Vom Hamburger Umland zur Metropolregion

Landschaftswandel zwischen Stadt und Land[1]

Norbert Fischer

I. Zwischen Stadt und Land

Das Hamburger Umland bzw. die heutige Metropolregion Hamburg (seit 1995) ist bis heute ein Musterbeispiel für die sich verändernden, neu austarierten Lebenswelten im Spannungsfeld zwischen Stadt und Land geblieben. Die alte Hierarchie, die dem Leitbild der alten Stadt europäischen Typs ein entwicklungsmäßig zurückgebliebenes ländliches Umland entgegenstellte, hat an Bedeutung verloren. Stadt und Land vermischen sich zunehmend und haben ihren „kategorienbildenden Wert“ verloren.[2] Der Züricher Landschaftsarchitekt Christophe Girot hat 2006 geschrieben: „Die traditionelle Trennung zwischen Stadt und Landschaft existiert nicht mehr. Ihre Grenzen sind räumlich und soziologisch diffus geworden.“ [3]

Dies lässt sich insbesondere am Beispiel des nordöstlich an Hamburg grenzenden Kreises Stormarn beispielhaft veranschaulichen. Zuschreibungen wie „suburban“ erscheinen als überholt. Die üblichen Kriterien der Suburbanisierung, wie insbesondere ein großer Auspendlerüberschuss, gelten hier schon lange nicht mehr.[4] Neue Begriffe kommen ins Spiel, um das Patchwork von Reetdach und City-Center, von Naturschutz- und Gewerbegebieten zu erfassen: „Zwischenstadt“,[5] „urbaner Verflechtungsraum“, „Stadtregion“, „urbane Landschaft“ oder „regionale Stadtlandschaft“.[6] Jürgen Aring zu Folge hat sich mittlerweile der Begriff „Stadtregion“ durchgesetzt. Er wird als „gemeinsames Dach über Alte Stadt, Periphere Stadt und Umland“ betrachtet. [7]

Der Wandel hin zu diesen Patchwork-Räumen wird inzwischen von neueren landschaftstheoretischen Konzepten aufgegriffen, vor allem im Ansatz der „Mikrolandschaften“[8]: „Die zeitgenössische Ausdrucksform der Landschaft verstehen wir als eine Agglomeration von Zwischenräumen, die wir als Mikrolandschaften bezeichnen. Mit einem überkommenen Begriff von ‚Landschaft’ und deren ‚Schönheit’ verbindet sie nur noch wenig.“[9] Im Hintergrund dieses Konzeptes steht die „Verflüssigung des Raumes“, die sich durch zunehmende Mobilisierung und den damit verbundenen Verkehrsströmen entwickelt hat.[10] Damit bezieht der Ansatz der Mikrolandschaft eine der Grundvoraussetzungen der neuartigen Stadt-Land-Beziehungen ein, nämlich die rasch wachsende individuelle Mobilität: „Beschleunigung und weltweite Mobilität haben die Landschaft nicht zum Verschwinden gebracht. Doch veränderte Bewegungspraktiken führen zu neuen Landschaftskonzepten.“[11]

Die klassischen Muster von räumlich gebundener Identität greifen hier nicht mehr, da sie eine emotionale, langwährende Beziehung zu Orten, Räumen und Landschaften voraussetzen.[12] Stattdessen hat die funktionale Neugliederung des Raumes die Plattform für jene partikularisierten Lebenswelten geschaffen, die im Alltag der mobilen Gesellschaft immer wieder neu miteinander kombiniert werden.


Abb. 1: Funktionales Landschafts-Patchwork im Hamburger Umland: Luftbild Glinde (Kreisarchiv Stormarn T 10 2328)

Stormarn eignet sich für eine Veranschaulichung der sich auflösenden Gegensätze zwischen Stadt und Land insofern besonders gut, als dieser schleswig-holsteinische Kreis mit 766 qkm flächenmäßig relativ klein ist und somit die Folgen räumlicher Wandlungsprozesse auf engstem Raum zeigt. Völlig unterschiedliche, manchmal austauschbar gestaltete Mikrolandschaften repräsentieren die Dynamik räumlichen Wandels: Von musealisierten Objekten einstiger agrarischer Lebenswelten (Stormarnsches Dorfmuseum in Hoisdorf) über Naturdenkmäler und Naturschutzgebiete über konfektionierte Gewerbegebiete bis hin zu den genormt-gestylten P&R-Parkplätzen an den Verkehrsknotenpunkten.

