Das neu erwachte Kunst-Interesse an der Religion

Andreas Mertin

Zum zweiten Mal innerhalb dieses Jahrzehnts widmet sich das Zentrum Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe der Schnittstelle von Kunst und Religion. Vor 7 Jahren hatte die Ausstellung „Iconoclash“ Aufsehen erregt, die den Folgen des Bilderverbots für die Moderne nachspürte.

Dieses Mal geht es um den Zusammenhang von Medien und Religion, um die Rückkehr der Religion in den Medien, um die Medialisierung der Religion im Fundamentalismus und um den medialen Kern von Religion an sich.


Die Theorie I

Um das Ergebnis vorweg zu sagen: die Ausstellung ist durchaus besser als ihre theoretische Rahmung. Als ich die Einführung von Boris Groys und Peter Weibel und den folgenden Aufsatz von Boris Groys las, konnte ich es zunächst nicht fassen, auf welchem theoretischen Sachstand hier argumentiert wurde. So gut wie keine der Erkenntnisse der religionswissenschaftlichen und theologischen Fachwissenschaften der letzten 50 Jahre fand hier Berücksichtigung, es herrschte eine überaus holzschnittartige Darstellung vor. Bei fast jedem Satz mochte man aufschreien und sagen: Das stimmt doch so nicht. Sätze wie „Die ursprünglichen Medien der Religion waren die Schrift und das Buch“ oder „Ohne Schrift keine Kirche, ohne Schriftrollen kein Glaube“ sind so absurd falsch, dass man sich fragt, was damit bezweckt werden soll. Hunderte von Jahren oraler Überlieferung ohne Schrift und Buch einfach mit einem Federstrich weggewischt. Das hat mehr mit Leopold von Rankes Auffassung zu tun, der dekretierte, man könne die Geschichte der Menschheit erst da als fassbar bezeichnen, wo nachprüfbare Aufzeichnungen vorlägen und der dadurch alle Ereignisse davor als Menschliche Vor-Geschichte abwertete. Nein. Medienwissenschaftlich und kulturgeschichtlich beginnt die Religion nicht erst mit den Schreibmedien, sondern lange vorher mit den auditiven Medien.

„Die Ausstellung Medium Religion möchte diese mediale Seite der Religion anhand aktueller Beispiele der religiösen Propaganda wie auch einzelner Werke zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler veranschaulichen.“ Das hat schon Agitprop-Züge, diese Gegenüberstellung von religiöser Propaganda einerseits und künstlerischer Aufklärung andererseits. Tatsächlich meinen die Autoren jedoch nur, dass sie aus der Vielzahl der religiösen Verlautbarungen und Handlungen nur jene ausgewählt haben, die sich als religiöse Propaganda identifizieren lassen und die im Gegenzug künstlerisch untersucht und bearbeitet werden. Dann aber hätte die Ausstellung „Mediale Religionspropaganda in künstlerischer Perspektive“ heißen müssen und einige Arbeiten der Ausstellung hätten dann freilich eine geradezu beklemmende Aktualität bekommen. Etwa Barbard Golshiris Videoinstallation „mami“, die so zur vernichtenden, weil Unterwerfung fordernden Entlarvung muslimischer Religionspropaganda geworden wäre. So aber ist diese Arbeit die einzige religiöse in der Ausstellung, die zudem noch vom Besucher eines säkularen Museums eine religiöse Geste einfordert: er muss sich vor dem Betreten die Schuhe ausziehen und den Raum in gebückter Haltung betreten. Das geht nur gut, weil die gezeigte Arbeit dann keinerlei religiösen Ansprüchen genügt, sondern im medialen Crosscut nur das Dazwischen der religiösen Rezitation präsentiert.

