Der ganz normale Antijudaismus?

Überlegungen zur Ethik der Kunst

Andreas Mertin

Als Papst Benedikt XVI. die Karfreitagsliturgie mit der Bitte um die Bekehrung der Juden für die neuerliche Verwendung modifiziert freigab, da herrschte weltweit helle Aufregung, weil das als Rückfall in antijudaistische Klischees verstanden wurde.

Wenn dagegen auf Tafelbildern und an Kirchenportalen Juden in erkennbar antisemitischer Weise dargestellt und herabgesetzt werden (wie etwa auf der nebenstehenden Abbildung), dann ist das nur „Ausdruck des christlichen Kunstverständnisses“ der damaligen Zeit. Landauf, landab finden wir in christlichen Kirchen herabsetzende Darstellungen von Juden oder Gegenüberstellungen der blinden Synagoge zur wahren Ecclesia. Und kaum jemand fordert, diese Darstellungen aus den Kirchen und von den Kirchenportalen zu entfernen und in Museen der kritischen Diskussion und Reflexion zugänglich zu machen.

Dieselben Leute, die angesichts christlicher Kirchen von der „Predigt der Steine“ sprechen, haben offensichtlich keine Probleme damit, wenn diese Predigt durch die vorhandenen Bilder antijudaistisch oder antisemitisch gerät. Man habe im Kirchenführer auf die unselige Problematik hingewiesen, sehe aber keine Notwendigkeit, die entsprechenden Darstellungen zu entfernen, lautet oft die Begründung. Oder man habe ein Schild unter dem Bild angebracht, das die Distanzierung vom Dargestellten beinhalte. Aber natürlich geht man Sonntag für Sonntag durch das Kirchenportal, an dem Juden mit Hakennasen und Spitzhüten als beifällige Beobachter der Geißelung Christi dargestellt werden. Oder auf denen auf Darstellungen alttestamentlicher Szenen Juden mit mittelalterlichen Judenhüten ausgestattet werden. Man beachte die Bilder doch gar nicht, heißt es, und wenn man sie jetzt diskutiere, würde man ihnen nur eine unangemessene Aufmerksamkeit zu Teil werden lassen. Was für eine kulturelle Ignoranz! Wenn die Bilder keine Bedeutung haben, kann man sie auch entfernen, wenn man sie nicht entfernen will, misst man ihnen eine bestimmte kulturelle Bedeutung zu und damit notwendig auch ihren Inhalten.

Ich vermute, der Widerstand gegen die Entfernung der Bilder liegt darin begründet, dass man ziemlich genau weiß, was alles erörtert und verändert werden müsste, wenn man sich einmal auf die Herausforderung der theologischen Prüfung der visuellen Gestaltwerdung des Christentums einlassen würde. Die aktuelle Ignoranz setzt dagegen demonstrativ auf die Wirkungslosigkeit der Bilder, verachtet sie also, und verkennt, dass Bilder jederzeit reaktualisiert werden können. Das Motiv der so genannten Judensau mag innerhalb der christlichen Kirchen heute keinerlei Bedeutung mehr haben, aber auf deutschen Fußballplätzen kann man es durchaus als verbalen Angriff noch hören. Muss man dem Vorschub leisten? Es ist merkwürdig, dass in Deutschland in den Kirchen die Symbolik des Nationalsozialismus nach 1945 aus den Kirchen entfernt wurden, nicht aber die den Antisemitismus der Nazis ermöglichenden und befördernden antijudaistischen und antisemitischen Bilder. Das gibt dann doch zu denken.

Ich kann nicht erkennen, welche theologischen Gründe die Beibehaltung dieser Darstellungen rechtfertigen. Alles an diesen Bildern ist falsch: das Dargestellte, die Ideologie und die Verbindung mit der christlichen Theologie. Wenn man auch nur für eine Sekunde den Gedanken von den Kirchen als Zeichen in der Stadt ernst nimmt, dann gehören die Darstellungen sofort entfernt, aber nicht um sie wegzusperren, sondern um an jenem Ort, an dem wir über Geschichte und deren kulturelle Vergegenwärtigungen diskutieren – dem Museum – in den  Diskurs über die Judenverfolgung durch das Christentum einzutreten.

Im Bremen wurde nun zum Kirchentag auf die antisemitischen Darstellungen an den Domtüren mit einer Gedenktafel reagiert. Vor sechs Jahren hatte ein jüdischer Besucher des Doms gegen die fortwährende Herabsetzung seines Glaubens durch die Darstellungen protestiert und so lange hat die christliche Gemeinde gebraucht, um einzusehen, dass er recht hat. Freilich empfinde ich die gewählte Lösung der Distanzierung durch eine Gedenktafel als absolut unbefriedigend. Diese Türen gehören entfernt, sie sind ein fortwährender Skandal in ihrer Existenz am Bremer Dom. Sie gehören freilich nicht eingeschmolzen, sondern müssen dem kritischen Diskurs zugeführt werden, denn sie sind ein exzellentes Lehrbeispiel dafür, was im Denken des Christentums bis heute schief gelaufen ist.