Das zeigt auch, wie sehr Stormarn zu einem Patchwork unterschiedlicher Funktionsräume geworden ist. Als Region zwischen Stadt und Land zeigt es sich geprägt durch eine Gemengelage von Wohn- und Gewerbegebieten, Inseln historischer Lebenswelten (Architektur) und „unberührter“ Natur (Naturschutzgebiete, Biotope, Naturdenkmäler). Als „Postsuburbia“ ist sie zu einem neuen Raumtypus geworden, der durch eine starke soziale und funktionale Ausdifferenzierung gekennzeichnet ist (Wohnen, Einzelhandel, Gewerbeobjekte, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen und größere Infrastruktureinrichtungen).

Auf einer Fahrt durch Stormarn sieht man häufig alte Dorfplätze mit Anger, reetgedeckte Häuser, Mühlenteiche, historische Gotteshäuser mit Kirchhöfen sieht – kurzum: ländliche Milieus, die so gar nicht dem Bild einer verdichtet-städtischen Region entsprechen wollen. Nicht zufällig bildete die „Dorferneuerung“ in Stormarn eines der großen Thema nach 1980. Ebenso wie das öffentliche „Reetdach-Programm“, das den Erhalt traditionell gedeckter ländlicher Bauten förderte, symbolisierte sie die kompensatorische Sehnsucht nach dem Einfachen und Ländlichen in einer sich rasch, vielleicht allzu rasch wandelnden Lebenswelt. Gerade das Dorf war ja von diesen Veränderungen betroffen. So erfuhren Denkmalschutz und Denkmalpflege im späten 20. Jahrhundert eine erstaunliche Konjunktur: „Dass der Denkmalschutz, lange Zeit in einem Winkeldasein, neue Aufmerksamkeit erfuhr, war zugleich eine Reaktion auf den überbordenden Bau-Boom und die zahlreichen Bausünden der fünfziger und sechziger Jahre.“[13]

Damit findet sich zugleich eine Hinwendung zu symbolischen, häufig historischen Werten, wie „Heimat“ und historische „Identität“ – ein immaterielles Flechtwerk kultureller Symbole, das die Vielschichtigkeit postsuburbaner Lebenswelten andeutet. Bis heute gelten spezielle Leitbilder als unerlässlich, um die Eigenart des Dorfes zu definieren – die  Zukunft des Dorfes wird auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf wissenschaftlicher wie politischer Ebene diskutiert. Gegen das hierarchische, noch aus den 1930er Jahren stammende und von der NS-Diktatur geprägte Prinzip der „Zentralen Orte“ und gegen die funktional-planerischen Gebietsreformen wird zunehmend das Leitbild des „autonomen Dorfes“ gesetzt.[14]

In ähnlich kompensatorischer Funktion wie Dorferneuerung und Denkmalschutz zeigt sich die seit dem späten 20. Jahrhundert deutlich gestiegene Sensibiliät gegenüber Fragen des Natur-, Landschafts- und Umweltschutzes. Fluss- und Teichlandschaften wurden renaturiert, neue Naturschutzgebiete ausgewiesen. Neben den 17 Stormarner Naturschutzgebieten zählen insbesondere Naturdenkmale (Bäume [Solitäre], Alleen, Findlinge und ähnliches)[15] und Biotope zu diesen das Erscheinungsbild des Kreises prägenden Merkmalen.

