, Räume der Stille, der Meditation, der Ruhe, Abschiedsräume, ja auch Orte, die als offene Räume außerhalb von Gebäuden liegen. Wenn ich die Entwicklung richtig beobachte, haben die Zahl solcher Räume, die Vielfalt ihrer Gestalt und die Unterschiedlichkeit ihres speziellen räumlichen Kontextes zugenommen. Es gibt eine Tendenz zum räumlich-örtlichen Ausdruck spiritueller Bedürfnisse durchaus unterschiedlicher Art. Der Vervielfachung auf dieser Ebene entspricht eine Auflösung der Bestimmtheit des Begriffs der Spiritualität, der seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts über die katholische Kirche hinausging und in anderen Konfessionen, Religionen und auch außerhalb der Religionen in der Esoterik und in den Übergangen zwischen diesen Phänomenen selbstverständlich wurde.

Zwischen den äußeren und den inneren Räumen, also den spirituellen Bedürfnissen, gibt es indirekte Beziehungen, jedoch gibt es keinen präzisen, unverwechselbaren räumlichen Ausdruck eines bestimmten spirituellen Bedürfnisses. Die Parallelität der Vervielfältigung ist jedoch kein Zufall, sondern beide Entwicklungen entstehen vermutlich, weil die materielle Orientierung der westlichen Gesellschaften Leerstellen an Sinn und tiefgreifende Verunsicherungen hervorruft und spürbar werden läßt, die Reflexion und Vergewisserung verlangen. Weil unsere Gesellschaften zu laut sind, brauchen Menschen Räume der Stille, und weil alles zu schnell geht, werden Orte der Unterbrechung, Verlangsamung und Besinnung ersehnt. Wir erleben eine Protestbewegung gegen die Eindimensionalität und für die grundlegende Polarität von Leben zwischen Immanenz und Transzendenz, Materiellem und Geistigem.

Der innere Raum verändert sich. Ob neuere spirituelle Bedürfnisse mittels der traditionellen Spiritualität befriedigt werden können, ist offen, aber eher fraglich. Traditionelle Spiritualität im Rahmen der katholischen Kirche war lange Zeit eine spezifische Frömmigkeit, die grundsätzlich an die soziale Figur einer Kommunität gebunden war und sich im Rahmen der Orden durch die Befolgung von Regeln auszeichnete. Während Frömmigkeit eher die allgemeine Weise, christlich zu leben, bezeichnete, war Spiritualität im beschriebenen Sinne ein elitäres Phänomen. Diese Spiritualität hat im 20. Jahrhundert auch im protestantischen Bereich in den evangelischen Kommunitäten Nachfolger gefunden.

Demgegenüber individualisieren sich heute die inneren Räume, melden sich vielfältige spirituelle Bedürfnisse, die sich ihre eigenen Ausdrucksformen und manchmal auch Regeln suchen.

Konkrete Beanspruchungen innerer Räume finden vor allem in Krisenerfahrungen und lebensbedrohenden Situationen statt. Das ist vor allem in den USA lange bereits wahrgenommen. Im amerikanischen Gesundheitswesen wird seit vielen Jahren der Begriff „spiritual needs“ als anthropologischer Konzeptbegriff verwendet. Man geht dort von der Beobachtung aus, dass jeder Mensch, gleich welcher Glaubensrichtung er angehört und auch wenn er sich außerhalb jeder Religion verortet, ein Bedürfnis nach innerer Vergewisserung jenseits materieller Dimensionen haben kann. In Deutschland ist das insbesondere in der Psychoonkologie, der psychischen Betreuung von Krebspatienten aufgegriffen worden. Zwar lassen sich diese spirituellen Bedürfnisse nicht selten mittels traditioneller Formen befriedigen, deswegen ist das Angebot dieser Formen notwendig. Aber dies gilt keineswegs generell. Ich möchte angesichts dieser Beobachtungen von säkularer Spiritualität sprechen, die sich vorwiegend unabhängig von der Tradition ausdrückt. Nur aus traditioneller Perspektive liegt darin ein Widerspruch, als ob Spiritualität gebunden sei an religiöse Ausdrucksformen. Einer säkularen, weltlichen Spiritualität geht es natürlich weniger um die geistliche, aber dennoch um die nichtmaterielle, die geistige Dimension des Seins.

