Zur theologischen Bedeutung des Kirchenraumes

Ein Foto aus dem Bürgerkrieg

Eine Auseinandersetzung

Andreas Mertin

Info Andreas MertinDer Theologische Beirat der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche hat im September 2008 eine Stellungnahme vorgelegt, die sich mit der „theologischen Bedeutung des Kirchenraums“ beschäftigt. Das ist zu begrüßen, denn endlich gibt es auch in kirchenleitender Perspektive eine Stellungnahmen zur Frage dessen, wie wir religiöse Räume theologisch beurteilen können. Bisher war es ja in aller Regel so, dass bei kirchlichen Stellungnahmen irgendein diffuser und nicht weiter begründeter Raumbegriff zugrunde gelegt wurde, der dann gegen alle Säkularisierung, Umwidmung, Missnutzung etc. verteidigt wurde. Nun gibt es ein Papier, dass orientiert an der lutherischen Lehre, Präzisierungen vornimmt.

Im nordelbischen Papier werden zunächst vier Positionen innerhalb der deutschen Theologie skizziert, die sich in unterschiedlichen Perspektiven mit dem Kirchenraum beschäftigt haben (Josuttis, Mertin, Schwebel, Gräb), um dann in Anknüpfung und Widerspruch eine eigene Position zu akzentuieren. Das Papier entwickelt vorab eine Kriteriologie, um die vier verschiedenen Ansätze besser einordnen zu können. Dazu gehört die Haltung

  • zur ontologischen Heiligkeit des Raumes;
  • zur Bedeutung der historischen Erfahrungen des Raumes;
  • zur Erfahrbarkeit Gottes außerhalb von Wort und Sakrament;
  • zur Bedeutung des Individuums und der Gemeinde.

Es stellt sich freilich die Frage, ob diese Kriteriologie trennscharf ist.