Diese Entwicklung ist nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass Stormarn – wie auch die benachbarten Kreise – frühzeitig von jenem raumplanerischen Zugriff erfasst wurden, der seinen vorläufigen Höhepunkt im Konzept der Metropolregion Hamburg gefunden hat. Metropole und umliegende Region werden nicht mehr in einseitigen, hierarchischen Abhängigkeiten, sondern in ihren wechselseitigen, mehr oder weniger austarierten Beziehungen betrachtet. Zugleich gewinnt die sich verstädternde Region jenseits der Metropole zunehmend an Eigengewicht. Dies ist zugleich die Basis für das neue, selbstbewusste Verhältnis gegenüber der Metropole.[16]

Die neu austarierten Beziehungen zeigen sich nicht zuletzt im Begriff der „Metropolregion“, der „Metropole“ und „Region“ vereint. Die Metropolregion Hamburg umfasst die Freie und Hansestadt Hamburg sowie die niedersächsischen Landkreise Cuxhaven, Stade, Harburg, Lüneburg, Rotenburg/W., Soltau-Fallingbostel, Uelzen, Lüchow-Dannenberg und die schleswig-holsteinischen Kreise Dithmarschen, Steinburg, Pinneberg, Segeberg, Stormarn und Herzogtum Lauenburg. Das Gesamtgebilde beinhaltet eine Fläche von 18.000 km² und erstreckt sich über 14 Landkreise mit rund 800 Kommunen. Von den insgesamt ca. vier Millionen Menschen entfallen 42% auf der Fläche der Hansestadt Hamburg, 30% auf Niedersachsen und 27% auf die schleswig-holsteinischen Landkreise.[17] 

II. Die modellierte Region: Zur Vorgeschichte seit 1945

Was war geschehen? Im nördlichen Hamburger Umland, vor allem in den Kreisen Pinneberg und Stormarn, hatte in den 1950er Jahren ein struktureller Wandel eingesetzt und aus ländlich-agrarischen Zonen eine gewerblich-industrielle Wachstumsregion gemacht. In Stormarn war der Industrieumsatz zwischen 1957 und 1975 um 284%, die Zahl der Industriebeschäftigten um 174% gestiegen. Damit verbunden war ein rasantes Bevölkerungswachstum.[18]

Dieser Strukturwandel bildete das zentrale Element jener regionalen Modernisierung im Hamburger Umland, die in den späten 1950er Jahren einsetzte. Neben der gewerblich-industriellen und bevölkerungsmäßigen Expansion im Hamburger Umland zog dieser Strukturwandel die Ausrichtung von Lebensweise und Lebensstandards an urbanen Leitbildern nach sich. Architektonisch-städtebaulich wurden neuartige Zonen „zwischen Stadt und Land“ geschaffen. Diese Modernisierung fand ihren sichtbaren Ausdruck unter anderem in der verkehrstechnischen Erschließung des Umlandes (vor allem durch Schnellstraßen und Autobahnen sowie die Ausweitung des Bahn- und Busnetzes), im Hochhausbau und in der Verstädterung der Kommunen, deren markantestes Zeichen – beispielhaft in Ahrensburg und Glinde – die städtebauliche Schaffung innerörtlicher urbaner Zentren im Stil der „City“ war.

Das Hamburger Umland umfasst in der hier zugrunde gelegten Definition die vier direkt an die Großstadt grenzenden schleswig-holsteinischen Kreise Pinneberg, Segeberg, Stormarn und Herzogtum Lauenburg sowie die beiden niedersächsischen Kreise Harburg und Stade. Ihre exponierte Lage hatte schon im frühen 20. Jahrhundert zu grenzüberschreitenden Fluktuationen und vielfältigen Verflechtungen, insbesondere dem Pendlertum, geführt. Daher unterlagen die Hamburg-Umlandkreise auch relativ früh dem Zugriff der Regionalplanung – die nördlichen eher und stärker als die südlichen –, was ihre Entwicklung entscheidend beeinflusste. Letztlich gab es, wie im Folgenden insbesondere am Beispiel des schleswig-holsteinischen Kreises Stormarn  zu zeigen sein wird, drei Katalysatoren der regionalen Modernisierung: 1. die Standortverlagerungen von Gewerbe und Industrie ins Umland (Industriesuburbanisierung), 2. das Bevölkerungswachstum im Umland (Bevölkerungssuburbanisierung), 3. die länderübergreifende Raumplanung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen sich alle sechs Umlandkreise – nördlich wie südlich der Elbe – ähnlichen Problemen ausgesetzt. Sie waren durch das Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 flächen- und bevölkerungsmäßig dezimiert sowie wirtschaftlich amputiert worden. Durch die aus dem Osten kommenden Flüchtlinge und Vertriebenen sowie die Hamburger Bombenflüchtlinge hatte sich jedoch die Einwohnerzahl im Umland teilweise verdoppelt. Dieser Flüchtlingszustrom rief enorme infrastrukturelle Probleme hervor. Es fehlte an Wohnungen, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, Verkehrswegen – kurzum: an der notwendigen Infrastruktur. Zudem gab es im Umland viel zu wenig Arbeitsplätze. Die Folge war eine rasch steigende Zahl von Auspendlern, die in der nahen Großstadt Hamburg ihren Arbeitsplatz fanden. Viele Umlandkommunen drohten damit zu reinen Pendlerorten und „Schlafstädten“ zu werden, wie beispielweise Neu-Wulmstorf und Buchholz/Nordheide im niedersächsischen Landkreis Harburg, Glinde und Harksheide im schleswig-holsteinischen Stormarn.