Kehren wir zurück zur theoretischen Rahmung der Ausstellung. Zu den Kunstwerken der Ausstellung schreiben die Kuratoren, diese entstammten „meist demselben Zusammenhang wie die von ihnen thematisierten religiösen Bewegungen und stehen den religiösen Ritualen, Bildern und Texten weder affirmativ noch kritisch, sondern eher blasphemisch gegenüber.“ Ersteres meint, dass die Künstler so ausgewählt wurden, dass tunlichst keine europäischer Christ ein Kunstwerk über asiatische Hindus machen sollte. Kontexttreue war angesagt. Nebenbei bemerkt erinnert das an Forderungen frömmerer Christen, die Künstler, die in Kirchen arbeiten, müssten sich auch zu Christus bekennen. Beides ist eine Verachtung der Kunst. Was die Blasphemie betrifft, so meint sie ja zunächst wortwörtlich „Rufschädigung“. Wenn die Kunstwerke also nicht kritisch, sondern blasphemisch sein sollten, gehören sie tatsächlich in die Rubrik Agitprop. Glücklicherweise waren sie das (von wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht. Die Kuratoren verstehen aber unter blasphemisch etwas anderes, nämlich die der Kunst eigene De-Kontextualisierung des bearbeiteten Sujets, die seit Marcel Duchamp für alle Kunst kennzeichnend ist. Dieser hatte Alltagsgegenstände - einen Flaschentrockner, ein Fahrrad-Rad, ein Urinoir - ohne Veränderung der äußeren Gestalt und ohne künstlerischen Eingriff zu Kunstwerken erklärt. Kunst entsteht durch Kontextualisierung eines Gegenstandes in den ästhetischen Diskurs. Ist dies gesellschaftlich anerkannt, kann jeder Gegenstand (ein Kreuz, ein PKW), jede Handlung (das Abendmahl, Pfeifenrauchen, Fernsehen), jeder Diskurs (theologische Sätze, die Mannschaftsaufstellung des 1. FC Nürnberg) einer derartigen De-Kontextualisierung unterzogen werden.[1] Mit dem Wechsel zur ästhetischen Betrachtung funktioniert nichts mehr wie vorher. Die Kunst wird zur potentiellen Gefährdung aller anderen Diskurse. Einen Grenzfall der Diskurs-De-Kontextualisierung im Gebiet des Ethisch-Ästhetischen beschreibt Jean-François Lyotard in „Der Widerstreit“: "Der Offizier schreit Avanti! und stürzt aus dem Schützengraben, die Soldaten schreien ergriffen Bravo!, ohne sich zu rühren.“ Die Frage ist natürlich, ob sich eine künstlerische Strategie der ästhetischen Entwaffnung der fundamentalistischen Religionsbewegungen erfolgreich durchführen lässt. Am Beispiel der in der Ausstellung gezeigten Videodokumentation zweier Ansprachen von Osama bin Laden müsste man das einmal durchbuchstabieren. Was wäre, wenn wir die Videobotschaften ästhetisch de-kontextualisieren und so um ihren appellativen Charakter bringen? An dieser Stelle mag sich das Kuratorenteam nicht richtig entscheiden. Wären sie radikal, hätten sie im Vorspann Osama bin Laden unter den beteiligten Künstlern aufführen müssen. Das tun sie nicht. Im Ausstellungsgrundriss freilich, der noch einmal alle Künstler und Objekte aufführt, erscheint er dann aber doch namentlich.


Theorie II

Boris Groys ergänzt die einleitenden Worte mit einem expliziten Text zum Thema. Er steigt ein mit dem Verweis darauf, dass inzwischen auch wissenschaftliche Darstellungen – wie Religion – als Meinungen behandelt werden. Das mag im Blick auf den Nachrichtencharakter beider zutreffen, nicht aber im Blick auf die Logik ihrer Urteile. Hier gibt es durchaus noch Differenzen und es ist höchst holzschnittartig, Religion und Wissenschaft denselben Meinungscharakter zuzuschreiben. Wenn man Wahrheit als innere Widerspruchsfreiheit begreift, dann macht es mehr Sinn, von verschiedenen Wahrheiten und nicht nur von Meinungen zu sprechen. Groys aber setzt auf Meinungen und sieht diese in der Mediengesellschaft nach Darwins Grundsatz the survival of the fittest organisiert. Und hier haben die Religionen als alteingesessene brands einen strategischen Überlebensvorteil.

