Der katholische Faktor

Irritierte Nachfragen zu einem ideologischen Konstrukt

Andreas Mertin

Das Historische Museum in Regensburg zeigt vom 4.4. bis 17.5. 2009 die Ausstellung „Der katholische Faktor“ in der zeitgenössischen Kunst aus Polen und Deutschland. Mich interessiert im Folgenden weniger die Ausstellung an sich mit ihren Exponaten, sondern ihr ideologisches Fundament. Worum geht es eigentlich bei dieser Präsentation? Das sollte in aller Regel das Editorial darlegen, das dem Webauftritt der Ausstellung vorangestellt ist. Schauen wir es uns also genauer an:

„Die Bildhaftigkeit als Besonderheit des katholischen Ritus hat Kunst und Kirche über Jahrhunderte hinweg aneinander gebunden.“

Schon der erste Satz ist in der Sache in vielerlei Hinsicht problematisch. Keinesfalls ist im Rahmen aller Religionen in der Welt und in der Kulturgeschichte die Bildhaftigkeit eine Besonderheit des katholischen Ritus. Zunächst einmal sind die Mehrzahl der Religionen in der Kulturgeschichte ikonische und nicht anikonische Religionen. Die Geschichte der Menschheit beginnt 30.000 Jahr vor dem Entstehen der christlichen Religion mit einer engen Verbindung von Bild und religiöser Magie. Die ägyptische Kultur ist ebenso wie die griechische und die römische Kultur eine Bilderkultur. Etwas Besonderes ist die Bildhaftigkeit des katholischen Ritus religionsgeschichtlich also nicht. Aber vielleicht meinen die Autoren ja, innerhalb des Christentums sei die Bildhaftigkeit eine Besonderheit des katholischen Ritus? Auch das wird man im Ernst nicht vertreten können. Orthodoxe wie lutherische Kirchen pflegen eine dezidierte Bildhaftigkeit im Ritus. Für die Orthodoxie ist sogar – anders als im Katholizismus – die Bildhaftigkeit glaubenskonstitutiv, wie in extenso im byzantinischen Bilderstreit dargelegt wurde und im Zweiten Konzil von Nicäa 787 festgehalten wurde. Im Blick auf das Bild gibt es im Christentum nur eine Besonderheit und das sind jene minoritären Denominationen, die sich mehr oder weniger strikt an das biblische Kultbildverbot halten, also Waldenser, Reformierte etc.

Auch in einem anderen Sinne ist der erste Satz hoch problematisch, weil er aus einer einseitigen Abhängigkeit ein normatives Geschehen macht. Schließlich kann man die Beziehung der Bilder zur Kirche auch als Versklavung deuten. Und schließlich ist es höchst problematisch, wie Hans Belting in „Bild und Kult“ gezeigt hat, den Begriff der Kunst auf Phänomene vor 1500 anzuwenden, weil vor dieser Zeit Kunst im heutigen Sinne noch nicht existiert hat.

„Das Bild ist gefährlich und in der Religionsgeschichte immer umstritten gewesen.“

Richtiger wäre es umgekehrt. Das Bild wurde über weite Strecken der Religionsgeschichte ganz selbstverständlich eingesetzt und nur ab und an blitzte der Gedanke seiner Problematik auf. Der Regelfall ist der Bildgebrauch und nicht der Ikonoklasmus. Gerade deshalb wirkt der Ikonoklasmus auch so verstörend auf das Bewusstsein der Menschen. Kunst dagegen war in der jüngeren Religionsgeschichte immer eine Macht, der sich die Religion zu erwehren suchte.

„Das Abbildungsverbot des Alten Testaments untersagt bildliche Darstellungen schlechthin. Es wendet sich gegen den Vorgang der Darstellung und die damit angeblich verbundene Gefahr der Vergötzung des Dargestellten.“

Das ist „schlechthin“ falsch. Keinesfalls sind bildliche Darstellungen im Alten Testament verboten. Das Bilderverbot ist in seinen ältesten Schichten eine Ablehnung der städtischen Gottesverehrung durch goldene und silberne (skulpturale) Götterbilder zugunsten nomadischer Kultbräuche. Später entwickelt es sich schrittweise vom konservativen Kultgesetz zum antisynkretistischen Bilderverbot. Immer aber geht es um Kultbilder und nicht um Bilder an sich. Man sollte im Bewusstsein halten, dass im Zentrum des 2. Gebotes weder Kunstwerke als solche, noch Kunstwerke mit bestimmten Inhalten, sondern ausschließlich Werke mit bestimmten Funktionszuschreibungen stehen. Nicht das Bild ist verboten, sondern dann und insofern(!) es kultisch gedeutet wird, wird dieser Vorgang der kultischen Ingebrauchnahme problematisiert.