Eine mögliche Antwort auf diese Probleme bot die Ansiedlung von Gewerbe und Industrie. Die Ausgangslage war günstig: Die Metropole Hamburg konnte ihren in den 1950er und 1960er Jahren expandierenden Unternehmen längst nicht mehr genügend Erweiterungsflächen anbieten. Zahlreiche Firmen nutzten die Gelegenheit und wanderten ins Umland ab – damit setzte im Großraum Hamburg ein über Jahrzehnte anhaltender Prozess der Industriesuburbanisierung ein. Er wurde in den Umlandkreisen teilweise von kreiseigenen Wirtschaftsförderungsgesellschaften unterstützt und gelenkt – so bereits in den 1950er Jahren in Pinneberg und Stormarn. Die neuangesiedelten Unternehmen boten nicht nur Arbeitsplätze, sondern erhöhten auch die Steuereinnahmen der Umlandkommunen. Darüber hinaus zogen sie die Ansiedlung von Dienstleistungsbetrieben nach sich. Indem die Industriesuburbanisierung dörflich-agrarisch-kleingewerbliche Produktionsformen ablöste, wurde sie zum wichtigsten Katalysator der regionalen Modernisierung im Hamburger Umland.

Später lösten die Schaffung der neuen Arbeitsplätze im Umland und das zunehmende Bedürfnis nach dem Eigenheim „im Grünen“ seit den 1960er Jahren eine zweite Zuzugswelle ins Umland aus.[19]

Diese Bevölkerungssuburbanisierung wurde durch die massenhafte Verbreitung des Autos begünstigt; den zweiten Katalysator der regionalen Modernisierung. Die Infrastruktur wurde dafür systematisch ausgebaut. Das Umland orientierte sich dabei an städtischen Standards und gewann Anschluss an die moderne, urban orientierte Gesellschaft. Die dörfliche Klärgrube wurde von der Vollkanalisation abgelöst, die Straßen verbreitet, begradigt, asphaltiert und elektrisch beleuchtet. Ein Telefonanschluss wurde immer selbstverständlicher.

Auch auf der Planungsebene wurden Hamburg und das Umland immer stärker miteinander verflochten. Industrie- und Bevölkerungssuburbanisierung sowie der Ausbau der Infrastruktur waren eingebettet in eine länderübergreifende Raumplanung – dem dritten Katalysator der Modernisierung. Vor allem zwischen den vier schleswig-holsteinischen Umlandkreisen und Hamburg fand eine enge, allerdings gelegentlich auch konfliktgeladene Abstimmung in Sektoren wie Verkehr, Wohnungsbau, Bildungswesen und anderen statt. Raumordnerisch diente diese – für bundesdeutsche Verhältnisse relativ früh einsetzende und intensive – länderübergreifende Regionalplanung vor allem dem Ziel, die gewerblich-industrielle und bevölkerungsmäßige Verdichtung innerhalb des Umlandes auf bestimmte Räume, die bereits erwähnten so genannten Entwicklungs- beziehungsweise Aufbauachsen, zu konzentrieren.


