Leitsätze der XXIX. Deutschen Evangelischen Kirchen-Konferenz
Eisenach 1908
1.
Der Bauplatz der Kirche soll, wenn irgend möglich, eine freie Lage mit bequemen Zugängen von mehreren Seiten haben. Ist ein solcher Bauplatz nicht zu beschaffen, so ist jedenfalls dafür zu sorgen, daß die Würde der Kirche gewahrt und das Bauwerk durch die Nachbargebäude möglichst wenig beeinträchtigt wird. Namentlich ist darauf zu sehen, daß der Gottesdienst durch die Nachbarschaft nicht Belästigungen durch aussergewöhn-lich geräuschvolle Gewerbebetriebe ausgesetzt ist. Soweit Lage und Beschaffenheit des Bauplatzes nicht auf eine andere Richtung weisen, empfiehlt sich die Berücksichtigung der alten Sitte, nach welcher der Altarraum der Kirche (Chor) gegen Sonnenaufgang liegt.
2.
Bei der Anlage des Gebäudes ist vorzüglich auf Herstellung eines würdigen Raumes Bedacht zu nehmen, in welchem die zum Gottesdienste versammelte Gemeinde möglichst von jedem Platz aus Kanzel und Altar sehen und den dort das Amt verwaltenden Geistlichen gut verstehen kann.
Auf die Gestaltung des Grundrisses wird neben der Grosse der Kirche sowie der Gestalt und Lage des Bauplatzes die beabsichtigte Anordnung des Gestühls von besonderem Einfluss sein.
3.
Die Würde des evangelischen Kirchengebäudes verlangt ernste und edle Einfachheit in Gestalt und Farbe; auf den vorwiegenden Charakter der Bauweise der Landesgegend und auf die örtliche Umgebung der Kirche ist besonders mit zu achten.
Die einzelnen Bestandteile des Neubaues und seine innere Einrichtung sollen ein einheitliches Ganze bilden.
Bei Erweiterungsbauten sind brauchbare Reste älterer Kirchengebäude und Einrichtungen sorgsam zu schonen und nach Möglichkeit massgebend zu benutzen. Ebenso sind ältere Einrichtungsgegenstände ohne Rücksicht auf die Übereinstimmung des Stils gewissenhaft zu erhalten.
4.
Der Kirchenbau erfordert dauerhaftes Material und gediegene Herstellung.
Gegen die Anwendung der Holzkonstruktionen, die der Akustik günstig zu sein pflegen, ist besonders für die Bildung von Decken und Emporen nichts einzuwenden.
5.
Inwieweit die für die Verkehrssicherheit in öffentlichen Gebäuden erlassenen allgemeinen polizeilichen Bestimmungen auf die Kirchengebäude anzuwenden sind, ist in jedem einzelnen Falle sorgfältig zu erwägen.
6.
Wo die Mittel irgend vorhanden sind, sollte ein Turm nicht fehlen. Bei kleineren Kirchen genügt ein Dachturm. Zu wünschen ist, daß der Turm oder die Türme in organischer Verbindung mit dem Kirchengebäude stehen. Bei Zentralbauten wird sich der Turm oft durch entsprechende Bildung des Daches ersetzen lassen.
7.
Wird ein besonderer Altarraum angelegt, so soll er wo irgend möglich für Abendmahlsfeiern, Konfirmationen und Trauungen genügenden Platz gewähren. Es kommt dabei weniger auf Tiefe als auf Breite, namentlich nach dem Schiff der Kirche hin, an. Der Altarraum ist über dem Boden des Kirchenschiffes mindestens um eine Stufe zu erhöhen und darf vom Kirchenschiff nicht durch Schranken getrennt werden. Emporen sollen im Altarraum im allgemeinen nicht angebracht werden; wohl aber ist unter Umständen offenes oder geschlossenes Gestühl (für Älteste, Pfarrerfamilie usw.) aus praktischen und künstlerischen Gründen zulässig. Soweit die Grundform des Gebäudes nicht entgegensteht, ist, besonders bei größeren Kirchen, der Altarraum auch von aussen erkennbar zu gestalten. In den Altarraum darf von aussen unmittelbar kein Eingang führen.
8.
Sofern die Grosse des Altarraumes es zulässt, ist der fuss des Altars mindestens um eine breite Stufe über den Boden des Altarraumes zu erhöhen. Auf den Altar gehört, soweit nicht konfessionelle Gründe entgegenstehen, ein Kruzifix. Wenn sich über dem Altartische ein architektonischer Aufsatz erhebt, so empfiehlt es sich, in dem etwa damit verbundenen Bildwerk oder Gemälde eine der Haupttatsachen des Heils darzustellen.
9.
Falls nicht ein besonderer Raum als Taufkapelle eingerichtet wird, ist dem Taufstein ein seiner gleichmässigen Bedeutung neben Kanzel und Altar entsprechender Platz im Innern der Kirche vor den Stufen zu dem Altarraum oder auch an einer Seite desselben zu geben.
10.