  • Sie ist es wahrscheinlich im Blick auf den ersten Punkt, der ontologischen Heiligkeit des Raumes. Hier stehen Schwebel, Gräb und Mertin für die dezidierte Ablehnung einer ontologisch gegebenen Heiligkeit des Raumes, während Josuttis eher daran festhalten möchte. Die Autoren des Papiers verschenken freilich diese Trennschärfe, weil sie die Positionen meines Erachtens falsch zuordnen: In der Übersicht des Papiers wird Josuttis nämlich unter jener Position rubriziert, die gegen eine ontologische Heiligkeit des Raumes eintritt. Das dürfte unzutreffend sein. Gräb dagegen wird mit ‚ja/nein’ eingeordnet, was ebenso falsch sein dürfte, denn er bestreitet entschieden die ontologische Heiligkeit von Räumen und sieht diese allenfalls in der Rezeption bzw. ihrer Gestaltwerdung gegeben.
  • Keine Trennschärfe entwickelt sich im zweiten Punkt und zwar deshalb, weil auch hier die Positionen falsch bestimmt sind. Ich vertrete durchaus die Position einer generellen Bedeutung der historischen Erfahrungen eines Raumes, ich bestreite sogar, dass es ohne diese geht. Das wird in dem bereits 1999 publizierten Text zur Kirchenpädagogik „Kirche als Jurassic Park“ deutlich, in dem ich pointiert mit der Vorstellung einer unmittelbaren Verstehbarkeit und Erfahrbarkeit von Räumen abrechne. Alle Gebete und Handlungen in einem religiösen Raum gehören zu dessen „unentrinnbarem Horizont“, hier vertrete ich die gleiche Position wie Horst Schwebel und vermute zumindest im Blick auf Wilhelm Gräb, dass er das ähnlich sieht. Zuletzt habe ich dies 2008 im Aufsatz „Raum-Lektüren“ im Magazin für Theologie und Ästhetik betont: Räume werden uns „religionsbiographisch inkorporiert“ heißt es dort. Wer die Position vertritt, die Geschichte eines Raumes stehe in keinem Verhältnis zur aktuellen Bedeutung und Wahrnehmung, vertritt meines Erachtens eine nicht nachvollziehbare Position. Maurice Halbwachs hat dies in seinem Buch „Das kollektive Gedächtnis“ hervorgehoben, denn „der Ort, an dem eine Gruppe lebt, ist nicht gleich einer schwarzen Tafel, auf der man Zahlen und Gestalten aufzeichnet und dann auswischt“.
  • Beim dritten Punkt der Verortung der Spuren Gottes sehe ich den (lutherischen?) Versuch, eine Differenz aufzubauen, wo keine ist. Da ich – wie das Papier zu Recht schreibt – kommunikationstheoretisch argumentiere, ist es gar nicht möglich, dass ich in einem substantialistischen Sinne überall in der Welt Spuren Gottes sehe würde. Als reformiertem Theologen ist mir das schon im Gefolge der ersten These der Barmer Theologischen Erklärung unmöglich. Aus meiner Auseinandersetzung mit der so genannten Bilderpredigt aus dem Jahr 1991 („Homiletik unter dem Bilderverbot“) wird deutlich, dass ich keineswegs der Meinung bin, „dass es jenseits der einen Offenbarung in Christus noch andere Arten der Offenbarung gibt.“ Insofern ist meine Rubrizierung an dieser Stelle unzutreffend, ich bin und bleibe Wort-Gottes-Theologe. Ich hatte seinerzeit zugleich auf Reflexionen von Eilert Herms verwiesen, der vorgeschlagen hat, das Medium der Offenbarung als "szenische Erinnerung" zu beschreiben. Die Kirche lebt danach "von der Kraft und im Medium der Sprache derjenigen Bilder, die sie an jenes elementare Bild der erschienenen Wahrheit erinnern." Es geht also nicht um Spuren Gottes, sondern um Phänomene, die uns auf ihn verweisen.
  • Der vierte Punkt ist nun ebenso wenig trennscharf, denn die vorgenommene Gegenüberstellung von Individuum und Gemeinde ist im Blick auf die skizzierten Positionen nicht aussagekräftig. Weder ich noch Wilhelm Gräb stehen für eine individualistische Position. Dezidiert heißt es in meinem dem Papier zugrunde liegenden Text: „vielleicht ist es auch eine zu peinliche Frage, wer denn die handelnden Subjekte beim Entscheidungsprozeß kirchlicher Raumgestaltung sind bzw. sein sollten. Solange aber die realen Interessen und Wünsche der Kirchenmitglieder(sic!) keine Rolle spielen, … lautet mein allgemeiner Verdacht, dass in Fragen des Kirchen(um)baus und der Raumgestaltung immer noch die alte Asymmetrie von Priestern und Laien vorherrscht“. Und ganz deutlich abschließend: „Festzuhalten ist also, dass nicht die Theologen und auch nicht die Architekten die Subjekte kirchlicher Gestaltung sind, sondern die gesamte Gemeinde.“ Wie man daraus schließen kann, dass in meinem Konzept die Gemeinde irrelevant wird, ist mir, um es anspielungsreich zu sagen, schleierhaft. Offenkundig identifiziert das Papier „Gemeinde“ mit „Gemeindevertretern“. Hier würde ich tatsächlich protestieren: Gemeindeleitung und Gemeinde sind höchst unterschiedliche Dinge.
         Was mir an diesem Punkt besonders aufgefallen ist, und was gerade auch in der kritischen Beurteilung der Position von Wilhelm Gräb durch das Papier deutlich wird, ist das mangelnde Verständnis dessen, was „ästhetisch“ eigentlich bedeutet. Es ist ja gerade eine der großen Leistungen Immanuel Kants, darauf hingewiesen zu haben, dass ästhetische Erfahrung trotz aller subjektiven Genese eine soziale Grundierung hat: „es muss damit ein Anspruch auf subjektive Allgemeinheit verbunden sein“ heißt es in der „Kritik der Urteilskraft“. Es geht also nicht um Individualismus, sondern um den gerade im Ästhetischen sich vorbildlich vollziehenden intersubjektiven Anspruch. Aus dem gleichen Grunde ist es völlig unsinnig, Gräb zu unterstellen, bei ihm würden Architekten, Bildhauer, Maler, Lichtgestalter zu „Vermittlern der Präsenz Gottes“ und erhielten „quasi-sakramentale Bedeutung“. Wilhelm Gräb ist viel zu sehr an der Ästhetik des Deutschen Idealismus geschult, um derartige substantialistische Missverständnisse zu vertreten. Statt dessen schaffen Architekten, Bildhauer, Maler Gegenstände und Anlässe, an denen wir entsprechende Erfahrungen machen können.

Schaut man sich nun die conclusio des Papiers an, spürt man eine gewisse Unsicherheit, die sich nicht zuletzt in der Begriffswahl äußert.