Abb. 2: Neue Stadtlandschaften: City Glinde (Foto: Norbert Fischer)

Beispielhaft lässt sich diese Entwicklung am Raum Reinbek/Glinde im südöstlichen Hamburger Randgebiet veranschaulichen, das eine besonders rasche Suburbanisierung durchlief. Schon Ende der 1950er Jahre wies die schleswig-holsteinische Landesplanung auf die besonderen Probleme von Reinbek mit einem hohen Auspendleranteil hin. Um hier gegenzusteuern, sollte Reinbek als eigener Gewerbestandort und eigene Wohngemeinde ausgebaut werden.[20] Wie ein Katalysator wirkte ein 1960 angelegtes Gewerbegebiet, das in der Folge stetig erweitert wurde. Dieses Gewerbegebiet, das auf Flächen der drei Gemeinden Reinbek, Glinde und Schönningstedt lag, zog in den 1960er Jahren viele Betriebe an, deren wachsende Belegschaften weiteren Siedlungsbau herausforderten.[21] Die Bevölkerungszahl von Reinbek stieg allein zwischen 1961 und 1970 von knapp 11.000 auf über 15.000. Architektonische Zeugnisse der Verstädterung Reinbeks waren Neubauten wie ein 20-geschossiges Hochhaus, das 1965 als höchstes Wohnhaus in Schleswig-Holstein galt.[22] Dem systematisch betriebenen Ausbau Reinbeks als Wohn- und Gewerbestadt folgten verbesserte Verkehrsanbindungen nach Hamburg: Elektrifizierung der Bahnstrecke und Einbindung in den Hamburger Verkehrsverbund.[23] Anfang der achtziger Jahre schließlich erhielt Reinbek eine eigene Anschlussstelle an der neuen Autobahn A 24 Hamburg-Berlin.

Noch rasanter verlief die Verstädterung in Glinde, das sich vom Gutsdorf zu einer Industrie- und Arbeiterwohngemeinde wandelte. Die Einrichtung des erwähnten Gewerbegebiets Reinbek/Glinde/Schönningstedt brachte auch hier einen erheblichen Bevölkerungsschub, der wiederum umfangreichen Siedlungsbau nach sich zog. Bis 1968 vervierfachte sich die Einwohnerzahl gegenüber dem letzten Vorkriegsstand (1939) und erreichte fast 9.000.[24] Gleichzeitig wurde in den 1960er Jahren mit der Errichtung eines neuen, am Reißbrett geplanten „modernen“ Ortszentrums mit mehrstöckigen Büro- und Geschäftshäusern begonnen. Die stark gestiegenen Gewerbesteuereinnahmen hatten solche Pläne möglich gemacht. Die alte Durchgangsstraße musste zu diesem Zweck innerhalb des Ortszentrums verlegt werden. Zuvor hatte ein großer Gutsbetrieb Glindes Ortsmitte geprägt – die alten Wirtschaftsgebäude des Gutes wurden nun vollständig abgerissen.


Abb. 3: Mobilitätslandschaften: Verkehrsknotenpunkt Bahnhof Bad Oldesloe (Foto: Norbert Fischer

All diese Entwicklungen veränderten den Charakter des zuvor meist ländlichen Raumes um Hamburg. Das Dorf verlor seine bisherige wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle, die bisher von ländlich-agrarisch-kleingewerblichen Zusammenhängen bestimmt worden war. Immer mehr übernahm das Dorf die partikulare Funktion des Wohnens – und zerfiel dabei in einzelne Teilsiedlungen (bevor die kommunalen Gebietsreformen der 1970er Jahre vielen Gemeinden auch ihre politische Selbständigkeit nahm).[25]

Die Art und Weise, wie sich das Modernitätsverständnis der 1960er Jahre städtebaulich in den Umlandkommunen niederschlug, stieß in der Bevölkerung nicht nur auf Gegenliebe. Die kühle Rationalität der Regionalplaung, die rasche Geschwindigkeit des räumlichen Wandels rief bei vielen Menschen Widerspruch hervor, weil sie traditionelle Lebensräume zerstörte. Bürgerinitiativen agierten gegen Umgehungsstraßen wie den Ostring in Ahrensburg und die Nordtangente in Bad Oldesloe. Auch die im Zuge der Verstädterung des Umlandes vorgenommenen kommunalen Neuordnungen in den Räumen Norderstedt und Reinbek riefen Ende der 1960er und Anfang der 1970er vor Ort vielerlei Proteste hervor.


