Dezember 2009

Liebe Leserinnen und Leser,

Das vorliegende Heft des Magazins behandelt das Thema Landschaften. Wir greifen damit einen Begriff auf, der seine europäisch vertraute Prägung durch die Kunst der Renaissance erfahren hat. Für das Titelbild des Hefts haben wir daher ein Gemälde ausgewählt, das eine solche klassische Renaissance-Landschaft zeigt und sie zugleich bis heute rätselhaft verschlüsselt: „Das Gewitter“  (ca. 1508) des venezianischen Malers Giorgione da Castelfranco (1478-1510), das sich heute in der Accademia in Venedig befindet. Das kleinformatige Ölbild gehört zu den „poesie“ genannten Bildern, die für einen engen Kreis von Sammlern entstanden sind. Der Venezianer Marcantonio Michiel beschreibt es seinen „Notizie d'opere di disegno“ (1530) als „kleine Landschaft mit dem Sturm, der Zigeunerin und dem Soldaten [...]“.

„Das Bild zeigt eine arkadische Landschaft mit hohen Bäumen und einem Fluss, der von einer Brücke überquert wird. Über einer Stadt mit Türmen und einer Kuppel ist ein Gewitter aufgezogen. Im Vordergrund steht ein junger Mann in zeitgenössischer modischer Kleidung mit einem Hirtenstab in der Hand, ihm gegenüber sitzt eine nackte Frau mit einem Kind an der Brust. Die beiden haben keinen Blickkontakt miteinander, die Frau jedoch schaut den Betrachter an. Die felsige Landschaft ist mit wenigen schütteren Sträuchern bewachsen, Ruinen und ein Teile einer Mauer sind zu sehen. Die Stadt, die von einem zuckenden Blitz grell beleuchtet wird, scheint menschenleer. Die Landschaft in Giorgiones Bild ist nicht mehr nur Hintergrund und von untergeordneter Bedeutung. Sie hat vielmehr vor den beiden am Rand postierten menschlichen Figuren den absoluten Vorrang und bestimmt die Atmosphäre und die Ausstrahlung des Bildes. Es dominieren tiefe Farbtöne von leuchtendem Blau und Grün, mit denen Giorgione eine fast magisch zu nennende Bildwirkung von Ruhe, Stille und Harmonie erzeugt, die auch von dem fernen Gewitter am Horizont nicht gestört wird.

Die üblichen Schlüssel für die Interpretation eines Bildes der Renaissance passen hier nicht, und das zeigt sich an der Vielzahl von unterschiedlichen Erklärungsversuchen. Schon die erste Beschreibung von Michiel spricht von einem "Zigeuner" und einer "Nymphe", die nach den Konventionen der griechischen Mythologie eigentlich kein Kind säugen kann. Erschwert wird eine Interpretation zusätzlich durch die Tatsache, dass das Bild von Giorgione verändert und übermalt wurde. So wurde eine weitere nackte Frau in der endgültigen Fassung durch den Mann mit dem Hirtenstab ersetzt.“ [Wikipedia: „Das Gewitter“]

Im Begriff der Landschaft spielen ästhetische, philosophische und ideologische Aspekte nicht nur eine je mehr oder weniger konkrete Rolle, sondern sie spielen auf komplexe Art und Weise ineinander. „Landschaften“, so könnte man frei formulieren, sind nicht nur einfach da, so dass wir sie aufsuchen oder auf sie zeigen können, sondern sie sind bereits das Ergebnis eines langen Symbolisierungsprozesses, der auf die Geschichte ihres Gewordenseins verweist. Nun könnte man dies vielleicht von jedem im weitesten Sinne kulturgeschichtlich geprägten Begriff sagen. Gleichwohl lässt sich anhand der Befragung von Landschaften besonders gut veranschaulichen, wie unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit eben von dieser doppelten Perspektive bestimmt ist. Diese kulturelle Scharnierfunktion der Landschaft fächern die hier versammelten Beiträge in vielfältiger Weise auf.

Unter VIEW finden Sie einen einleitenden Text zur Heftthematik von Karin Wendt. David Ganz liefert eine umfangreiche Studie zur Geschichte visionärer Sehräume am Beispiel der Insel Patmos. Der Text von Norbert Fischer geht dem postmodernen Landschaftswandel des Hamburger Umlands zur Metropolregion nach. Frauke Kurbacher befasst sich mit dem Begriff der „Seelenlandschaft“. Ausgehend von der Analyse eines Cranach-Bildes diskutiert Andreas Mertin Formen der (protestantischen) Landschaftspflege als symbolische Akte.

Unter RE-VIEW finden Sie die Aufzeichnung eines Interviews, das Horst Schwebel Ende der 70er Jahre mit Dieter Wellersdorf geführt hat. Im engagierten Gespräch erörtern beide das Für und Wider einer Welt ohne Religion. Zur Vorweihnachtszeit stellt Christoph Fleischer verschiedene Bücher vor.

Unter POST kommentiert Andreas Mertin die Reaktionen der EKD nach Herta Müllers Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche anlässlich der Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreis. Außerdem stellt er das neue Internetportal der EKD vor und erschließt die visuelle Botschaft eines Medienbildes vom Einführungsgottesdienst der neuen Bischöfin.


Mit herzlichen Grüßen

Andreas Mertin, Horst Schwebel und Karin Wendt