„Trotzdem wurden Bilder im kollektiven Bewusstsein verankert, die bis heute weiterwirken als der katholische Faktor.“

Der Satz ist etwas schwer zu verstehen – abgesehen davon, dass der Begriff „katholischer Faktor“ so in der (kunst-)historischen Fachwissenschaft kaum etabliert sein dürfte. Gemeint ist offenkundig, dass wir bestimmte Bilder als genuin katholisch auffassen. Das wird vermutlich zutreffen, man müsste nur exakt überprüfen, welche das sein könnten und wie begründet das ist. Es können alle jene Bilder nicht sein, die es auch in den anderen christlichen Kirchen gibt. Es geht also um exklusiv katholische Bilder. Man müsste also aus einer Menge von Bildern die Schnittmenge von orthodoxen, katholischen und lutherischen Bildern überprüfen und jene Bilder untersuchen, die zu den anderen christlichen Kirchen keine Überschneidungen aufweisen.

"Diesem Phänomen sind wir auf der Spur in der aktuellen Bildenden Kunst aus Polen und Deutschland."

Das wäre nun tatsächlich hochinteressant gewesen. Polen ist ein Land mit einem Anteil von 90% an katholischer Bevölkerung und von 0,2% an ev.-luth. Bevölkerung. Deutschland ist ein Land mit etwa 30% katholischer und 30% evangelischer Bevölkerung. In Frage stünde, inwieweit diese konfessionelle Faktor sich auf die Kunst auswirkt. Hat das katholische Polen relativ mehr Künstler als das gemischte Deutschland? Gibt es Zusammenhänge zwischen Konfessionalität und Kunst? Man müsste dazu die konfessionellen Hintergründe der Künstler erfassen und ihre religiösen Sujets in Relation zum Gesamtwerk und zur gesamtgesellschaftlichen Kunstproduktion untersuchen. Dann – und nur dann – könnte man etwas über den katholischen Faktor aussagen.

Oder man definiert im oben beschriebenen Sinne vorab, was katholische Bilder sind und schaut, ob sie in ähnlicher oder differenter Zahl in polnischer und deutscher Kunst vorkommen. Auch das wäre seriös.

Über die angewandte methodische Grundlage der Ausstellung erfahren wir nichts. Ganz so ernst nehmen die Kuratoren ihre Programmatik offensichtlich auch nicht, wenn sie z.B. Hermann Nitsch in der Ausstellung zeigen, der weder deutscher noch polnischer, sondern österreichischer Künstler ist. Das Gleiche gilt für Günter Brus. Die beiden in die Ausstellung zu nehmen, könnte man nur vertreten, wenn man Österreich …. Aber lassen wir das lieber.

"Nach einer Phase der säkularen Weltsicht erlangen religiöse Fragen im neuen Jahrtausend zunehmende Bedeutung. Auf der Suche nach einem ethischen Gerüst kommt es zu einer Renaissance der Spiritualität. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Globale Veränderungen der Wirtschaft und der politischen Systeme führen zu Veränderungen der sozialen Rahmenbedingungen. Klassische Rollenverteilungen verwischen. Liberale Lebensformen provozieren Gegenreaktionen von konservativen Kräften. Unterschiedliche Moralvorstellungen führen zu Konflikten zwischen den Religionsgemeinschaften bis hin zu religiös motivierten Kriegen."

Weder religiös noch soziologisch wird man das ratifizieren können. Religiös müsste man gegen die Ineinssetzung von Religion und Moral protestieren. Soziologisch müsste man darauf verweisen, dass es einen Rückgang des Religiösen nicht gegeben hat, sondern nur eine Transformation vom Institutionellen zum Subjektiven. Und ob es ausgerechnet die Moralvorstellungen sind, die zu Konflikten zwischen Religionsgemeinschaften führen, kann man doch in Frage stellen. Und auch, welche der heutigen Kriege (nicht Bürgerkriege) denn religiös motiviert und nicht nur begründet sind. Für Afghanistan gilt das jedenfalls nur, wenn man der Propaganda der Taliban und der El Quaida folgt. Interkonfessionell sind mir keine aktuellen Kriege bekannt.

"Besonders in Polen sind die Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft weit reichend und konfliktbelastet. Radikal Christliche Gruppierungen und Parteien ringen mit liberalen Weltanschauungen. Die Kunst, als autonome Größe und Anwältin der individuellen Freiheit im gesellschaftlichen Diskurs steht in Opposition zu den reaktionären Kräften. Für die moderne Bildende Kunst in Polen ist das ein präsentes Thema. Religion ist mehr als eine intellektuelle Reibungsfläche in ästhetischer Ausführung. Sie ist die existenzielle Frage der Persönlichkeitsrechte."

Interessant finde ich hier den terminologischen Wechsel von „katholisch“ zu „christlich“. Müsste man nicht im Sinne der Ausstellungskonzeption klar schreiben „radikal katholische Gruppierungen und Parteien“? Und ist es sinnvoll, die Kunst so pauschal „als autonome Größe und Anwältin der individuellen Freiheit“ zu bezeichnen? Nach allen historischen Wahrscheinlichkeiten entzünden sich zwar an bestimmten künstlerischen Positionen auch religiös begründete Konflikte, aber die Mehrheit der Künstler ist vermutlich in solche Auseinandersetzungen nicht involviert. Das wird in Polen nicht anders sein. Künstler sind keinesfalls die besseren Menschen – das sind Relikte der idealistischen Genieästhetik.