Abb. 4: Gewerbelandschaft an der Autobahn A 1 (Foto: Norbert Fischer)

So wurden Modernisierung und räumlicher Wandel von der betroffenen Bevölkerung nicht wertfrei erlebt. Sie brachen in bestehende Lebenswelten ein und veränderten diese. Anhand lebensgeschichtlicher Erzählungen lässt sich dokumentieren, wie sehr der räumliche Wandel im Hamburger Umland – der Bau neuer Wohnsiedlungen und Hochhäuser, Verkehrstrassen und Straßen – subjektiv als Einschnitt empfunden und im autobiografischen Gedächtnis verankert wurde.

Das Dorf hat im Verlauf der regionalen Modernisierung seine bisherige wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle verloren. Als großstadtnaher Wohnort zerfiel es häufig in einzelne Teilorte oder -siedlungen. Verändert aber hat sich auch die Rolle der Metropole, deren verdichtete Urbanität und deren spezielle Form von Öffentlichkeit über Jahrhunderte hinweg ein Leitbild der bürgerlichen Gesellschaft gewesen war – nun aber langsam an Bedeutung verlor.


Abb. 5: Natur als kompensatorisches Landschaftselement im urbanen Raum
(Kreisarchiv Stormarn B 71 D 1318)

Damit ist auch die Geschichte der Beziehungen zwischen Stadt und Land in ein neues historisches Stadium getreten.[26] Die Industrie- und Bevölkerungssuburbanisierung kehrte die einstige „Landflucht“ um in eine „Stadtflucht“. Hatte über Jahrhunderte hinweg zuvor die städtische Urbanität an der Spitze der räumlichen Prestigeskala gestanden – ja, als Hort der Zivilisation gegolten – so wurde diese Rangordnung nun aufgelöst zugunsten einer gleichmäßiger verteilten, raumfunktionalen Spezialisierung.[27]

Anmerkungen

[1]    Der folgende Text bildet einen leicht überarbeiteten Auszug aus: Fischer, Norbert: Vom Hamburger Umland zur Metropolregion – Stormarns Geschichte seit 1980. Hamburg 2008 sowie Fischer, Norbert: Die modellierte Region – Stormarn und das Hamburger Umland vom Zweiten Weltkrieg bis 1980. Neumünster 2000.

[2]   Jürgen Aring: Suburbia – Postsuburbia – Zwischenstadt. Ältere und neuere Entwicklungstrends im Umland der Großstädte. In: Priebs, Axel/Adelheid von Saldern/Rose Scholl (Hrsg.): Junge Städte in ihrer Region. Garbsen 2001, S. 27-41, hier S. 41.

[3]   Christophe Girot: Urbane Landschaften der Zukunft. In: Raimund Blödt u.a.: Beyond Metropolis. Eine Auseinandersetzung mit der verstädterten Landschaft. Zürich 2006, S. 52-55, hier S. 52.

[4]   Zur Suburbanisierungsforschung als Überblick Klaus Brake /Jens Dangschat/Günter Herfert (Hrsg.): Suburbanisierung in Deutschland. Aktuelle Tendenzen. Opladen 2001.

[5]   Thomas Sieverts: Zwischenstadt – zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land. Braunschweig, Wiesbaden 1997.

[6]   Lars Bölling /Thomas Sieverts (Hg.): Mitten am Rand. Auf dem Weg von der Vorstadt über die Zwischenstadt zur regionalen Stadtlandschaft. Wuppertal 2004. – Dietmar Scholich (Hg.): Integrative und sektorale Aspekte der Stadtregion als System. Frankfurt/M. u.a. 2004; Blödt u.a.: Beyond Metropolis.

[7]   Jürgen Aring: Suburbia – Postsuburbia – Zwischenstadt. Die jüngere Wohnsiedlungsentwicklung im Umland der größeren Städte Westdeutschlands und Forderungen für die Regionale Planung und Steuerung. Hannover 1999, S. 54-55.

[8]   Brigitte Franzen/Stefanie Krebs: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Mikrolandschaften. Landscape Culture on the Move, Köln 2006, S. 12-19, hier S. 12.

[9]   Ebd.