Auf der anderen Seite pflegen die Religionen aber im inneren Zirkel, in ihren sakralen Räumen die Meinungslosigkeit: „Denn der Wille der Götter oder der Wille Gottes bleibt letztendlich der Meinung der Sterblichen verborgen … so sind die sakralen Orte der Religionen Räume, in denen die Medialität des Menschen gerade deswegen thematisiert werden kann, weil es Räume sind, in denen der Mensch alle Meinungen verliert und sich im Zustand der Meinungslosigkeit wiederfindet.“ Das ist schön gesagt, aber empirisch kann ich das in den religiösen Räumen des Christentums nicht verifizieren. Insbesondere am Protestantismus mit seiner Bindung an das ausgelegte(!) Wort scheint dieses Phänomen vorbeizugehen. Vielleicht gilt diese Beobachtung nur für ritualistische Religionen. Darauf deutet auch Groys Beschreibung sakraler Orte als geheimnisvoller und dunkler Orte. Natürlich gibt es das, aber es ist doch nur die Minorität religiöser Orte, die dadurch charakterisiert sind. Nicht einmal im katholischen ordo nach dem II. Vatikanum dürfte diese Beschreibung zutreffen. Hier äußert sich der ästhetisch avancierte Zeitgeist, der der Religion gerne mystisch und dunkel wie in der Vergangenheit hätte. Ist sie aber nicht. Und das ist die Crux der theoretischen Rahmung.


Die Ausstellung

Abgesehen von dem von erwähnten Beispiel von Barbard Golshiri und eventuell, aber auch nur sehr eingeschränkt der Arbeit von Christof Schlingensief erreichen die Exponate nicht die Dichte und Intensität eines religiösen Geschehens. Auch dort, wo sie wie bei der Video-Oper von Korot/Reich das Rituelle und die Wiederholung des Religiösen medial reproduzieren, will sich der rechte Effekt nicht einstellen.

Noch schwieriger wird es dort, wo das Pittoreske des Religiösen in den Vordergrund gestellt wird, wo also die Kunst selbst zu einer Art Wunderkammer oder Reliquienkammer verkommt. Dazu zählt etwa die Tätowierung von Wim Delvoye, die Leuchtkästen von Alexander Kosolapov, der Twin-Jesus und der Buddha von Sang-Kyoon Noh oder das Pattex-Kruzifix von Michael Schneider. Wenn das die Leistung zeitgenössischer Kunst im Blick auf das Phänomen der Religion ist, ist sie billig und vernachlässigenswert. Hier hätten Phänomendifferenzierungen zwischen Theologie, Glaube, Lehre und Volksfrömmigkeit dem ausgestellten Thema gut getan. Die Tätowierung von Delvoye mag etwa das Thema Populärkultur und Volksfrömmigkeit streifen, mit Religion hat es wenig zu tun. Die Leuchtkästen von Kosolapov sind das, was einem pubertierenden Schüler im Kunstunterricht zum Thema Religion einfällt, erfüllen aber gerade nicht die Kriterien einer aufklärerisch-ästhetischen Erschließung von Religion. Das bewegt sich eher auf der Ebene von Martin Kippenbergers gekreuzigtem Frosch. Ähnliches gilt für das Pattex-Kruzifix, das sich auf der kunstdiskursiven Ebene der 60er-Jahre bewegt, als Religionskritik bzw. -satire in einer muffigen Gesellschaft noch aufklärerisch war.

Die durch diese Kunstwerke angezeigte Grenze ist die der Performativität. Religion erschließt sich wie auch Kunst und Kultur in der Teilhabe. Fällt das weg, ist sie nur noch bloße Idiotie, um Adornos Diktum über die Kultur aus den Minima Moralia aufzugreifen. Nur wenn man bereit ist, zur Performance der Kunst der Gegenwart auch die Religionskritik zu zählen, machen die benannten Werke Sinn. Ist man aber der Meinung, die Kunst habe sich längst davon emanzipiert und sei über Derartiges hinweg geschritten, dann handelt es sich um epigonale Wiederholungen im krisenhaften Kunstbetrieb. Wenn sonst nichts geht, geht Religionskritik.

Die ausgestellten Arbeiten stehen in einem nicht geklärten Verhältnis zur rahmenden Theorie. Deren Beleg sind sie so wenig wie deren Widerlegung. Sie ragen eher besinnungslos aus der Vergangenheit des Kunstdiskurses in seine Gegenwart. Keinesfalls zeigen sie, dass alles Meinung geworden ist bzw. die sakralen Räume der Religion Tempel der Meinungslosigkeit sind.

Allerdings sind diese Relikte früherer künstlerischer Bemühungen um das Thema Religion in der Ausstellung in der Minderheit. Die Mehrzahl der Werke, die der Betrachter vorfindet, arbeitet anders und hat sich von den stereotypen Gesten der Vergangenheit verabschiedet. Das gilt natürlich auch für Christof Schlingensiefs höchst persönlicher Mixed Media Installation „Der König wohnt in mir“, die durch die Intensivierung der visuellen und kontextuellen Erfahrungen dem Phänomen der Religion auf die Spur kommen möchte.


