Regulativ für den evangelischen Kirchenbau

Eisenach 1861

1.
Jede Kirche sollte nach alter Sitte orientirt, d. h. so angelegt werden, dass ihr Altarraum gegen den Sonnenaufgang liegt.

2.
Die dem evangelischen Gottesdienst angemessenste Grundform der Kirche ist ein längliches Viereck. Die äussere Höhe, mit Einschluss des Hauptgesimses, hat bei einschiffigen Kirchen annähernd 3/4 der Breite zu betragen, während es um so mehr den auf das akustische Bedürfnis zu nehmenden Rücksichten entspricht, je weniger die Länge das Maass seiner Breite überschreitet.

Eine Ausladung im Osten für den Altarraum (Apsis, Tribüne, Chor) und in dem östlichen Theile der Langseiten für einen nördlichen und südlichen Querarm gibt dem Gebäude die bedeutsame Anlage der Kreuzgestalt. Von Centralbauten ohne Kreuzarmansätze ist das Achteck akustisch zulässig, die Rotunde als nicht akustisch zu verwerfen.

3.
Die Würde des christlichen Kirchenbaues fordert Anschluss an einen der geschichtlich entwickelten christlichen Baustyle und empfiehlt in der Grundform des länglichen Vierecks neben der altchristlichen Basilika und der sogenannten romanischen (vor-gothischen) Bauart vorzugsweise den sogenannten germanischen (gothischen) Styl.

Die Wahl des Bausystems für den einzelnen Fall sollte aber nicht sowohl dem individuellen Kunstgeschmack der Bauenden als dem vorwiegenden Charakter der jeweiligen Bauweise der Landesgegend folgen. Auch sollten vorhandene brauchbare Reste älterer Kirchengebäude sorgfältig erhalten und maassgebend benutzt werden. Ebenso müssen die einzelnen Bestandtheile des Bauwesens in seiner inneren Einrichtung, von dem Altar und seinen Gefässen bis herab zum Gestühl und Geräthe, namentlich auch die Orgel, dem Stil der Kirche entsprechen.

4.
Der Kirchenbau verlangt dauerhaftes Material und solide Herstellung ohne täuschenden Bewurf oder Anstrich. Wenn für den Innenbau die Holzconstruktion gewählt wird, welche der Akustik besonders in der Überdachung günstig ist, so darf sie nicht den Schein eines Steinbaues annehmen. Der Altarraum ist jedenfalls massiv einzuwölben.

5.
Der Haupteingang der Kirche steht am angemessensten in der Mitte der westlichen Schmalseite, so dass von ihm bis nach dem Altar sich die Längenaxe der Kirche erstreckt.

6.
Ein Thurm sollte nirgends fehlen, wo die Mittel irgend ausreichen, und wo es daran dermalen fehlt, sollte Fürsorge getroffen werden, dass er später zur Ausführung komme. Zu wünschen ist, dass derselbe in einer organischen Verbindung mit der Kirche stehe, und zwar der Regel nach über dem westlichen Haupteingange zu ihr.

Zwei Thürme stehen schicklich entweder zu den Seiten des Chors oder schliessen sie die Westfront der Kirche ein.

7.
Der Altarraum (Chor) ist um mehrere Stufen über den Boden des Kirchenschiffes zu erhöhen. Er ist gross genug, wenn er allseitig um den Altar den für die gottesdienstlichen Handlungen erforderlichen Raum gewährt.

Anderes Gestühl, als etwa für die Geistlichen und den Gemeindevorstand, und, wo der Gebrauch es mit sich bringt, der Beichtstuhl, gehört nicht dorthin. Auch dürfen keine Schranken den Altarraum von dem Kirchenschiffe trennen.

8.
Der Altar mag je nach liturgischem und akustischem Bedürfniss mehr nach vorne oder rückwärts, zwischen Chorbogen und Hinterwand, darf aber nie unmittelbar (ohne Zwischendurchgang) vor der Hinterwand des Chors aufgestellt werden. Eine Stufe höher als der Chorboden muss er Schranken, auch eine Vorrichtung zum Knieen für die Confirmanden, Communikanten, Copulanden u.s.w. haben.
Den Altar hat als solchen, soweit nicht confessionelle Gründe entgegenstehen, ein Crucifix zu bezeichnen, und wenn über dem Altartische sich ein architektonischer Aufsatz erhebt, so hat das etwa damit verbundene Bildwerk, Relief oder Gemälde, stets nur eine der Hauptthatsachen des Heils darzustellen.