  • Der erste Satz „Es gibt keine per se ‚heiligen Räume’ - trotzdem gibt es Räume, die als ‚heilig’ erlebt werden“ ist so wahr wie unwahr. Selbstverständlich gibt es „per se heilige Räume“ – alles andere hieße Millionen von Menschen und zahlreichen Religionen ihre Erfahrung und ihre religiöse Lehre zu bestreiten. Nur in christlicher Perspektive spielt das ontologische Modell seit der Moderne zunehmend keine Rolle mehr. Aber Mircea Eliade verweist zu Recht darauf, dass dieses Modell auch im Christentum über Jahrhunderte gegolten hat. Letzterer hat auch darauf verwiesen, dass zur Erfahrung der Heiligkeit eines Ortes die Vertikalität der Raumerfahrung (also ihr Widerfahrnischarakter) gehört und er hat deshalb entschieden bestritten, dass heutige Menschen zur Erfahrung heiliger Räume auch nur fähig sind. Ich habe deshalb vorgeschlagen, statt dessen präziser von religiösen Erfahrungen zu sprechen, weil dies besser zu den Erfahrungsformen der Menschen seit der Moderne passt, weil er die Konstruktivität der Räume mit einbezieht.
  • Der zweite Satz („Ein Raum verändert sich nicht ontologisch dadurch, dass in ihm Menschen gebetet haben“) ist verwirrend. Natürlich ändert sich ein Raum nicht ontologisch dadurch, dass in ihm gebetet wird – aber er verändert sich doch, z.B. in einem performativen Sinne. Alles andere wäre meines Erachtens ebenso sprach- wie erkenntnistheoretisch unaufgeklärt. Die Formulierung „Dies ist ein religiöser Raum“ ist nicht ohne Folgen für die Wahrnehmung und die Realität des Raumes. Auch der Satz „In diesem Kerker habe ich gebetet“ verändert dessen Wahrnehmung und Realität.
  • Der dritte Satz, dass nur Predigt und Sakrament Spuren Gottes sein können, ist eben genau das: eine Setzung. Sie widerspricht der theologischen Erkenntnis, dass es auch wahre Worte Gottes extra muros ecclesiae geben kann, wenngleich sie nichts anderes verkündigen können. Hier wäre daher die Einführung der Terminus „Wort Gottes“ an Stelle von „Spuren Gottes“ wesentlich hilfreicher gewesen. Auf der anderen Seite ist die Rede von der „Predigt der Steine“ (Christian Möller) vorrangig eine lutherische Formel, die bis heute auch in Hamburg in Gebrauch ist. Gerade davon hätte sich das Papier dezidiert absetzen können.
        Im dritten Satz kommt nun zugleich das Wort von den „ästhetischen Akzidentien“ des Raumes vor. Ich hätte nicht gedacht, dass man seit Albrecht Grözingers Habilitation über Praktische Theologie und Ästhetik im Jahre 1986 noch so über die Gestaltwerdung der Kirche reden kann. Es geht um die Verwendung des Wortes „Akzidens“ in seiner notwendig im Wort liegenden Gegenüberstellung zur „Essenz“. Bloß „akzidentiell“ ist ja die Konnotation, die mitschwingt. Die ästhetische Gestalt ist aber essentiell, insofern es keine Verkündigung ohne ästhetische Gestalt gibt. Und die Gleichnislehre des 20. Jahrhunderts zeigt uns, dass gerade die besondere ästhetische Gestalt kein Akzidens, sondern eine Essenz der jesuanischen Verkündigung ist: "Auch die Parabel Jesu gibt sich als ästhetisches Objekt zu erkennen. Sie ist ein poetisches Kunstwerk: die Miniaturausgabe eines in Erzählung gefassten Bühnenstücks mit stilisiertem Handlungsgefüge und eigenwilliger Figurenanordnung" (Wolfgang Harnisch).
  • Im vierten und letzten Punkt vollzieht das Papier nun eine Begriffsvariation, indem es nun vom „kirchlichen“ Raum spricht. Dieser kirchliche Raum werde nicht von einzelne Individuen, sondern durch das Leben der Gemeinde in ihm konstituiert. Das ist insofern unscharf, als nach Mt 18, 20 überall, wo zwei oder drei in Jesu Namen in Gemeinsamkeit zusammenkommen, er mitten unter ihnen ist. Allenfalls die Kirche (und nicht der kirchliche Raum) wird durch das Leben der Gemeinde konstituiert. Religiöse Räume können selbstverständlich von Einzelnen konstituiert werden, die Geschichte des Judentums wie des Christentums ist voll davon. Sie können es freilich nicht ohne Bezug auf die Traditionen und Erfahrungen anderer, denn bei Räumen handelt sich ja immer um Ab-Grenzungen. Nicht nur in der Moderne finden wir übrigens eine Fülle von kirchlichen Räumen, die für individuelle Nutzung geschaffen wurden.

Die abschließenden Erwägungen zur Anwendung finde ich persönlich als unzureichend. Sicher kann man aus dem zuvor Geschriebenen Schlussfolgerungen für die Entwidmung von Kirchen oder für das Aufstellen von Photovoltaikanlagen auf Kirchen ziehen. Aber das ist doch letztlich nur Kasuistik. Hier hätte ich mir theologische Schlussfolgerungen z.B. für den interreligiösen Dialog gewünscht oder Stellungnahmen dazu, was in Kirchen stattfinden kann und was nicht. Vor allem hätte es eine Besinnung darauf geben müssen, in welcher Differenz die theologischen Besinnungen und Bestimmungen zur volkskirchlichen und kerngemeindlichen Bestimmung des kirchlichen Raumes stehen. Unlängst kam mir eine Stellungnahme eines Superintendenten vor die Augen, der allen Ernstes im Sinne der mittelalterlichen Dingmagie die Ansicht vertrat, ohne Kreuz, ohne Blumen etc. sei ein Raum kein christlicher Raum. Die Gemeinde spielte da keine Rolle. Diese Form der Dingmagie ist es, mit der man sich viel entschiedener in der evangelischen Kirche aufklärerisch auseinander setzen müsste. An dieser Stelle wäre jede kommunikationstheoretische Verflüssigung ein Gewinn.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/55/am260.htm
© Andreas Mertin, 2008