Rabih Mroué

Sehr beeindruckend auch die Arbeit von Rabih Mroué, der in seiner Arbeit „Drei Plakate“ aus dem Jahre 2003 das Video eines Selbstmord-Attentäters (er bezeichnet ihn im Video konsequent als Märtyrer) re-konstruiert, zu dem er Filmmaterial aus dem Büro der Kommunistischen Partei im Libanon verwendet. Das Attentat fand in den 80er-Jahren statt und Mroué zeigt nun, dass es verschiedene Versionen des Videos gab, auf denen der Selbstmord-Attentäter sich entsprechend als Märtyrer in Szene zu setzen versuchte. Dazu muss er aber vom Genre des Selbstmord-Attentäters in das Genre des Schauspielers unter der Anleitung eines Regisseurs wechseln. Das wiederum tangiert seine Rolle als Selbstmord-Attentäter. Mroué gliedert in direkter Ansprache an das Publikum das Geschehen in drei Ebenen (Plakate) auf: der Schauspieler, der Märtyrer, der Politiker. Das ist insofern interessant, als es sofort die Frage nach den drei Plakaten/ebenen jedes religiösen Agierens aufwirft, z.B. der Priester als Schauspieler und gesellschaftlicher Akteur.


Florian Meyer

Die Videoarbeit Igreja Positivista von Florian Meyer „dokumentiert den Innenraum eines Tempels der positivistischen Kirche in Rio de Janeiro, die auf der Lehre Comtes gegründet wurde. Der verlassene Kirchenraum wirkt darin wie ein Mausoleum für den Entwurf eines ‚atheistischen Katholizismus’, in dessen Mittelpunkt Liebe, Mitgefühl und Achtung vor menschlichen Leistungen stehen, sowie Comtes Verehrung der Frau als ethisches und moralisches Vorbild für Familie und Gesellschaft.“ (Ausstellungskommentar)

Da hätte man freilich in Inszenierung und Deutung mehr draus machen können. Denn was bedeutet es, dass der Glaube an die Vernunft im besten Falle nichts anderes hervorbringt als eine Kopie des alten Glaubens? Lässt sich der Glaube der Vernunft überhaupt ritualisieren oder besteht sein Reiz nicht gerade in der Durchbrechung des Rituals? Die im Ausstellungs-Kommentar sich zeigende Verwechslung von Religion und Moral macht deutlich, wie unkonturiert hier Religion wahrgenommen wird.


Robotlab

Die von vielen in der Ausstellung so bewunderte und geliebte Roboterinstallation bios / bible ist meines Erachtens ambivalenter als es sich darstellt. Zunächst einmal sollte einen an der Aktion des Roboters nur wenig wundern. Jeder Tintenstrahldrucker, der durch ein Computerprogramm gesteuert Texte zu Papier bringt, macht in nuce nichts anderes. Nur macht er es schneller und weniger der menschlichen Gestik angenähert. Die Roboterinstallation spricht die Menschen vermutlich wegen ihrer Poetik und ihrer scheinbaren Konsequenz an. So unbeirrt und mechanistisch und doch irgendwie menschenähnlich stellt man sich auch die Schreiber der mittelalterlichen Klöster vor – nur dass die noch Fehler begingen, die ein Roboter nur begehen würde, wenn sein Programmierer Fehler macht (oder der Strom für Un-Ordnung sorgt). Aber weder waren die mittelalterlichen Klosterschreiber so (da vermittelt Umberto Ecos Der Name der Rose vermutlich präzisere Einblicke), noch ist die mechanische Reproduktion wirklich poetisch. Sie ist ein Kaffeesurrogatextrakt und hat mit der Gutenbergbibel soviel zu tun, wie der Nachdruck einer Gutenbergbibelseite, die ich mir Sonntags im Hagener Freilichtmuseum drucken lassen kann. Es geht um Vorbild und Abbild, genauer: um Re-Produktion. Beeindruckt hätte mich der Roboter allenfalls, wenn er die drei Kritiken von Kant geschrieben hätte, die handschriftlich sicher bisher nur selten zu Papier gebracht wurden. Oder wenn er etwas Neues zum Thema Religion geschrieben hätte. Hat er aber nicht. Als ich dort war, schrieb er in etwas altertümlicher Schrift das 29. Kapitel des Hiobbuches (ein ziemliches Selbstlob des Hiob übrigens im Sinne der guten alten Zeiten). Aber was versteht der Roboter schon vom dem was er schreibt?


