Dissidenten

Deutsches Staatswörterbuch

E. Herrmann


Anmerkung der Redaktion:
Der folgende Text zum Stichwort 'Dissidenten' stammt aus dem Deutschen Staatswörterbuch aus dem Jahr 1858. Er ist deshalb bemerkenswert, weil er einerseits noch ganz in der Frage der religiösen Differenz verbleibt und andererseits bereits die grundsätzlichen Implikationen der Abweichung bedenkt. Verfasser ist der ev. Kirchenrechtler Emil Herrmann. Der Text ist weitgehend an die heutige Rechtschreibung angepasst worden.


E. Herrmann: Artikel Dissidenten in: Deutsches Staatswörterbuch, herausgegeben von Johann Caspar Bluntschli, Karl Ludwig Theodor Brater – 1858

Dissidenten

Der Begriff der Dissidenten gehört einer bestimmten Entwicklungsstufe des Verhältnisses des Staats zu den christlichen Religionsgemeinschaften an. Er setzt voraus, dass der Staat einerseits zwar an keinem exklusiven Staatskirchentum festhalte, vielmehr auch andern Bekenntnissen eine genossenschaftliche Religionsfreiheit gestatte, andererseits aber doch die volle Anerkennung auf dem Boden des öffentlichen Rechts und die Ausstattung mit einer politisch bevorzugten Stellung einer bestimmten Kirche oder auch bestimmten Kirchen vorbehalte (Landeskirchen), deren Religionsübung als die herrschende Regel, und wovon die Abweichung als eine – mehr oder weniger Beschränkungen unterliegende – Ausnahme behandelt wird.

Zwar könnte man nach dem Wortsinne des lateinischen dissidere mit dem Namen der Dissidenten Alle belegen, welche nur das negative Merkmal der Abtrennung von der, in einem bestimmten Lande normalen, christlich-religiösen Gemeinschaftsform mit einander gemein haben, auch wenn diese Abtrennung durch Staatsgesetz verboten, und deshalb auch ihre genossenschaftliche Darstellung unerlaubt oder selbst strafbar sein sollte. Allein es hat ein wohl allgemeiner Sprachgebrauch darüber entschieden, dass zu jener Abtrennung auch das positive Merkmal ihrer staatlichen Zulassung hinzutreten muss.

Und dabei kann dann wieder eine große Menge möglicher Abstufungen von der bloßen Duldung bis zu einer relativen, jedoch immer unter der Linie der Landeskirche bleibenden öffentlichen Anerkennung und Förderung vorkommen, — Abstufungen, welche von der effektiven Bedeutung der abweichenden Religionsgemeinschaften, der Dauer ihres Bestandes, der relativen Ausbreitung, den Leistungen für das religiöse Leben und die sittliche Kultur der ihnen angehörenden Volksbestandteile abhängen werden.

Dagegen ist für den Begriff des Dissidentismus die Stellung gleichgültig, welche die dissidentischen Gemeinschaften in der christlichen Religionsgeschichte einnehmen, ob sie in der letzteren, also gemessen am religionsgeschichtlichen Maßstäbe, als eigentliche Kirchen oder als Sekten sich darstellen. Denn ebenso wie eine (religionsgeschichtliche) Kirche in Folge der besonderen Entwicklung eines einzelnen Volkes und Staates von der landeskirchlichen Stellung ausgeschlossen sein kann (z. B. die griechische), ebenso ist es von der andern Seite möglich, dass in Folge dieser Entwicklung eine bloße (religionsgeschichtliche) Sekte sich allein der öffentlichen Anerkennung und Förderung erfreue, und die Anhänger der Kirche sich politisch in der Lage von Dissidenten befinden. Man kann daher innerhalb des Dissidentismus wieder Dissidenzkirchen und dissidirende Sekten unterscheiden.

Die eigentliche Geschichte des Dissidentismus beginnt erst nach der Kirchenreformation. Freilich war schon im Mittelalter die Möglichkeit desselben seit der Spaltung der Kirche in die griechische und die römische gegeben, und in den wenigen Beispielen einer Staatsbildung, welche Bevölkerungsbestandteile von beiden Kirchen umfasste, lassen sich denn auch die Anfange oder Vorläufer einer staatlichen Behandlung der einen Kirche als Dissidenzkirche wahrnehmen. Allein diese Beispiele sind doch im Mittelalter nur ganz sporadisch, stehen im Widerspruch mit der auch als politischer Grundsatz herrschenden Ansicht von der Notwendigkeit kirchlicher Einheit der Nation, und finden sich nur auf den Grenzgebieten zum Morgenlande.

