Kundgebung der Synode der EKD

Leipzig 2003 - Der Seele Raum geben

Kundgebung der 10. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihrer 1. Tagung zum Sachthema

Der Seele Raum geben - Kirchen als Orte der Besinnung und Ermutigung

Kirchen dienen der christlichen Gemeinde zum Gottesdienst. Dazu sind sie gebaut. Aber sie sind mehr: Sie haben eine Ausstrahlungskraft weit über die Gemeinden hinaus, denen sie gehören.

Wer eine Kirche aufsucht, betritt einen Raum, der für eine andere Welt steht. Ob man das Heilige sucht, ob man Segen und Gottesnähe sucht oder schlicht Ruhe, ob ästhetische Motive im Vordergrund stehen - immer spricht der Raum: Durch seine Architektur, seine Geschichte, seine Kunst, seine Liturgie. Kirchen sind Orte, die Sinn eröffnen und zum Leben helfen können, Orte der Gastfreundschaft und Zuflucht. Sie sind Räume, die Glauben symbolisieren, Erinnerungen wach halten, Zukunft denkbar werden lassen, Beziehungen ermöglichen: zu sich selbst, zur Welt, zu Gott.

Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beriet über die Bedeutung der Kirchenräume für das Leben der Menschen heute. Sie stellt sich damit ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Sie knüpft an die Leipziger Erklärung des 24. Evangelischen Kirchbautags vom 31. Oktober bis 3. November 2002 an: "Nehmt eure Kirche wahr!"

Ich habe lieb die Stätte deines Hauses ... (Psalm 26, 8)

Dazu müssen Kirchen zugänglich sein. Geöffnete Kirchen sollen Orte des Friedens und Zuflucht für Bedrückte sein. Hier kann die Seele durchatmen und Kraft schöpfen für den Alltag. Die Synode begrüßt, dass evangelische Kirchen zunehmend auch außerhalb der Gottesdienstzeiten offengehalten werden. Sie bittet die Gemeinden, die sich dazu noch nicht entschließen konnten, diesem Beispiel zu folgen. Sicherheitsüberlegungen müssen ausreichend berücksichtigt werden. Sie dürfen aber nicht allein bestimmend sein.

Die Synode ermutigt die Gemeinden, Kirchen neu als öffentliche Räume zu begreifen, als Orte, an denen man in erster Linie, aber nicht nur, durch den Gottesdienst Vertrautem und Gewohntem, sondern auch Fremdem und Neuem begegnen kann. Das gilt für den öffentlichen Diskurs, für die Künste, für das Theater und andere Ereignisse.

Besonders in Orten mit mehreren Kirchen kommt es darauf an, jeweils spezifische Aufgaben und Möglichkeiten zu erkunden. Eine Kirche kann als City-Kirche, als Diakonie-Kirche, Jugendkirche, Musikkirche und Meditationsraum neue Akzente setzen. Der Erfahrungsaustausch hierüber muss intensiviert werden, damit gelungene Modelle von anderen leichter aufgegriffen werden können.

Jeder Kirchenraum kann durch überraschende, mitunter stark verfremdende Inszenierungen und Installationen neue Zugänge zum Glauben und neue Erfahrungen mit der Wirklichkeit erschließen. Kirche muss freilich immer als Gottesdienstraum erkennbar bleiben. Die Geschichte Gottes mit den Menschen, seine Rettungstaten und der Lobpreis seiner Gemeinde müssen deutlich vernehmbar bleiben.

Es ist einer Kirche anzumerken, ob in ihr eine Gemeinde lebt und dass oft schon viele Generationen dort geglaubt und gebetet, Gott gelobt oder ihm ihr Leid geklagt haben. Eine Gemeinde, die ihre Kirche nutzt und mit Leben füllt, erbringt die wirksamste Leistung zu ihrer Erhaltung. Die Gemeinden können erwarten, dass sie bei ihrer Fürsorge für ein Gotteshaus gesellschaftliche Unterstützung erfahren. Das bedeutet auch: Die ohnehin unzureichenden Mittel, die für die Denkmalpflege zur Verfügung stehen, dürfen auf keinen Fall weiter gekürzt werden.

Die Synode dankt den Gemeinden für die Anstrengungen, die sie zum Erhalt ihrer Kirchen und für die Gestaltung der Innenräume unternehmen. Sie dankt allen öffentlichen und privaten Förderern und ermutigt die Kirchengemeinden, in den Sakralgebäuden neben der Last, die sie in mancher Hinsicht darstellen, verstärkt die Chancen zu entdecken, die in ihnen stecken.

Wenn allerdings zwischen der Chance und der Last ein aussichtsloses Missverhältnis besteht, muss auch von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden können, eine Kirche aufzugeben. In diesem Fall soll darauf geachtet werden, dass die neue Nutzung zu der Würde, die ein Gotteshaus einmal gehabt hat und für viele Menschen behält, nicht in krassen Gegensatz gerät.

Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind ... (Matthäus 18, 20)

Besonders bieten sich unsere Kirchen für musikalische Aktivitäten und Erfahrungen an. Sie sind seit jeher so ausgestattet, dass in ihnen gesungen und musiziert wird. Musik ist die Sprache, die Menschen unterschiedlicher Überzeugungen zusammenführen kann; für viele Menschen bildet sie einen einzigartigen Zugang zu Glaubenserfahrungen.

Eine erweiterte Nutzung der Kirchen für Konzerte, Ausstellungen und Versammlungen ist von der Sache her und um der hohen Erhaltungskosten willen sinnvoll. Die Veranstaltungen müssen sich jedoch mit dem Charakter eines christlichen Gotteshauses vertragen und zum Dialog mit dem Raum bereit sein. Wenn ein Kontrast entsteht, muss die Möglichkeit gegeben sein, diesen öffentlich zur Sprache zu bringen und darüber in ein Gespräch einzutreten.

Es ist eine schöne und notwendige Aufgabe, den Besuchern einer Kirche deren Funktionen, ihre Ausstattung, die Sprache ihrer Kunstschätze zu deuten und inhaltlich aufzuschließen. Darin drückt sich auch die Gastfreundlichkeit einer Kirchengemeinde aus. Die Synode bittet die Gemeinden, die Kirchenpädagogik und die Schulung interessierter Gemeindeglieder weiter zu fördern. Speziell im Blick auf Kinder gibt es gute Anleitungen, die noch mehr in Anspruch genommen werden sollten.

Davon unabhängig werden zunehmend Räume entdeckt, in denen sich Gemeinde in neuen Formen sammelt und präsentiert. In der Öffentlichkeit wird dies z.B. in einem Kirchenladen, bei Kunstgottesdiensten in einem Museum, durch Lichterketten und Mahnwachen an Gedenkstätten und Einsatz für Verfolgte sichtbar. Auch Gottesdienste im Freien erfreuen sich wachsender Beliebtheit. All dies ist Ausdruck des Bedürfnisses, sich als Gemeinde Jesu Christi nicht hinter Kirchenmauern zurückzuziehen.

Suchet der Stadt Bestes ... (Jeremia 29, 7)

Oft stehen Kirchen mitten im Ort. Dort gehören sie auch hin, weil die christliche Gemeinde in der Mitte der Gesellschaft ihren Ort hat - hellhörig für das, was Menschen bewegt und in ihrer Hörweite, um ihnen das Wort zu sagen, das wie die Kirchtürme auf eine andere Dimension unseres Lebens weist: das Wort Gottes.

Kirchen gehören zur Silhouette eines Dorfes, einer Stadt, das Geläut bildet die akustische Signatur. Oft gehören Kirchengebäude ausdrücklich zu den Wahrzeichen der Orte, mit denen sich ihre Einwohner identifizieren - auch solche, die nicht Kirchenmitglieder sind. So sind Kirchen auch ein Gedächtnis des Gemeinwesens.

In besonderen Stunden haben sich unsere Kirchen immer wieder als Stätten gemeinsamen Empfindens, gemeinsamer Freude und Ermutigung im Leid bewährt. An den Festen des Kirchenjahres und an den freudigen und leidvollen Wendepunkten des Lebens, aber auch in Umbruchs- und Krisensituationen, die das Gemeinwesen als Ganzes betreffen, wird dies deutlich - wie an den Ereignissen von 1989 oder nach dem 11. September 2001 oder während des jüngsten Krieges im Irak.

Im Rückgriff auf biblische Texte und überlieferte Formen wird Sprachlosigkeit überwunden, werden lösende und versöhnende Worte gefunden, als Ausdruck von Freude und Dankbarkeit, als Ausdruck des Entsetzens über Schicksalsschläge und Katastrophen, über menschliche Bosheit oder die Ambivalenz des technischen Fortschritts. In solchen Stunden zieht es Menschen in die Kirchen als Orte, an denen sie in christlicher Symbolsprache Empfindungen ausdrücken können und sich getragen wissen. Ohne Anspruch auf Alleinbesitz des Evangeliums Jesu Christi und mit dem Schatz ihrer Glaubenserfahrung leiht die Kirche dem Entsetzen und Schrecken, der Angst, dem Leid und der Trauer, aber auch der Freude und dem Jubel Form und Sprache.

Halten wir unsere Kirchen wert! Die Synode lädt ein, sich über Grenzen der Kirchenzugehörigkeit hinaus an den gesellschaftlichen Stellenwert der Kirchenräume zu erinnern. Die Kirche muss sich bewusst werden, dass ihr Platz in der Mitte der Gesellschaft ist. Die Synode der EKD tritt dafür ein, diesen Platz mutig zu gestalten. Sie ruft die gesellschaftliche Öffentlichkeit auf, die Gemeinden bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe zu unterstützen.

Leipzig, den 25. Mai 2003
Die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/58/prog15.htm
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