Osvaldo Romberg

Die mit Zeitungsstapeln errichtete/rekonstruierte Mikwe von Osvaldo Romberg ist ein gutes Beispiel für die Erklärungsbedürftigkeit vieler Beispiele der Ausstellung. Was weiß der Besucher von der jüdischen Mikwe? Was von ihrer religiösen Bedeutung von den Anfängen bis zur Gegenwart? Bei aller unterstellten Massenmedialität der Religionen dürfte das eher zum Spezialwissen gehören und zudem noch mit allerlei Vorurteilen belegt sein. Und was weiß der Besucher von Masada, von der Geschichte dieser Festung und ihrer mythischen Funktion bis in die Gegenwart? Innerhalb der israelischen Gesellschaft ist Masada sicher ein massenmedial rezipierter Mythos, aber außerhalb dieses Kontextes? Und was weiß der Besucher von der Mikwe auf Masada? All das ist erklärungsbedürftig und muss separat auf Besuchertafeln erläutert und kommentiert werden. Und da trifft man dann auf grenzwertige Bemerkungen von Masada als einem angeblichem Teil der „zionistischen Ideologie“.

Dennoch ist Rombergs Arbeit eine überaus beeindruckende Arbeit, die den Betrachter auf eine Gedankenreise schickt und nach den hier symbolisierten „Schichten in der Zeit“ fragen lässt. Man sieht ja, dass es sich um einen Grundriss handelt und erkennt auch, dass es hier um religiöse Funktionen geht. Man blickt auf die gesammelten Zeitschriften und ihre nach und nach veraltenden Nachrichten, die zum Teil der Geschichte werden.


Nira Pereg

Von der 1969 in Tel Aviv geborenen Künstlerin Nira Pereg gibt es in der Ausstellung drei verschiedene sehr starke Arbeiten: eine Videoarbeit und zwei Fotoserien.

Die Videoarbeit „Sabbath 2008“, ein 7-minütiger Video-Loop, zeigt die Schließung der orthodoxen Viertel Jerusalems zum Sabbat. In der Regel junge Menschen warten am Rand der Straße bis zum vorgesehenen Zeitpunkt und sperren die Stadtviertel dann für 24 Stunden mit Polizeibarrieren ab. Zur Bedeutung der Arbeit heißt es in den Erläuterungen des ZKM: „Nira Pereg beobachtet dieses regelmäßig wiederkehrende Ritual der Grenzziehung und verweist auf dessen Konfliktpotenzial. Auf der Suche nach dem Individuellen innerhalb eines systematischen Rituals entwickelt sie hierbei ihr eigenes fotografisches bzw. filmisches Ritual. Durch die Präsenz der Barrieren entsteht das Porträt einer Stadt, in der sakraler und säkularer Raum strikt voneinander getrennt sind.“ Ist das so? Oder mutet es dem europäischen Betrachter nur so an? Wer Mea Shearim noch aus den 70er-Jahren kennt, weiß, dass die Grenzen zwischen ‚sakralem’ und ‚säkularem’ Raum fließend sind, so dass, was bei dem einen Besuch in Jerusalem noch säkularer Raum war, beim nächsten schon temporär sakraler Raum ist. Zum anderen könnte man ja auch vertreten, dass durch die temporäre Abschließung der säkulare Raum um so präsenter wird. Und schließlich müsste man sich daran erinnern, dass Analoges auch in säkularen Bereichen geschieht, nehmen wir etwa die automatischen Poller, die die Heiligkeit der Konsumsphäre namens Fußgängerzone schützen und nur zu bestimmten Zeiten den ansonsten das Konsumfest störenden Verkehr zulassen. Kontrastieren und ergänzen müsste man die Videoarbeit von Nira Pereg eigentlich mit der Arbeit „Zone“ von Mark Wallinger auf der Skulptur-Projekte 2007 in Münster, bei der er mit einer Schnur einen Kreis durch die Innenstadt gebildet hat und auf damit auf die Sabbatregeln Bezug nimmt: „Der Talmud nennt es Eruv, ein nach überlieferten Regeln exakt eingegrenztes Gebiet, in dem einige der 39 Verbote, die orthodoxe Juden am Sabbat einhalten müssen, aufgehoben sind.“ Eruvim gab es vor 1938 auch in Deutschland. Diese Dialektik von Ausgrenzung und Einschließung wäre dann in ihrer doppelten Medialität erhellend, denn Eruvim dürfen nur in Übereinstimmung mit der Gesamtbevölkerung erstellt werden.