9.
Der Taufstein kann in der innerhalb der Umfassungswände der Kirche befindlichen Vorhalle des Hauptportals oder in einer daranstossenden Kapelle, sodann auch in einer eigens dazu hergerichteten Kapelle neben dem Chor stehen. Da, wo die Taufen vor versammelter Gemeinde vollzogen werden, ist seine geeignetste Stellung vor dem Auftritt in den Altarraum. Er darf nicht ersetzt werden durch einen tragbaren Tisch.

10.
Die Kanzel darf weder vor noch hinter oder über dem Altar, noch überhaupt im Chore stehen. Ihre richtige Stellung ist da, wo Chor und Schiff zusammenstossen, an einem Pfeiler des Chorbogens nach aussen (dem Schiffe zu); in mehrschiffigen grossen Kirchen an einem der östlicheren Pfeiler des Mittelschiffs. Die Höhe der Kanzel hängt wesentlich von derjenigen der Emporen (13) ab, und ist überhaupt möglichst gering anzunehmen, um den Prediger auf und unter den Emporen sichtbar zu machen.

11.
Die Orgel, bei welcher auch der Vorsänger mit dem Sängerchor seinen Platz haben muss, findet ihren natürlichen Ort dem Altar gegenüber am Westende der Kirche auf einer Empore über dem Haupteingang, dessen perspektivischer Blick auf Schiff und Chor jedoch nicht durch das Emporengebälke beeinträchtigt werden darf.

12.
Wo Beicht- oder Lehrstuhl (Lesepult) sich findet, da gehört jener in den Chor (7), dieser entweder vor den Altar auf eine der Stufen, die aus dem Schiffe zum Chor emporführen, doch so, dass der Blick der Gemeinde nach dem Altar nicht verhindert werde, oder an einen Pfeiler des Chorbogens, um für den Zweck der Katechese, Bibelstunde u. dgl. vor den Altar hingerückt zu werden.

13.
Emporen, ausser der westlichen (11), müssen, wo sie unvermeidlich sind, an den beiden Langseiten der Kirche so angebracht werden, dass sie den freien Überblick der Kirche nicht stören. Auf keinen Fall dürfen sie sich in den Chor hineinziehen. Die Breite dieser Emporen, deren Bänke aufsteigend hintereinander anzulegen sind, darf, soweit nicht die Ausladung von Kreuzarmen eine grössere Breite zulässt, 1/3 der ganzen Breite der Kirche, ihre Erhebung über den Fussboden der Kirche 1/3 der Höhe derselben im Lichten nicht überschreiten. Von mehreren Emporen über einander sollte ohnehin nicht die Rede seyn. Bei der Anlage eines Neubaues, worin Emporen vorgesehen werden müssen, ist es sachgemäss, statt langer Fenster, welche durch die Empore unterbrochen würden, über der Empore höhere Fenster, die zur Erhellung der Kirche dienen, unter der Empore niedrigere Fenster zur Erhellung des nächsten von der Empore beschatteten Raumes anzubringen.

14.
Die Sitze der Gemeinde (Kirchenstühle) sind möglichst so zu beschaffen, dass von ihnen aus Altar und Kanzel zugleich während des ganzen Gottesdienstes gesehen werden können.

Vor den Stufen des Chors ist angemessener Raum frei zu lassen. Auch ist je nach dem gottesdienstlichen Bedürfnis ein breiter Gang mitten durch das Gestühl des Schiffes nach dem Haupteingange zu, oder, wo kein solches Bedürfniss vorliegt, sind 2 Gänge von angemessener Breite an den Pfeilern des Mittelschiffes oder an den Trägern der Emporen hin anzulegen. Die Basen der Pfeiler sollen nicht durch Gestühl eingefasst werden.

15.
Die Kirche bedarf einer Sakristei, nicht als Einbau, sondern als Anbau, neben dem Chor, geräumig, hell, trocken, heizbar, von kirchenwürdiger Anlage und Ausstattung.