Bei der Wahl des Standorts der Kanzel ist hauptsächlich darauf Bedacht zu nehmen, dass der auf der Kanzel stehende Prediger möglichst in allen Teilen der Kirche von der Gemeinde gesehen und verstanden werden kann. Wenn irgend möglich, ist der Platz der Kanzel so zu wählen, dass nicht ein Teil der Gemeinde hinter dem Rücken des Predigers zu sitzen kommt. Zu vermeiden ist, dass Emporen dicht an die Kanzel heranrücken.
11.
Die Empore für die Orgel und den Sängerchor hinter den Altar und die Kanzel zu legen, kann, obwohl sich Bedenken dagegen erheben lassen, nicht als unzulässig bezeichnet werden. Bei Herstellung der Emporen ist darauf zu achten, dass für den Sängerchor der erforderliche Raum vorhanden ist.
12.
Wo ein Lesepult vorhanden ist gehört es entweder vor den Altar auf eine der Stufen, die aus dem Schiff zum Altarraum emporführen, oder an einen Pfeiler des Chorbogens. Für die Zwecke der Katechese, Bibelstunde oder dergl. ist es vor den Altar zu rücken.
13.
Die Anlage von Emporen in massiger Tiefe wird vielfach geboten sein.
Liegen die Emporentreppen in besonderen Treppenhäusern, so müssen diese ausser dem Ausgange nach aussen auch eine in das Kirchenschiff führende Tür besitzen.
14.
Bei Anordnung des Gestühls im Schiffe der Kirche und auf den Emporen ist der leichte Verkehr nach den Ausgängen zu sichern. Vor den Stufen des Altarraumes ist ein angemessener Raum von festem Gestühl freizulassen. Bänke mit mehr als 8 Sitzplätzen bedürfen von beiden Seiten eines Zuganges.
15.
Als notwendiger Nebenraum ist in jeder Kirche die Sakristei anzusehen, die angemessen gross, hell, trocken, heizbar, von würdiger Anlage und Ausstattung hergestellt und, wo ein solcher vorhanden ist, neben dem Altarraum angeordnet und mit einem Ausgang in das Freie versehen werden muss.
Ausser ihrem Hauptzweck, dem Geistlichen zur Sammlung und Vorbereitung für den Gottesdienst, sowie zur Bereithaltung der Geräte und Bücher für ihn zu dienen, kann sie namentlich in Filialkirchen auch als Sprechzimmer für den Seelsorger gebraucht und eingerichtet werden.
Bei grösseren Kirchen ist der Anschluss eines Raumes für Bibelstunden, Kindergottesdienst und Konfirmandenunterricht an die Kirche erwünscht, der nach Bedürfnis auch für die Versammlung der Hochzeisgäste und für Sitzungen der Kirchengemeindeorgane verwendet werden kann.
Die angemessene bauliche Verbindung der Kirche mit Pfarrhaus, Küsterwohnung und Gemeindehaus ist nach Lage der örtlichen Verhältnisse nicht zu beanstanden.
16.
Bei Neubauten ist überall auf Heizbarkeit der Kirche Bedacht zu nehmen. Die hierfür erforderlichen Einrichtungen dürfen die kirchliche Würde des Bauwerks nicht beeinträchtigen.
Bei der zunehmenden Bedeutung der Abendgottesdienste ist überall für eine angemessene Beleuchtung der Kirche Sorge zu tragen.
Bei der Anlage von Sammelheizungen ist für eine angemessene Entlüftung des Kirchenraumes zu sorgen. Im übrigen sind stets Luftscheiben in genügender Zahl und sogenannte Sommertüren vorzusehen.
17.
Bei der Ausgestaltung des Kircheninnern ist Überladung fernzuhalten. Dagegen soll auf angemessenen Schmuck in Form und Farbe, besonders bei den Einrichtungsgegenständen, sowie auf sinnbildliche Zier nicht verzichtet werden. Nachahmungen der nur für katholische Kirchen geeigneten Formen sind bei der religiösen Symbolik des Zierates zu vermeiden. Mit figürlichen Darstellungen ist da, wo geeignete Kräfte zu ihrer Ausführung nicht vorhanden und die Mittel beschränkt sind, vorsichtig zurückzuhalten. Es empfiehlt sich, bei Ausstattung mit kirchlichem Schmuck, Geräten und Bekleidungsgegenständen anstatt fabrikmässig hergestellter Ware sich individuell schaffender Künstler zu bedienen.
Durch Glasmalerei darf die erforderliche Helligkeit nicht beeinträchtigt werden. Bei kleineren Kirchen werden die Glasgemälde im allgemeinen auf den Altarraum zu beschränken sein. Vor überflüssigen und minderwertigen Glasmalereien ist zu warnen. Geschichtliche Darstellungen sollen vorwiegend der biblischen Geschichte, möglichst nach einem einheitlichen Plane geordnet, entnommen werden. Wo grössere Mittel aufgewendet werden können, sollten sie statt für Prunk und Luxus für hervorragende Kunstwerke der Freskomalerei und Plastik verwendet werden.
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