Kitsch - Kopie - Nostalgie


Heft 57 | Home | Hefte 1-56 | Newsletter | Impressum und Datenschutz

Februar 2009

Liebe Leserinnen und Leser,

das Wort "Kitsch" in unserem heutigen Sinne ist dem Grimmschen Wörterbuch noch völlig unbekannt. Das ist auch völlig logisch, denn es wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts in Münchener Kreisen geprägt. Andere Sprachen tun sich mit dem Phänomen des Kitsches schwer und haben deshalb einfach das deutsche Wort für das Phänomen eingebürgert.

Dabei unterliegt seit Beginn der Moderne die gesamte Kultur einem Trend zur Verkitschung. So schreibt Theodor W. Adorno in seinem Aufsatz über den Kitsch: "indem der Kitsch vergangene Formwesen den Menschen als gegenwärtig aufredet, hat er soziale Funktion: sie über ihre wahre Lage zu täuschen, ihre Existenz zu verklären, Ziele, die irgendwelchen Mächten genehm sind, ihnen im Märchenglanz erscheinen zu lassen. Aller Kitsch ist wesentlich Ideologie."

Kitsch, das hebt auch das Lexikon für Kunst hervor, ist untrennbar mit dem Kapitalismus verbunden: "Zur umfassenden sozialen Erscheinung wurde K. (im gängigen Verständnis) erst im Kapitalismus, bes. nach der industriellen Revolution. Gründe dafür waren: die Verwandlung der Kunst in eine Ware; die Krise des Handwerks; die Zersetzung der tradierten Volkskunst; die neue Massenhaftigkeit von Kunst- und Unterhaltungswünschen; die Entstehung einer Kunstindustrie, auf Profit bedacht, die die Möglichkeiten und den Bedarf nach Illusionierung in breiten Schichten (Betäubung, Ablenkung, Ersatzbefriedigung, Unterhaltung) nutzte und vorantrieb, faktisch im Sinne einer Spaltung des Kunstpublikums in eine der Hochkunst genussfähige Elite und jene Schichten, die ausgeschlossen waren oder wurden."

Und wie steht es mit dem Thema Kitsch und Religion? Im Verlaufe der Erstellung dieses Heftes wurde immer deutlicher, dass anders als es innerhalb der Kirchen immer tradiert wird, nicht Kunst und Religion Geschwister sind, sondern Kitsch und Religion ein überaus nahe stehendes Verhältnis haben. Seitdem es Kunst gibt, sucht Religion aus ihr Kitsch zu machen. In den Kirchen setzt der Trend zum Kitsch in der Verabsolutierung des Barock und der Ignorierung aller neuen Kunstformen schon sehr früh ein. Seit mehr als 200 Jahren ist der Kitsch die Normalform der populären Kunstaneignung in den Kirchen. Ein Blick in religiöse Bücher und Traktate reicht aus, um das zu begreifen.

Seit einiger Zeit gibt es aber in den Kirchen auch die Tendenz, ganz offensiv den Kitsch als Kitsch zu verteidigen. Das begann mit der Apologie der Trivialkultur in der Kulturdenkschrift der EKD am Beispiel der Schlagersängerin Michelle und setzt sich fort mit kirchenoffiziösen Papieren, in denen eine kitschfreundliche Kirche gefordert wird.

Die exakte Beschreibung dessen, was eigentlich Kitsch ist, ist sicherlich außerordentlich schwer. "Es gibt kein allgemeines Kriterium für Kitsch, denn der Begriff ist selber ein Rahmen, der sich je und je erst geschichtlich erfüllt und sein eigentliches Recht allein in der Polemik hat" - schreibt Theodor W. Adorno. Das macht zweierlei deutlich: dieses Heft ist ein polemisches Heft, das Phänomene angreift, die andere vielleicht ganz anders deuten. Zum anderen ist klar, dass die kritisierten Phänomene nicht zwingend an und für sich Kitsch sind, sondern in Konstellationen geraten sind, die sie als Kitsch deutbar werden lassen.

Unter VIEW finden Sie eine Auseinandersetzung von Andreas Mertin mit populären religiösen Kunsthandwerkern diesseits und jenseits des Atlantiks sowie mit der bürgerlichen Kitschindustrie. Darüber hinaus eine Rückfrage zu dem, was der Denkmalschutz eigentlich schützt. Anne Gidion hat Ben Beckers Bibellesung besucht und schildert ihre Reaktionen. An zwei konkreten Phänomenen – dem Altar und der Innenausstattung einer Kirche – geht Andreas Mertin der Tendenz zur Verkitschung nach.

Unter RE-VIEW gibt es einen „Jubiläumsblick auf das Erstlingswerk von Nick Cave and The Bad Seeds von Matthias Surall. Darüber hinaus Rezensionen und Reaktionen von Christoph Fleischer und Andreas Mertin.

Unter POST finden sich zwei Polemiken von Andreas Mertin: zum einen zu einem sprachlichen Ausrutscher der Süddeutschen Zeitung und zum anderen zu den islamophoben Reaktionen protestantischer Kirchenfürsten.


Mit herzlichen Grüßen

Andreas Mertin, Horst Schwebel und Karin Wendt