Die zweite Arbeit von Nira Pereg ist die 14-teilige Fotoserie „Location 8 – Ramot Polin“, die die avantgardistische Architektur des im Norden Jerusalems gelegenen jüdisch-orthodoxen Viertels Ramot Polin zeigt. Das Viertel „wurde in den 1970er-Jahren von dem israelischen Avantgarde-Architekten Zvi Hecker entworfen und stellt einen der wenigen Versuche des staatlichen Ministeriums für Wohnungsbau dar, mit den standardisierten Konventionen der Architektur zu bre  chen und ein Viertel für eine religiöse Gemeinschaft zu errichten. Hecker entwickelte ein Bienenstock-ähnliches Formgefüge, welches beinahe ohne gerade Wände und Fenster auskommt. In ihren Fotografien untersucht Pereg das Verhältnis von Innen- und Außenraum, Fenstern und Wand, Menschen und Geometrie, und gelangt darüber zu einer Geschichte über einen Ort und seine Bewohner.“ (ZKM-Erläuterung) Hier ist es der Kontrast von Bauweise und religiöser Kontextualisierung mit der Zvi Hecker eine beeindruckende Spannung aufbaut. An dieser Stelle hätte ich mir in der Ausstellung mehr Museumspädagogik gewünscht, die am Beispiel von Ramot Polin der Dialektik von Religion und ihrer – hier architektonischen – Medialisierung nachgeht.

Die dritte Arbeit von Nira Pereg heißt  „Kept allive“ und zeigt Fotos von Grabstätten auf dem Friedhof Har Menuchot in Jerusalem. „Der 1953 gegründete Friedhof ist an einem Berghang entlang der Side Road No. 1 gelegen und bildet eine eindrucksvolle Kulisse für die Hauptzufahrt nach Jerusalem. Der Friedhof erstreckt sich über 580.000 m2 und wird ständig erweitert, so dass es jederzeit möglich ist, Gräber zu reservieren oder zu kaufen. Reservierte Gräber werden häufig mit der Inschrift ‚Alive’ oder ‚Kept Alive’ markiert. Indem Nira Pereg die Gräber jener dokumentiert, die noch am Leben sind, aber bereits ein festgelegtes Territorium unter den Toten besitzen, führt sie in dieser Arbeit ihre Suche nach Zeichen von Individualität innerhalb eines sozialen Systems fort.“ (ZKM Erläuterung) Ein ähnliches Phänomen gibt es natürlich auch auf deutschen Friedhöfen. Ich erinnere mich jedenfalls lebhaft an mein Erstaunen als Kind, wenn ich im Münsterland auf einem Friedhof war und den Grabstein und das Grab dessen sah, der gerade neben mir stand. Auf dem Grabstein waren der Name und das Geburtsdatum schon eingetragen und bequemer Weise musste nur noch das Todesdatum des Betreffenden eingesetzt werden. Das „Kept Alive“ hat darüber hinaus aber seine besondere Ironie, die sich politisch noch einmal geradezu zur Zynik entwickelt, wenn man im Internet recherchiert und sieht, wie viele Terroropfer in Har Menuchot beerdigt sind.

Die Frage ist dennoch, was diese drei beeindruckenden Arbeiten von Nira Pereg zum Ausstellungsthema MEDIUM RELIGION beitragen? Alle drei dokumentieren Phänomene, die der beschriebenen aktuellen Medialisierung der Religion weit voraus liegen. Mea Shearim als orthodoxes Wohnviertel ist ein Projekt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Har Menuchot datiert in die Mitte des 20. Jahrhunderts und Ramot Polin wurde Anfang der 70er-Jahre konzipiert. Wer in den 70er-Jahren Israel besucht hat, hat auf die eine oder andere Weise Fotos von diesen oder vergleichbaren Phänomenen gemacht. Was also ist das Argument in der Ausstellung? Dass Nira Pereg sich für die Individualität innerhalb sozialer Phänomene interessiert, ist offenkundig, konterkariert aber meines Erachtens gerade den Duktus der Ausstellung.


Die Dokumentationen

Der dokumentarische Teil der Ausstellung, den die Kuratoren fein säuberlich vom künstlerischen Teil trennen (auch wenn die Übergänge zugegebenermaßen fließend sind), zeigt eine Fülle ganz unterschiedlicher Dokumente: vom PC-Spiel über die Videodokumentation bis zum Fernsehbericht und zur Kunstdokumentation.

