Ästhetisierung von Religion?


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Reinventing Ritual

Dorothea Erbele-Küster

Fetzen von Schriftzitaten auf zerknülltem Papier in durchsichtigen Pillenkapseln präsentieren Johanna Bresnick und Michael Cloud in ihrem Kunstwerk “From Mouth to Mouth” (von 2006), das derzeit im Jewish Museum in New York zu sehen ist. Bei näherem Betrachten lassen sich englische und hebräische Wörter entziffern, laut den beiden amerikanischen Künstler/innen handelt es sich um Stücke aus der Mitte der Thora, aus Leviticus, dem Buch, dass sie selbst als am schwierigsten zu verdauen finden. Die Thoratexte werden so zu (bitteren?) Pillen, zu Medizin, die geschluckt werden muss. Die Installation verwirklicht künstlerisch die Aufforderung der Stimme Gottes aus Ezechiel 3:1-3 “Mensch iss diese Buchrolle” und bringt uns zum nachdenkenden Schmunzeln darüber. [Dieses und alle anderen im Folgenden beschriebenen Kunstwerke können auf der Online-Galerie der Ausstellung betrachtet werden; Anm. der Redaktion.]

"Mensch, was du da vor dir hast, iss! Iss diese Rolle, und dann geh, rede zum Haus Israel! Da öffnete ich meinen Mund, und sie gab mir diese Rolle zu essen und sie sagte zu mir: Mensch, gib deinem Bauch Nahrung und fülle deinen Magen mit dieser Rolle, die ich dir gebe! Da aß ich sie, und sie war in meinem Mund so süß wie Honig.“ (Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 3/2007)

Ezechiel 3 (vgl. Jeremiah 1:9) fordert zur Einverleibung der Schrift auf. Das Kunstwerk ist ein Versuch, die Radikalität der prophetischen Handlung künstlerisch umzusetzen. Es trägt dem Rechnung, dass die Worte auf der Schwelle zu einer Zeichenhandlung stehen, die am Leib ausgeführt wird. “From Mouth to Mouth” so der Titel des Werkes, der an Mund-zu-Mund Beatmung denken lässt. Doch hier wird kein direkter Körperkontakt vollzogen. Die Worte, die aus dem Munde Gottes kommen, sollen durch die schriftgefüllten Pillen in den Mund des Menschen gelangen.

Zum Thema „Absorbing“ (Aufnahme) wird in der Ausstellung in New York, die noch bis Februar 2010 zu sehen ist (anschließend im Contemporary Jewish Museum in San Fransisco von April bis Sept. 2010), neben „Mouth to Mouth“ auch ein Video der Israelin Hadassa Goldvicht (geb.1981) gezeigt: “Writing Lesson#1“ aus 2005. Eine Frau in weißem kurzärmeligen T-Shirt steht hinter einer Glaswand, auf der hebräische Buchstaben aus einer klebrigen Masse aufgetragen sind. Die Scheibe ist beschlagen, die Wärme lässt die Buchstaben bereits verlaufen. Die weibliche Figur mit langen Haaren –die Künstlerin selbst– leckt verschwommen hinter einer Glaswand die Buchstaben ab. Gezeigt wird ein sinnlich-erotischer Vorgang, wobei dem weiblichen Körper beim Aufnehmen der Schrift eine zentrale Bedeutung zukommt. Referiert wird an das Ritual bei dreijährigen männlichen Juden im Rahmen des ersten Vorschulbesuchs: ihnen werden essbare Buchstaben dargereicht, die mit Honig überzogen sind, um ihnen das Lesen, die Schrift, schmackhaft zu machen und die Schule zu versüßen. Die Schrift wird für die Vorschuljungen zur Nascherei (vgl. Ezechiel 3). In diesem Video mit dem Titel Schreibunterricht leckt eine erwachsene Frau die Schrift ab, so dass die Materialität und Leiblichkeit der Schrift eins wird mit der Leiblichkeit des weiblichen Körpers.

Der Titel des Video liest “Writing Lesson#1“ (Schreibübung#1) – doch die Buchstaben sind bereits geschrieben, sie sind für die Betrachter/innen in Lesrichtung geschrieben und scheinen gleichsam außen aufgetragen zu sein- werden wir also auch eingeladen auf diese Art und Weise zu lesen?

Das von Rachel Kanter (geb. 1970) entworfene Kleidungsstück („Fringed garment“ von 2005- im Besitz des Museums) gehört zu einem anderen Bereich „Covering“ (Bedecken). Es ist eine mit Punkten bedruckte Baumwollschürze, an deren rechten und linken Seite des unteren Saumes jeweils zwei zweifachgedrehte Schnüre hängen. Die Schürze verweist auf Wäschestücke mit langen Fäden (zizith), die traditionell von jüdischen Männern getragen wurden. Ein Gewand mit langen (himmelblauen) Fäden war/ist vor allem in der Synagoge in der Funktion eines Gebetsmantel zu sehen (tallith). Diese Kleidungsstücke nehmen die Aufforderung in  Numeri 15:37ff, sich Fäden an die Säume der Kleidung zu machen, auf. Die Schaufäden sollen an die Gebote und Unterweisungen Gottes erinnern. Im Blick auf die Kleidung, im Tragen der Kleidung realisiert sich das Halten der Tora.