Anders seit der Kirchenreformation. Diese brachte es nicht blos zu einer Vermehrung der Zahl der Kirchen und mit ihr zu einer Steigerung der Bedingungen, unter welchen in demselben Volke der Unterschied von Landes- und Dissidenzkirchen eine Stätte finden konnte, sondern schloss auch in ihrem Prinzipe der Unmittelbarkeit des Bandes der Gläubigen zu Christo eine, allerdings erst später entwickelte, Anerkennung der Gewissensfreiheit ein, welche, je mehr sie als ein wertvolles und vom Staate zu schützendes Gut erkannt wurde, den Grund zu mannigfachen Abzweigungen von den herrschende» Kirchen legte.

Zunächst freilich war man in katholischen wie in evangelischen Gebieten der Ansicht, dass der Staat einer bestimmten Kirche, auf deren Wahl die persönliche Ansicht der politischen Machthaber eine» prinzipwidrigen Einfluss ausüben konnte, dieselbe exklusive Berechtigung zu gewähren habe, wie sie früher im christlichen Abendlande allein der römisch-katholischen Kirche zugestanden hatte. Allein indem jenes persönliche Gewicht da, wo es sich nicht im Bunde, sondern im Widerspruche mit den religiösen Überzeugungen der Völler geltend machte, nur teilweise seine Absichten zu verwirklichen, und eine mit jenen Überzeugungen streitende exklusive Staatskirche herzustellen vermochte, wurde es historisch der nächste erzeugende Grund der dissidentischen Religionsgemeinschaften. Nicht immer nämlich führten die schweren und oft blutigen Kämpfe, die aus jenen Herstellungsversuchen hervorgingen, zu dem reinen Siege der einen Konfession, die sich nunmehr als exklusive Staatskirche behauptet hätte. Vielmehr schlossen sie häufig mit einer Art Kompromiss, welches neben der einen mit der vollen Gunst der politischen Gewalt ausgestatteten und als Regel der Religionsübung des Landes behandelten Konfession doch auch der andern, als Ausnahme von dieser Regel, eine bald mehr bald weniger sichergestellte genossenschaftliche Existenz zugestand.

Ein besonders lehrreiches Beispiel dieser Entwicklung der Dinge, in welcher denn auch der Name der Dissidenten zum ersten Male als technischer auftritt, bietet sich in Polen dar. Hier begann nach der Inkorporation Westpreußens in das polnische Reich (16. März 1569) der Versuch, ein zum großen Teil evangelisches Land, welches seiner früheren Selbstständigkeit die Fortschritte der Reformation zu verdanken hatte, durch Gegenreformation, die mit allen Mitteln der politischen Gewalt betrieben wurden, der katholischen Kircheneinheit wieder zu unterwerfen. Das Ziel ward aber nur teilweise erreicht. Die ungebrochene Selbstständigkeit und Macht der großen Städte (Danzig, Elbing und Thorn) und die Glaubenstreue einzelner ritterschaftlicher Familien und vieler Gemeinden boten unüberwindliche Schwierigkeiten. Das Resultat war, dass zwar die römisch-katholische Kirche wieder zur herrschenden, ihre Religionsübung zur Regel erhoben wurde, allein den als „Dissidenten" bezeichneten Evangelischen doch eine individuelle und genossenschaftliche Religionsfreiheit zugesprochen werden musste, welche freilich bis auf den Warschauer Traktat vom 24. Februar 1768 gegen oft wiederholte Anläufe und Kränkungsversuche im Kampfe lag ...

Auch in den meisten deutschen Territorien bildete sich der Sache nach ein Gegensatz von Landeskirchen und Dissidenten, nicht selten auch hier als Wirkung teilweise gelungener Gegenreformationen. Noch öfter aber ergab er sich seit dem 17. Jahrhundert aus ausdrücklichen, kraft landesherrlichen Reformationsrechts verliehenen Konfessionen an Anhänger dissentirender Bekenntnisse, welche, in ihrem Heimatlande religiös bedrängt oder bedrückt, dem an sie ergehenden Rufe zur Einwanderung in ein fremdes Land folgten, welches ihnen eine friedliche, wenn auch beschränkte, Religionsübung gewährleistete. Wenn diese Konfessionen im 17. Jahrhundert häufiger aus politischer, besonders staats- und volkswirtschaftlicher Zweckmäßigkeit, wie aus prinzipieller Anerkennung und Vertretung der Gewissensfreiheit hervorgingen, so zeigte sich an den gleichartigen Konfessionen des 18. Jahrhunderts schon mehr die Einwirkung des letzteren Gesichtspunktes.