Man könnte nun, um es einmal zu pointieren und wie auch in der aktuellen Diskussion geschehen, damit argumentieren, dass doch außer Juden niemand die antisemitische Gestaltung des Bildes erkennen würde. Wenn dieses an sich schon ungeheuerliche Argument zutreffen würde – und ich will das nicht abstreiten -, dann wäre der gesamte Unterricht bundesrepublikanischer Schulen gescheitert, denn dann wären die Menschen heute nicht (mehr) in der Lage, antisemitische Stereotypen zu erkennen. Ist das so? Ich fände das erschreckend. Wenn man aber die herabsetzende Darstellung auf der Kirchentür erkennt und sie einfach für ethisch nicht so schlimm hält, was sagt man dann über den eigenen Umgang mit den antisemitischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts aus? Und wenn man die Darstellung für unerträglich hält, meint sie aber den Besuchern unter Begleitung einer Gedenktafel zumuten zu können, was sagt man dann? Alle Bilder des Künstlers mit Ausnahme der antisemitischen und antijudaistischen Teile stimmen mit unserem Glauben überein, die kritischen aber nicht? Und infizieren die antisemitischen Bilder nicht alle anderen? Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen? Geht das so einfach? Wenn Jesus auf den anderen Bildern als Nicht-Jude dargestellt ist – in welcher Tradition befinden wir uns dann?

Denn wir müssen diese Bilder auch ernst nehmen. Ja, der Kölner Künstler Peter Fuchs hat 1891 antisemitische Elemente in seine Werke eingefügt. Das war kein Fauxpas, weil man etwa Juden damals immer so darstellte, es ist Teil einer bewusst antisemitischen Tendenz der damaligen Zeit, die nicht zuletzt vom Christentum gefördert wurde und die der Künstler sich in der Gestaltung zueigen gemacht hat. Ja, Peter Fuchs hat die Judenhüte auf seinen Portaltüren immer dort eingesetzt, wo er Juden herabsetzen wollte. Nicht alle jüdischen Figuren tragen Judenhüte, Jesus nicht, die Jünger nicht, die Familie Jesu nicht, aber die „anderen“ Juden schon. Dieses „kulturelle Grundmuster“ der Judenfeindlichkeit ist dann weder bei den Auftraggebern noch bei der Gemeinde auf Widerspruch gestoßen – über 100 Jahre lang. Und sie empfinden es immer noch nicht als so skandalös, dass sie die Türen entfernen würden.

In der Zwischenzeit werden bei uns die antisemitischen und antijudaistischen Elemente der abendländischen Malerei wie pittoreske Elemente vorgeführt. Seht mal, der Judas trägt einen gelben Judenrock und hat eine Hakennase. Man erkennt ihn am Geldbeutel an seiner Seite. Indem man die visuelle Herabsetzung zu einem bloß ikonographischen Detail erklärt, führt man die antijudaistische Geschichte fort. Brechen können wir mit ihr nur, indem wir sie nicht verlängern, sondern sie aus unserer Lehre und unserem Glauben entfernen und selbstkritisch reflektieren. Wir tragen auch für unsere Kulturgeschichte dauerhaft Verantwortung. Es geht nicht um das Wegsperren der Bildern, sondern darum, sie dort zu entfernen, wo sie Teil der religiösen Verkündigung sind, und sie dort zu diskutieren, wo wir unseren Beitrag zur Geschichte reflektieren. Kein Tafelbild, auf dem Judas als verräterischer Jude dargestellt ist, gehört heute noch in eine Kirche – mögen die Kunstgeschichtler und Denkmalpfleger noch so sehr protestieren. Dies ist eine Frage der religiösen Lehre. Keine Gegenüberstellung von blinder Synagoge und wahrer Kirche gehört heute noch an ein Kirchenportal. Keine Judensau sollte an irgend einem Gebäude präsentiert werden. Keine antisemitischen und antijudaistischen Machwerke sollten christliche Kirchen zieren. Das alles sollte Common sense einer aufgeklärten Zivilgesellschaft und der christlichen Theologie der Gegenwart sein.

Sicher gibt es Grenzfälle, über die dann diskutiert werden muss. Es geht auch nicht darum, das gesamte Werk eines Künstlers zu tabuisieren, der etwa in der frühen Neuzeit antijudaistische Klischees bedient hat (bei Künstlern des 19. und 20. Jahrhunderts bin ich mir in dieser Frage freilich nicht sicher). Die Entscheidungen bei historischen Werken müssen nach dem sachlichen Gehalt des Werkes getroffen werden.

Die Kirchen sollten in dieser Frage die notwendige Sensibilität zeigen. Sie sollte mit Hilfe Ihrer Akademien Tagungen veranstalten, die eine Ethik des verantworteten Umgangs mit belasteten Werken entwickeln. Die Kirchen haben eben nicht nur zwischen 1933 und 1945 versagt, sondern auch darüber hinaus, insoweit sie auf diesem Gebiet keine Konsequenzen gezogen haben. Das sollte man nun schleunigst ändern.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/59/am287.htm
© Andreas Mertin, 2009