"Die andere Seite der Oder ist geprägt von den Nachwirkungen der Reformation und Gegenreformation. Sie weist eine ambivalente Struktur auf. Der konfessionelle Flickenteppich nach Reformation und Gegenreformation führt dazu, dass die christlichen Kirchen regional unterschiedlichen Einfluss auf Politik, Gesellschaft und Kunst haben."

Es mag sein, dass die Welt in Bayern noch immer „von den Nachwirkungen der Reformation und Gegenreformation“ geprägt ist (auch wenn ich das kaum glaube), für den Rest der Republik gilt das jedenfalls nicht. Und ehrlich gesagt: Ein Flickenteppich sieht anders aus als diese Grafik aus der wikipedia zur Konfessionsverteilung in der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben vielmehr eine ziemlich klare Verteilung der Konfessionen bzw. Konfessionsmehrheiten in Deutschland. Da wird man wenig dran deuteln können. Und was den Einfluss der jeweiligen Kirchen auf Politik, Gesellschaft und Kunst betrifft, müsste man noch viel forschen, das ist weitgehend eine terra incognita. Weder löst sich das in die eine, noch in die andere Richtung auf.

"In jüngster Zeit werden erstaunlich lebhafte Diskussionen geführt. Auch die Rolle der Kunst als Diener der Gottesverehrung steht auf dem Prüfstand. Gleichzeitig wird der Wertewandel hinterfragt und jenseits der sakralen Kunst nach der Antwort auf die Gretchenfrage gesucht."

Wenn das stimmt, muss Regensburg in Europa die sprichwörtliche Ausnahme wie das berühmte gallische Dorf im römischen Imperium sein. Wo wird ernsthaft – und nicht von ideologisch völlig Verblendeten – von der Kunst als Diener der Gottesverehrung gesprochen? Das kenne ich von einigen Kreisen innerhalb der Kirchen, aber diese kennen weder das Betriebssystem Kunst noch können sie überhaupt über Kunst urteilen. Wichtig ist für diese Kreise, dass überhaupt ein Kreuz auf einem Bild vorkommt. Das ist lächerlich. Die Gretchenfrage hat aus erkenntnistheoretischen Gründen in der Kunst nichts zu suchen, was seit gut 250 Jahren Common sense in der philosophischen Ästhetik ist. Ästhetisch-künstlerisch mag man untersuchen, wie es mit der Religion steht, aber was der einzelne Künstler religiös glaubt (und das ist ja die Gretchenfrage), ist allenfalls anekdotisch interessant. Soweit zum Konstrukt der Ausstellung.


Was die Exponate betrifft, so würde mich schon interessieren, inwiefern z.B. Artur Żmijewskis Singing Lesson ein Indiz für einen katholischen Faktor ist? Die Musik des Lutheraners Bach von einem Gehörlosenchor singen zu lassen, ist sicher eines der beeindruckendsten Werkkonzepte, die ich kenne. Aber was ist daran nun der „katholische Faktor“? Man wird doch nicht im Ernst die Tatsache, dass es sich um Kirchenmusik handelt, gleich für das Katholische reklamieren wollen? Oder liegt es daran, dass der Künstler ein katholischer Pole ist? Und Joseph Beuys? In seinem Hauptwerk hat sich Beuys mit Humanismus, Sozialphilosophie und Anthroposophie auseinandergesetzt, da wird nur schwer ein katholischer Faktor draus. Und bei einigen Künstlern habe ich die Vermutung, sie sind nur in die Ausstellung gekommen, weil sie zur Münchener Szene gehören. Das wäre nicht gut, würde aber die Beliebigkeit einiger Exponate erklären.

Bleibt der vorgebliche Skandal um das Ausstellungsplakat. Die Süddeutsche schreibt ganz ambivalent: „Ausstellung löst Kirchen-Kontroverse aus“ und zitiert dann aus der zur KNA-Meldung zwei kontroverse katholische Stellungnahmen. Der Leiter der Kunstsammlungen des Bistums Regensburg, Hermann Reidel, nannte das Ausstellungsplakat "ekelerregend". Der Regensburger Künstlerseelsorger und Domvikar Werner Schrüfer verteidigte dagegen Ausstellung und Plakat. Kunst könne dazu ermuntern, genau hinzuschauen, sagte der Geistliche.

Ekelerregend finde ich das Plakat nicht (da sollte man mal Daxelmüllers „Süße Nägel der Passion“ lesen), eher platt und sensualistisch. Wenn es symbolhaft für den Inhalt der Ausstellung steht – den katholischen Faktor -, dann würde dieses den bildgebenden Impuls des Katholizismus auf die gegenreformatorische Wirkungsästhetik fixieren. Da hoffe ich doch, dass der Katholizismus mehr zu bieten hat. Katholische Fachleute wie Otto Maurer, Günter Rombold, Friedhelm Mennekes oder Karl-Josef Maßen haben jedenfalls gezeigt, dass es hier ganz andere Wege und Lösungen gibt. Daran sollte man wieder anknüpfen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/58/am283.htm
© Andreas Mertin, 2009