Die entschiedene Überzeugung dagegen, dass der Staat ebenso wohl um der Gewissensfreiheit seiner Glieder, als um der Selbstständigkeit und Eigenartigkeit des religiösen Lebens willen, dessen Gang zu regeln nicht Aufgabe des Staats sein kann, die Verpflichtung habe, die Sezession von den Landeskirchen in gewissen Grenzen gewähren und auch in genossenschaftlicher Form sich darstellen zu lassen, — diese Überzeugung hat sich erst im 19. Jahrhundert soweit verbreitet, dass sie auch in der Mehrzahl der deutschen Staaten zu einem politischen Prinzipe sich befestigte. Der Werth des letzteren büßt dadurch nichts ein, dass es oft und laut genug aus dem hohlen Grunde bloß formaler Freiheitstheorien und irreligiöser Tendenzen in Anspruch genommen worden ist.

Zur Befriedigung der Forderungen dieses Prinzips, welches freilich von dem leidigen Schwanken deutscher Staatsmaximen wiederholt erschüttert wurde, gab es bis in die Mitte des Jahrhunderts nur den Weg des Reformationsrechts, d. h. es bedurfte zur Zulassung einer dissidentischen Religionsgesellschaft doch immer einer besondern Konzession von Seiten der Staatsgewalt, welche zugleich die näheren Bedingungen und Schranken ihres erlaubten Daseins und Wirkens sowohl dem Staate als den Landeskirchen gegenüber zu bestimmen hatte. Erst unter den Veränderungen des öffentlichen Rechts im Jahr 1848 kam es in vielen Verfassungsgesetzen zur Sanktion des Satzes, dass die Bildung von Religionsgesellschaften nicht mehr von besonderer Zulassung abhängig, dass sie also nur durch die allgemeinen Bedingungen des Assoziationsrechts beschränkt sei. … Dieser Satz wurde entweder in ausdrücklicher Beziehung auf Religionsgesellschaften ausgesprochen …, oder er folgte aus der Allgemeinheit, in welcher das Recht der Vereinsbildung gewährt ward ...

Es konnte nunmehr in den betreffenden Staaten gegenüber den Landeskirchen, die in ihrer bisherigen öffentlichen Bedeutung und Stellung verblieben, eine doppelte Art dissidentischer Religionsgesellschaften geben, einmal solche, die nur auf dem Boden der durch die Verfassung gewährleisteten religiösen Vereinigungsfreiheit standen, und sodann solche, die ihre Rechte aus der besondern ihnen verliehenen Konzession ableiteten, Rechte, welche — ohne an die der Landeskirchen zu reichen — doch viel weiter gehen können, als aus dem Grunde der Vereinsfreiheit ableitbar ist.

In der jüngsten Zeit hat die gegen die Verfassungsbildungen jener Sturmjahre eingetretene Reaktion auch die Freiheit der Vereinigung zu dissidentischen Religionsgemeinschaften getroffen. In vielen Ländern (nicht in Preußen) fiel diese entweder durch die Aufhebung der sie erteilenden Verfassungsgesetze, oder dadurch, dass die Regierung ein neues, von der bisher approbierten Interpretation abweichendes Verfassungsverständnis aufstellte ... Die Notwendigkeit der Konzession und mit ihr das Reformationsrecht in feinem früheren Umfange trat dadurch wieder ein.

Was nun die, besonders bei Gelegenheit der Frankfurter Grundrechte viel verhandelte, Frage betrifft, ob überhaupt der Gegensatz von Landeskirchen und dissidentischen Gemeinschaften in unsern deutschen Verhältnissen einen soliden Grund habe, so ist dieselbe zu bejahen. Wenn die Entwicklung des religiösen Lebens die religiöse Einheit der Nation aufgehoben hat, ohne der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche die effektive historische Bedeutung der beharrlichen und für das nationale Kulturleben wichtigsten religiösen Bildungsstätten zu entziehen, — wenn ferner die Zulassung von Bekenntnissen, die von diesen Kirchen abweichen, als eine rechtliche, der Achtung der Gewissensfreiheit wie der Selbstständigkeit der religiösen Sphäre schuldige Notwendigkeit erkannt ist: so wird der Staat den Forderungen, die aus diesen gegebenen Grundlagen folgen, nur dadurch entsprechen können, dass er einerseits an jenen Kirchen ihre öffentliche Stellung als Landeskirchen vollständig anerkennt, und andererseits andern Religionsgemeinschaften, ohne sie auszuschließen, die ihrer geringeren oder überhaupt noch unbewährten Bedeutung für das sittliche Gemeinleben entsprechende Existenz gestattet.