16.
Vorstehende Grundsätze für den evangelischen Kirchenbau sind von den kirchlichen Behörden auf jeder Stufe geltend zu machen, den Bauherren rechtzeitig zur Kenntnis zu bringen und der kirchenregimentlichen Prüfung, beziehungsweise Berichtigung, welcher sämtliche Baurisse unterstellt werden müssen, zugrunde zu legen.


Gutachten des preussiscken Ministeriums der geistlichen Angelegenkeiten, Abtheilung für das Bauwesen im König/. Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentl Arbeiten vom 17. 12. 1861 zum Regulativ.

Die wesentlichsten Punkte dieses Gutachtens, in dem offenbar Stüler seine, auf reifere Erfahrungen im Kirchenbau gestützte, abweichende Ansicht nachträglich zur Geltung gebracht hat, lauten, wie folgt:

„Zu § 2. Die Grundform der Kirchen ist von ihrer Grosse und von der Gestalt des Bauplatzes abhängig. Im allgemeinen erscheint für kleine Kirchen die oblonge Form als die zweckmässigste und am wenigsten kostspielige. Für größere Kirchen, namentlich solche mit ausgedehnten Emporen, ist die Kreuzgestalt, mit gleichen Armen (griechisches Kreuz) oder mit angebautem Langsschiff (lateinisches Kreuz) und der Centralbau zu empfehlen."

„Zu § 5. Die Anordnung der Eingänge ist häufig von den Wegen, die zur Kirche führen, abhängig. Eingänge an verschiedenen, besonders an einander gegenüberliegenden Seiten, sind wegen des unvermeidlichen Zuges und Raumaufwandes nicht günstig. Die Anordnungen von Vorhallen, mindestens von Windfängen, sind meistens unerlässlich.“

„Zu § 6. Die empfohlene Stellung des Thurmes vor dem westlichen Giebel entspricht nicht immer der Örtlichkeit und ist deshalb in keiner Zeit unbedingt festgehalten worden. Auch missbilligte Se. Majestät der hochselige König Friedrich Wilhelm IV. eine solche Stellung häufig deshalb, weil dadurch die architektonische Ausbildung des Hauptgiebels der Kirche verloren geht, auch, zumal bei Landkirchen, eine freiere, landschaftlichere Gruppierung der Gebäude-Massen der streng architektonischen nicht selten vorzuziehen ist. Jedenfalls sollte die Stellung des Thurmes zurseite des westlichen oder östlichen Giebels um so weniger ausgeschlossen bleiben, als in beiden Fällen die verschiedenen Räumlichkeiten desselben mit der Gesamtanlage in zweckmässige Verbindung gebracht werden können."

„Zu § 10. Wenn es im allgemeinen gewiss richtig ist, dass die Kanzel ihre Stelle nicht im Chore selbst, sondern zunächst demselben im Schiff erhalten muss, so wird doch diese Regel bei kleinen Kirchen nicht immer festzuhalten sein. Der meist beschränkte Altarbogen erlaubt hier nicht immer das Vorrücken der Kanzel in denselben, und wiederum bieten, zumal bei Anlage von Seitenemporen, die kurzen Seitenwände des ersteren keinen Raum für die Kanzel mit ihrer Treppe, so dass es in solchen Fällen kaum vermeidlich ist, die Aufstellung der Kanzel an der östlichen Chorwand zu gestatten, eine Anordnung, welche neben dem Vorzuge der Symmetrie noch den einer guten akustischen Wirkung für sich hat. Jedoch muss dafür gesorgt werden, dass die Kanzel nicht zu hoch über dem Altar sich erhebe und noch einen freien Umgang um denselben gestatte. Nach Bunsen würde diese Stellung dem altchristlichen Gebrauch entsprechen, nach welchem der Bischof von seinem Sitz hinter dem Altar aus zur Gemeinde sprach."

„Zu § 13. Die Emporen sind nicht als willkürliche Einbaue zu behandeln, sondern möglichst organisch mit der Struktur der Kirche zu verbinden. Unter denselben sind Fenster nur bei einer das Maass von 8 Fuss überschreitenden Tiefe derselben und bei verhältnismäßig großer Breite und geringer Höhe der Kirche selbst, wobei die gegenüber liegenden oberen Fenster den Raum unter den Emporen nicht hinreichend beleuchten, nothwendig. Die Erhebung der hinteren Sitzreihen über die vorderen muss 7 — 8" betragen."

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/58/prog03.htm
© 2009