Einleitung

Film und Geschichte

Jörg Herrmann

„In der Erforschung des Dritten Reiches vollzieht sich gerade ein schleichender, aber unwiderrufbarer Wandel. (…) Die Augenzeugen schwinden und selbst die Ohrenzeugen sterben aus. Mit der aussterbenden Erinnerung wird die Distanz nicht nur größer, sondern verändert sie ihre Qualität. Bald sprechen nur noch die Akten, angereichert durch Bilder, Filme, Memoiren.“[1] In kulturwissenschaftlicher Perspektive geht es bei dem Wandel, den der Historiker Reinhard Koselleck hier in einem Text aus dem Jahr 1981 beschreibt, um den Übergang der Erinnerung aus dem kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis. Die Bedeutung des Films hat Koselleck dabei jedoch unterschätzt. Denn Dokumentar- und Spielfilme, die Vergangenes thematisieren und filmisch umsetzen, prägen unsere Wahrnehmung von Geschichte heute wie kein anderes Medium. Und gerade in letzter Zeit haben Geschichtsthemen in Film und Fernsehen Hochkonjunktur.[2] Vor diesem Hintergrund und in dieser Situation sind WissenschaftlerInnen und kritische Zeitgenossen herausgefordert, genauer hinzusehen. Mit welchen filmischen Inszenierungen von Geschichte wird das kulturelle Gedächtnis gerade programmiert?

Befinden wir uns einerseits auf einer erinnerungsgenerationellen Schwelle, so gilt andererseits und zugleich, dass wir uns auch in mediengenerationeller Hinsicht in einem Übergangsprozess befinden. Opas Gutenberg-Galaxis ist zwar noch nicht tot, aber für die jüngeren Generationen doch schon sehr viel weiter weg als noch für ihre Eltern. Die Kinder werden im Zeitalter von Audiovision und Digitalität groß. Ihr erster Zugang zu geschichtlichen Ereignissen ist oft durch das Kino vermittelt. Mir wurde das unlängst in einer Diskussion über den Film „Der Baader Meinhof Komplex“ deutlich, in der eine 18-jährige Schülerin bekannte, dass sie durch diesen Film zum ersten Mal von der RAF-Geschichte erfahren habe.

Historiker schreiben Bücher, die von Wenigen gelesen werden. Die populären und darum verbreiteten Bilder der Vergangenheit werden vom Kino erschaffen. Vermutlich sind Kino und Fernsehen die gegenwärtig wirkungsmächtigsten Vermittlungsagenturen für Geschichte – mit oder ohne Guido Knopp. Damit sind Kino und Fernsehen im Übrigen auch Medien der Identitätsarbeit von Gesellschaften. Identitätsbildung basiert ja nicht zuletzt auf Aneignungen der eigenen Geschichte. Und diese können unterschiedlich ausfallen. Der Kritiker Andreas Kilb schreibt über den Film „Der Untergang“: „Der Untergang ist im Begriff, als quasi-authentisches visuelles Zeugnis über Hitlers letzte Tage ins kollektive Bildergedächtnis einzusickern. Darin liegt vielleicht die größte Gefahr dieses Films.“[3] Kilb spricht von einer Gefahr, weil er den Film für viel zu unentschieden hält und Wim Wenders beipflichtet, der 2002 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ (21.10.2004) geschrieben hatte, dass der Film die Zuschauer in ein schwarzes Loch führe, „in dem sie auf (beinahe) unmerkliche Weise dazu gebracht werden, diese Zeit doch irgendwie aus der Sicht der Täter zu sehen, zumindest mit einem wohlwollenden Verständnis für sie“.

Eine Unentschiedenheit kann umschlagen. Auf jeden Fall ist die Frage von entscheidender Bedeutung, aus welcher Perspektive geschichtliche Ereignisse im Film inszeniert werden. Wird der Vietnamkrieg als eine Art Betriebsunfall gesehen wie in „Forrest Gump“ oder als grausames und folgenreiches Ereignis wie in „Johnny zieht in den Krieg“? Wie verhalten sich Elem Klimovs Film „Komm und sieh!“ über die Greultaten der deutschen Wehrmacht in Weißrussland zu Max Färberböcks Opferperspektive in „Anonyma. Eine Frau in Berlin“? Welche Art der Aneignung von Geschichte wird jeweils ins Werk gesetzt und vorgeschlagen? Und wie wird das filmisch umgesetzt?

Bei der Frage der Perspektive kommt neben der Ästhetik auch die Theologie ins Spiel. Denn das  Christentum ist in dieser Frage positionell. Es betrachtet die Geschichte aus der Sicht ihrer Opfer, nicht ihrer Sieger. Es hält das Gedächtnis des Leidens präsent. Vor diesem Hintergrund wird eine christlich inspirierte Filmkritik immer fragen, wie genau Filme, die historische Stoffe aufgreifen, die historischen Leidenserfahrungen der Menschen beschreiben oder wie sehr sie Geschichte im Sinne des Unterhaltungsinteresses stilisieren.

Dieses Thema hat – wie gesagt - zugleich eine ästhetische Seite. Denn wie, mit welchen Mitteln, bewegt man sich beim Aufgreifen historischer Stoffe im Spannungsfeld zwischen Dokumentation und Fiktion? Hybridität und Dokudrama scheinen Stichworte für den Trend der letzten Zeit zu sein. Authentizität lautet ein weiteres Stichwort. Die folgenden Beiträge untersuchen diese Trends und fragen anhand aktueller und klassischer Beispiele, wie Geschichte im Film zur Darstellung kommt.

Anmerkungen

[1]    Reinhart Koselleck, Nachwort zu Charlotte Beradt, Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt am Main 1981, 117.

[2]   Dafür steht eine Fülle von Titeln, u.a. „John Rabe“, „Die Krupps. Eine deutsche Familie“, „Kinder des Sturms“, bei einer Reihe von Produktionen stehen dabei deutsche Opfer im Vordergrund (Die Luftbrücke, 2005; Dresden, 2006; Die Flucht, 2007), bei anderen deutsche Täter (Der Baader Meinhof Komplex, 2008; Der Untergang, 2004; Speer und Er. Hitlers Architekt und Rüstungsminister, 2005).

[3]     Andreas Kilb, Ein Mahnmal, ein Reißer, ein Meisterwerk? Das Ende Adolf Hitlers im Kino: Der letzte Akt von Georg Wilhelm Papst und Der Untergang von Oliver Hirschbiegel im Vergleich, in: Margrit Fröhlich, Christian Schneider, Karsten Visarius (Hg.), Das Böse im Blick. Die Gegenwart des Nationalsozialismus im Film, München 2007, 87-97, 97.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/61/jh18.htm
© Jörg Herrmann, 2009