Dann steht man eben auf dem Standpunkte der Unterscheidung zwischen Landeskirchen und dissidentischen Religionsgemeinschaften, — ein Standpunkt, der jetzt auch keinen erheblichen Anfechtungen ausgesetzt sein wird. Dagegen gehen in unsern Tagen die Meinungen darüber weit auseinander, ob die rechtlich zu achtende Bildung dlssidentischer Gemeinschaften schon im Bereiche der Assoziationsfreiheit liegen, oder immer durch einen konkreten Akt staatlicher Zulassung kraft Reformationsrechts vermittelt werden solle.

Zu Gunsten der erstem Ansicht spricht, dass

1)     für den Staat die ihm gegen den Missbrauch des Assoziationsrechts zustehenden aufsehenden und reprimirenden Befugnisse der Polizeigewalt auch gegen Missbrauch der religiösen Vereinsfreiheit ausreichen;

2)     dass ein wirkliches Recht der Gewissensfreiheit nur unvollkommen bestehe, so lange die Sezession von den Landeskirchen nur mittels einer besondern, nach Zweckmäßigkeitsermessen der Regierung zu gewährenden aber auch zu versagenden Erlaubnis; möglich sei;

3)     dass der Staat nicht durch Mittel der Hemmung oder Erschwerung der Sezessionen die Landeskirchen künstlich zu konservieren habe, sondern dass die Landeskirchen selbst die Bedeutung, die der Staat ihnen beilegt, durch ihre eigene Kraft und die geistige Überlegenheit ihres Wirkens erhalten müssen;

4)     dass ein besonderer Akt der Zulassung von Seiten des Staats doch ein gewisses Maß der Konsolidation der dissidentischen Gemeinschaft voraussetze, zu welcher ohne eine, auf dem Boden der gemeinen Freiheit stehende Befugnis religiöser Vergesellschaftung entweder gar nicht oder nur in widergesetzlicher Weise gelangt werden könne.

Für die zweite Ansicht wird besonders geltend gemacht, dass

1)     ein auf wirklichem Ernste religiöser Überzeugung beruhendes Sezessionsstreben durch äußere Erschwerungen nur erstarken und trotz derselben zur Anerkennung sich durchsetzen werde;

2)     dass die Religionslehren auch einen so ergiebigen und wichtigen Quell von Meinungen über allgemein sittliche und bürgerliche Verhältnisse bilden, dass der Staat eine verbundene Wirksamkeit Mehrerer zur Darstellung und Ausbreitung der ersteren erst nach gewonnener Einsicht über ihre Zusammenstimmung mit den letzteren gestatten könne;

3)     dass da, wo Landeskirchen existierten, manche wichtige Einrichtungen, die im Zweckbereiche des Staates wie der Kirche liegen, z. B. Volksschule und Eheordnung, auf der Basis des Zusammenwirken« des Staats mit den Landeskirchen geordnet seien, und dass es daher für dissidirende Untertanen erst einer mit ihrer Zulassung zu verbindenden Ausnahmestellung zu diesen Einrichtungen bedürfe.

Von diesen Gründen scheinen die letzteren die durchaus schwächeren zu sein. Der erste Grund (die Überwindungskraft, welche einer ernsten dissidentischen Richtung gegen staatliche Hindernisse beiwohnt) ist im besten Falle der leidige Trost, dass es für fehlerhafte Einrichtungen und Tätigkeiten des Staats in der göttlichen Ökonomie der sittlichen Welt noch Korrektive gibt, also leine Rechtfertigung jener Einrichtungen selbst. Der zweite Grund (der Einfluss der Religionslehre auf das bürgerliche Verhalten) wird, soweit er Beachtung verdient, durch die allgemeinen Befugnisse der Polizeigewalt über das Vereinswesen zur Genüge befriedigt. Der dritte Grund (das Bestehen bürgerlich-kirchlicher Institute) ergebt nur die Notwendigkeit, dass neben der die Regel bildenden, staatlich-kirchlichen Gestaltung auch ein Ausnahmerecht bestehe, welches für die Mitglieder dissidirender Religionsgemeinschaften die Wege eröffnet, um durch ihre Sezession von den Landeskirchen nicht von den Zwecken ausgeschlossen zu sein, zu denen die bürgerlich-kirchliche Einrichtung das regelmäßige Mittel bietet. …

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/56/eh1.htm
© E. Herrmann, 1858