Dezember 2008

Liebe Leserinnen und Leser,

„Kunst ist Gemeindebildung durch Differenzerzeugung“ meinte Bazon Brock 1992 einleitend in seiner Video-Besucherschule zur documenta IX. Die Abweichung ist das Charakteristische des Betriebssystems Kunst und das nicht erst seit Baudelaires Bevorzugung des Neuen in der Kunst. Sich mit Kunst auszukennen, hieß immer schon, Unterscheidungen vornehmen zu können, hieß, Wahrnehmung von Differenzen benennen zu können.

Nun kann man auf empirischer Ebene dasselbe über die christlichen Gemeinden sagen, denn selten herrschte unter Christen Einigkeit – Petrus und Paulus sind ein gutes Beispiel dafür. Nach deren eigenem Selbstverständnis ist aber Einheit und Harmonie das Ziel. Wer die Einheit und Harmonie stört, ist ein Störenfried, ein Friedensstörer, ein Dissident. Noch das neudeutsche Wort von der „versöhnten Verschiedenheit“ hat einen schalen Beigeschmack, weil es im Umkehrschluss Verschiedenheit mit der Notwendigkeit der Versöhnung verbindet. Danach ist Verschiedenheit an sich Sünde, die der Sühne bedarf. Dass Verschiedenheit, dass Abweichung und Differenz an sich auch einen positiven Wert darstellen kann, wird so verwischt.

Dissidenten, das wird im Rahmen dieses Heftes des Magazins für Theologie und Ästhetik deutlich, bilden eigentlich so etwas wie die institutionalisierte Opposition in größeren Systemen. Nur in totalitären Systemen werden sie ausgeschlossen und ausgegrenzt. Dissidenz und Differenz sind für freiheitliche Systeme lebensnotwendig, weil sie Handlungsalternativen und neue Sichtweisen bereit stellen. Man kann am Umgang mit Differenz und Dissidenz den Zustand eines Systems beurteilen. Dass die Geschichte der Kirche bis in die Gegenwart immer auch als eine des Ausschlusses von Dissidenten und des Differenten geschrieben werden kann, stimmt nachdenklich. Dass Menschen, die in religiösen Fragen einfach eine andere Sichtweise haben oder andere Schwerpunkte setzen, ausgegrenzt werden oder als Menschen von außerhalb der Kirche betrachtet werden, ist immer noch traurige Normalität. Das gilt auch für die Verortung der Kunst in der Kirche. Diese ist etwas von außerhalb der Kirche und sie wird innerhalb der Kirche eingesetzt, um Menschen von außerhalb der Kirche in die Kirche zu locken. Das nennt man dann missionarische Kulturarbeit. Grundlegend ist aber das Verständnis, dass Kunst nicht eine Differenz im kirchlichen System darstellt (also einen Arbeitsschwerpunkt), sondern eine Differenz zum System bildet.


Wir haben für Sie eine Palette unterschiedlicher Beiträge zum Heftthema versammelt, die zum Teil an Überlegungen früherer Ausgaben anknüpfen, zum Teil auf aktuelle Ereignisse eingehen.

Unter VIEW finden Sie einen Aufsatz von Andreas Mertin über die Ruine als Differenz, der noch einmal die differenten Betrachtungs- und Gestaltungsformen des religiösen Raumes an einem konkreten Beispiel beleuchtet. Hinzu kommt aus gleicher Feder eine Auseinandersetzung mit den jüngst verabschiedeten Dortmunder Denkanstößen des Evangelischen Kirchbautages. Jörg Mertin knüpft mit seinen Überlegungen zur „Angst der Kirche vor der Gegenwart“ an Ausführungen an, die er Anfang 2001 im Magazin für Theologie und Ästhetik publiziert hatte. Unter dem Stichwort „Nachgelesen“ drucken wir zwei Texte von Horst Schwebel ab, die einen Eindruck geben von der fortdauernden Differenzdiskussion von Kunst und Kirche: War 1978 die Autonomie das Differente und Abzuwehrende, so war es 10 Jahre später der Wahrheitsanspruch der Kunst. Beide Texte haben eine unverminderte Aktualität.

Unter RE-VIEW gibt es Rezensionen und zwar von Andreas Mertin und Christoph Fleischer und eine Ausstellungsbesprechung von Jörg Mertin.

Unter POST werden zur Vergegenwärtigung einer langen historischen Entwicklung Lexikaartikel der letzten 150 Jahre zum Stichwort „Dissidenten“ zusammengetragen und ein Lexikonartikel des Deutschen Staatswörterbuchs von 1858 aus der Feder von Emil Herrmann abgedruckt.


Mit herzlichen Grüßen

Andreas Mertin, Horst Schwebel und Karin Wendt