[10]  Frank Werner: Von Mikro zu Makro. Randnotizen zur Veränderung des Landschaftsbegriffes im Kontext städtebaulicher bzw. architektonischer Diskurse. In: Franzen/ Krebs (Hrsg.): Mikrolandschaften, S. 21-29, hier S. 27-28.

[11]  Ebd.

[12]  Für das Hamburger Umland Norbert Fischer: Die flüchtigen Orte. Räumlicher Wandel und autobiographisches Gedächtnis im 20. Jahrhundert. In: Martin Rheinheimer (Hrsg.): Der Durchgang durch die Welt. Lebenslauf, Generationen und Identität in der Neuzeit, Neumünster 2000, S. 363-376. – Siehe auch Meik Woyke: Suburbane Erfahrungsräume. In: Zeitgeschichte in Hamburg 2005. Nachrichten aus der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), Hamburg 2006, S. 78-80.

[13]   Maier, Hans: Fortschrittsoptimismus oder Kulturpessimismus? Die Bundesrepublik in den 70er und 80er Jahren. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56, 2008, Heft 1, S. 1-17, hier S. S. 9-10.

[14]   Brill, Klaus: „Die Stärke der Dörfer liegt oft im Verborgenen“. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 127 vom 3. Juni 2008, S. 8. – Siehe dazu auch Kapitel I und Kapitel II.

[15]   Borell, Susanne von: Bäume als Naturdenkmale im Kreis Stormarn. In: Naturschutz und Landschaftspflege im Kreis Stormarn, Neumünster 1991 (Stormarner Hefte 16), S. S. 185-191.

[16]  Aring: Suburbia, S. 72.

[17]   Schwieger, Christopher: Die Metropolregion Hamburg 2006. Manuskript. In: Norbert Fischer/Franklin Kopitzsch (Hrsg.): Regionalgeschichte der Metropolregion Hamburg (in Vorbereitung).

[18]   Willms, Manfred: Ökonomische Analyse der regionalen Entwicklung von Bevölkerung, Beschäftigten und Wirtschaft im Großraum Hamburg. Unveröffentlichtes Manuskript, Hamburg, Kiel 1973.

[19]   Wilke, Georg: Stadt-Land-Beziehungen im Veränderungsprozeß – das Beispiel Mobilität. In: Sozialwissenschaftliche Informationen 27, 1998, Heft 3, S. 203-214, hier S. 211; siehe auch Klaus Kuhm: Moderne und Asphalt. Die Systembildung des Automobilismus als Prozeß technologischer Integration und sozialer Vernetzung, Pfaffenweiler 1997.

[20]   Schreiben der Landeskanzlei/Abt. II – Landesplanung an Abt. I der Landeskanzlei vom 13. Febr. 1959. In: Landesarchiv Schleswig-Holstein (Schleswig; LAS) 605/518.

[21]   Jaschke, Dieter: Reinbek. Untersuchungen zum Strukturwandel im Hamburger Umland. Hamburg 1973, S. 124.

[22]   Stormarner Tageblatt Nr. 143 vom 24. Juni 1965, S. 4.

[23]   Jaschke, Reinbek, S. 73-74.

[24]   Tabelle: Die Wohnbevölkerung in den Gemeinden der Aufbau- und Entwicklungsgebiete der Gemeinsamen Landesplanung Schleswig-Holstein/Hamburg/Niedersachsen 1939-1968. In: Regionalstatistische Daten für das Hamburger Umland 1961-1968. Hrsg. vom Statistischen Landesamt der Freien und Hansestadt Hamburg (= Statistik des Hamburgischen Staates, Heft 93), S. 24-25.

[25]   Ein besonders charakteristisches Beispiel für diese Entwicklung bildet Hoisdorf; siehe Fischer, Norbert /Klaus Gille: Hoisdorf und Oetjendorf. Stormarner Dorfgeschichte im Hamburger Umland, Hoisdorf 2001, S. 76-104.

[26]   Zur Geschichte des Stadt-Land-Verhältnisses siehe Zimmermann, Clemens (Hg.): Dorf und Stadt. Ihre Beziehungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 2001.

[27]   Sieverts, Thomas: Zwischenstadt – zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stad und Land. Braunschweig, Wiesbaden 21998 , S. 30-31, S. 38-39.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/62/nf1.htm
© Norbert Fischer, 2009


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