Im konkreten Fall, also im Kontakt etwa mit einem einzelnen Patienten bedeutet Spiritualität, ihn darin zu unterstützen, angesichts einer durch die Krankheit drohenden Erschütterung und Fragmentierung seiner Lebensorientierung zu einer Integration des Geschehens in seine Persönlichkeit zu gelangen, wieder Kohärenzgefühl für sein Leben zu erreichen und somit seinen inneren Raum zu stabilisieren. Die Formen, die ihm dabei helfen können, müssen dabei sorgfältig mit ihm zusammen probiert und entwickelt werden.

Intrapsychische Räume als Übergangsorte zwischen Geist und Materie weisen also inzwischen sehr unterschiedliche Formen von Spiritualität auf, angefangen von ganz individuellen bis hin zu gemeinschaftsgebundenen Formen gemäß bewährten Traditionen. Je weiter diese Formen von Traditionen entfernt sind, desto säkularer erscheinen sie. Parallel haben sich auch äußere Räume als Übergangsorte zwischen Geist und Materie diversifiziert. Es gibt gefüllte Räume mit konkreten, symbolischen Angeboten aus den Traditionen, und es gibt leere Räume für solche Übergänge, die gerade durch das Fehlen von Symbolen Möglichkeiten der Füllung in je neuen konkreten Begegnungen und Kontakte zwischen Immanenz und Transzendenz eröffnen. Zu den letzteren gehören sowohl die leeren Räume der Kirchen reformierter Prägung wie der white cube der Museen für zeitgenössische Kunst.

Innere und äußere Räume korrespondieren auf den ersten Blick homogen, sofern sie aus ähnlichem Ursprung entstehen. Traditionelle Spiritualität scheint leichter in Räumen aufzuleben, die geprägter Religiosität entsprechen. Tendenziell eher säkulare Spiritualität hat an sich keinen entsprechenden äußeren Raum, es sei denn die Natur. Vielleicht beschreibt diese Zuordnung aber nur den aüßeren Anschein. Ich sehe eine Aufgabe der zeitgenössischen Kunst, die in sich bereits in jedem Werk konkreter, gearbeiteter intermediärer Raum zwischen Materie und Geist ist, darin, den individuellen Formen säkularer Spiritualität räumliche Korrespondenzen zu erschaffen. Gemeint sind Räume in Gebäuden, als Gebäude und unter freiem Himmel, denen eine Aura des Übergangs zukommt, in der Materie sich mit Geist und Geist sich mit Materie verbindet, Tradition mit Säkularität auseinandersetzt und verbindet. Als Beispiel nenne ich Thierry de Cordiers Kapelle des Nichts in Belgien.

Sie ist als Gesamtensemble zu verstehen. Das Religiöse ist in der Form der anbetenden Figur ausserhalb, bleibt vielleicht auch äusserlich. Konventionelle Spiritualität ist getrennt vom säkularen Inneren, beides aber bleibt aufeinander bezogen. Die Spiritualität des Säkularen ist leer, frei und zu besetzen. Das Ensemble konstelliert den möglichen Ursprung ganz individueller Geschichten, in denen Innen und Außen, Raum und Seele, Transzendenz und Immanenz miteinander in Beziehung treten.

Was zu entdecken und zu entwickeln wäre, ist die Korrespondenz zwischen innerem und äußerem Raum, sind Übergänge und Verbindungen zwischen traditioneller und säkularer Spiritualität, innen und außen. Denn in allen Unterschiedlichkeiten und auch in der fast leeren Entfernung voneinander äußert sich das geistig-materielle Kontinuum des einen Lebens.

Literatur
  • Artikel Spiritualität, Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Band 7, Sp. 1589-1599.
  • wikipedia, Art. Spiritualität deutsch/französisch/englisch/italienisch

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/54/jm7.htm
© Jörg Mertin, 2008