Das PC-Spiel Left Behind habe ich nicht ausprobiert, es ist ein religiös inspiriertes Kampfspiel zwischen Gut und Böse in den Tagen nach der Entrückung. Das situiert es schon in den geistigen Horizont der religiösen Rechten. Heute ist es nicht mehr State of Art (wenn es das je gewesen sein sollte) und die Konstruktion ist ebenso simpel wie gewalttätig. Die vulgär-gnostische Grundkonstruktion, die die Mehrheit aller populärkulturellen Produkte auszeichnet, ist hier noch einmal bis zur Karikatur auf die Spitze getrieben. Wer das Spiel selbst ausprobieren möchte, kann hier eine Demo-Version herunterladen. Fragen muss man sich aber, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, nach der grundsätzlichen religiösen Grundierung der PC-Spielekultur zu fragen, deren Gut-versus-Böse-Schemata ja heutzutage omnipräsent sind.

Die berühmten beiden Scientology-Videos von Tom Cruise hat merkwürdigerweise während meines fast dreistündigen Ausstellungsbesuchs keinen der zahlreichen anwesenden Jugendlichen interessiert. Vielleicht hatten sie es schon auf Youtube gesehen oder sie trennen einfach zwischen dem Schauspieler Tom Cruise und dem Scientologen Tom Cruise und letzterer interessiert sie nicht. Vielleicht hätte auch diese Dokumentation anders inszeniert werden müssen, weil sie letztlich eine Inversion des Ausstellungsthemas anzeigt: das Medium, das Religion geworden ist.

Die Dokumentation von Gregor Schneiders verhindertem Biennale-Projekt sollte, so vermute ich einmal, kunstkritisch sein, eine Kritik der Künstler als Gottsucherbande (Bazon Brock). Dazu würde passen, dass es neben der Arbeit von IRWIN zu Malewitsch gezeigt wurde. Tatsächlich bekommt die Arbeit von Schneider nach der Ablehnung in Venedig ja etwas Selbstzweckhaftes. Das schwarze Quadrat taucht nun auf zahlreichen Photoshop-Collagen mit ganz unterschiedlichen Orts-Simulationen auf. Was einmal präziser künstlerischer Zweck war, wird nun zum kunstreligiösen Ritus.

Begrenzt interessant, weil wirklich schon durch und durchbuchstabiert fand ich Miuccia Pradas und Katie Grands Arbeiten der religiös aufgeladenen Mode-Inszenierung. Das ist irgendwie nur noch langweilig, diese sterilen Mode-Religions-Simulationen. Da hätte man ebenso gut Bettina Rheims ausstellen können oder noch besser: die Arbeiten von Oliviero Toscani.

Und unterhalb der gesellschaftspolitischen Bedeutung wurde der Streit um das Kölner Moscheebauprojekt dokumentiert – das war lieblos und hätte doch ein interessanter Aspekt sein können, nämlich im Blick auf die Frage, ob heutzutage Medialisierungen über Religionen entscheiden können.


Fazit

Trotz aller Einschränkungen ist die gesamte Ausstellung interessant. Manchmal hätte man sich mehr Mut bei den Kuratoren gewünscht, auch mehr theologisches Verve und vor allem mehr Zutrauen zum Dialog von Kunst und Religion. Dieser findet heute auf einer anderen Ebene statt als es in der Ausstellung gezeigt wurde. Aber es soll dem Vernehmen nach ja noch eine weitere Ausstellung zum Thema geben, vielleicht kommt es ja dann zur Begegnung auf Augenhöhe.

Anmerkungen

[1]    Ich nenne exemplarisch für das Kreuz die Kreuzübermalungen von Arnulf Rainer, für den PKW die documenta 8 Installation eines Mercedes 300 CE von Ange Leccia, für das Abendmahl den Film "Viridiana" von Luis Buñuel, für das Pfeiferauchen entsprechende Überlegungen von Vilem Flusser, für das Fernsehen die Installationen von Nam June Paik, für theologische Sätze die Veronika-Tücher von Dorothee von Windheim mit Äußerungen Martin Luthers zum Papsttum, für die Mannschaftsaufstellung die entsprechende Inszenierung von Peter Handke.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/58/am278.htm
© Andreas Mertin, 2009