Das Designstück der Künstlerin knüpft an diese Tradition an und spielt zugleich mit Klischeevorstelllungen. So wird durch den Entwurf und das Ausstellen von einer “Gebetsschürze” für Frauen die Rollenverteilung in mehrfacher Hinsicht in Frage gestellt: Können nur Männer am religiösen Leben teilhaben? Ist der Alltag von Frauen- die Sorge für Küche, Kinder und Kranke (dafür steht die Schürze) – nicht auch Heiligung, Haltung der Gebote? Markierte und normierte Kleidung traditionell Geschlechterdifferenz, so versucht dieses Designstück dies aufzubrechen, indem die Gebetsschürze männliche und weibliche Elemente in sich vereint.

Das Kleidungsstück von Rachel Kanter, in dem Ethik und Ästhetik aufeinander bezogen sind, zeigt exemplarisch wie Kunst die Transformation bestehender Tradition inszeniert und macht damit den Titel der Ausstellung „Reinventing Ritual“ anschaulich. Dieses Konzept ist transparent - auch für Betrachter/innen, die Außenseiter der jüdischen Ritualwelt sind. Die Beratung durch das Jewish Theological Seminary in New York, das ebenfalls gerade einen Künstler der Ausstellung als “artist in residence” beherbergt, wurde museumsädagogisch gut umgesetzt. Ein Schild erklärt jeweils in kurzen Sätzen auf welche Tradition, auf welches Ritual sich das Ausstellungsstück bezieht und wie es dieses transformiert.

Können Rituale also einfach neu erfunden werden, wie der Titel der Ausstellung thetisch formuliert, wo Rituale doch gerade von der Wiederholung leben? Die Kunstwerke ermöglichen in einem ersten Schritt eine kritische Distanz zum überlieferten Ritual. Der Ästhetik kommt dabei eine zentrale Rolle zu, wie die Stücke deutlich machen. In einem zweiten Schritt imaginieren sie die Transformation. „Reiventing“ vollzieht sich in einem spielerischen Akt, der Distanz, Veränderung und Wiederaufnahme möglich macht.

Exemplarisch wird etwa in einer Performance durch die Künstlerin/den Künstler ein neues Ritual vollzogen. So hat die Künstlerin und mit ihr die Betrachterin in „Writing Lesson#1“ an einem Ritual teil, von dem man traditionell als Frau ausgeschlossen ist. Schließlich machen gerade die Designstücke wie die „Utopia Menorah“ von Jonathan Adler oder die Sederplatte aus Silikon von Sahar Batsry, die auch im Museumsshop zu erwerben ist, eine veränderte Ritualpraxis konkret möglich. Design und Kunst nimmt damit eine theologische und kulturelle Veränderung auf bzw. vorweg. Wie der Untertitel des Ausstellungskatalogs “Contemporary Art and Design for Jewish Life” angibt, geht es um Kunst und Design, die Grenzen sind dabei fließend. Die “Angewandte Kunst” will angewendet werden auf den Alltag, ist jüdische Lebenskunst, “Design for Jewish Life”. Das Heilige ist auf das Alltägliche bezogen und umgekehrt.

Danya Ruttenberg ordnet im Ausstellungskatalog die Tendenz der ästhetisch performativen Transformation der Religionspraxis in die zeitgeschichtliche Bewegung der Erneuerung und Kritik seit den sechziger Jahren innerhalb jüdischer Kreise ein. Zugleich wird deutlich, dass Erneuerung des Rituals ein der jüdischen Tradition inhärenter Zug ist.  Die Kunst nimmt nicht nur eine prophetische Zeichenhandlungen auf, sie wird selbst zu einer, so in der Installation aus Pillenkapseln mit Schriftzitaten. Durch den entfremdenden Blick der Kunst, die teilweise bewusst Alltagsdesign aufnimmt und mit Elementen der Hyperculture spielt, kann sich einerseits eine kritische Distanz zum überlieferten Ritual und andererseits eine erneute Aneignung vollziehen. 

Der Katalog zur Ausstellung herausgegeben vom Kurator des Museums Daniel Belasco mit weiteren Beiträgen von Julia Lasky, Danya Ruttenberg und Tamar Rubin ist bei Yale University Press 2009 erschienen.

http://www.thejewishmuseum.org/core/uploaded/media/reinv_ritual/reinv-gallery.html

„A transformation has taken place, to be used as a prescription, a remedy to our questions of identity“ (comment of the artists on web http://www.thejewishmuseum.org/core/uploaded/media/reinv_ritual/reinv-gallery.html

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/63/dek2.htm
© Dorothea Erbele-Küster, 2010