Warum nicht zum 1872. Todesjahr von Juvenal?

Eine kritische Notiz

Andreas Mertin

Während meines Studiums an der Marburger Philipps-Universität hatten wir einen durchgeknallten Professor der Theologie, der schon mal Studierende und Kollegen tätlich attackierte und für seine die jeweilige Veranstaltung sprengenden Auftritte legendär war. Wegen seiner reaktionären Gesinnung war er beständig das Ziel der Attacken der Studierenden und er machte es diesen auch wirklich einfach. Trotzdem spießte er in seinem Wahn oftmals Dinge auf, die tatsächlich überaus kritikwürdig waren. So kündigte er über längere Zeit seine Vorlesungen und Seminare immer unter dem Aspekt eines scheinbaren Jahrestages an. So konnte man Veranstaltungen zum 472. Jahrestag einer Schrift Luthers besuchen oder zum 1872. Jahrestag eines historischen Ereignisses. Wogegen er damit zu Recht protestierte, war die an Zahlenmagie grenzende Willkür, mit der historische Ereignisse, sobald sie sich durch 50 oder 100 teilen lassen, öffentliche Aufmerksamkeit erheischen. Und er hatte Recht: das ist barbarisch, weil vollständig unreflektiert. Die Logik dahinter ist ja nicht, uns anlässlich der Jubiläen an die Leistungen und Erkenntnisse eines Menschen zu erinnern, sondern das Jubiläum selbst zum Selbstzweck werden zu lassen. Es geht letztlich um die Generierung von Events. Nicht weil die Theologie von Johannes Calvin uns irgend etwas zu sagen hätte, sondern weil er vor 500 Jahren geboren wurde, durften wir letztes Jahr das Calvin-Jahr feiern. Dabei wäre Calvin der Letzte gewesen, der seine Person derartig in den Vordergrund gestellt hätte.

Heute dagegen ist Johannes Calvin uninteressant geworden, denn es ist gerade nichts Rundes aus seiner Vita zu benennen. Was also tun? Bis zu den 500 Jahren Thesenanschlag ist es noch etwas hin. Also wenden wir uns Philipp Schwartzerdt bzw. Melanchthon zu. Zwar hatten wir das mit den 500 Jahren Geburt von Melanchthon schon 1997, macht nichts, dann feiern wir eben 450 Jahre Todestag. Und weil wir es mit der Zahlenmagie nicht so ganz genau nehmen, feiern wir nicht am 19. April 2010, sondern später. Hauptsache was Rundes und Bedeutsames. Oder Bedeutsames, weil Rundes? Was begründet eigentlich die Auszeichnung eines Todestages mit Jubiläen? Werden wir irgendwann nicht nur Karfreitag als den Todestag Christi feiern, sondern auch das Jubiläum des 2000. Todestages? Und dann den 2000. Todestag von Petrus, Andreas, Bartholomäus, Paulus … (das kann nach Belieben aufgefüllt werden). Heute zum Beispiel, an dem Tag, an dem dieser Text publiziert wird, feiern(?) wir den 350. Todestag von Mary Dyer, die am 1. Juni 1660 gehängt wurde, weil sie gegen die Verbannung der Quäker aus der Stadt Boston protestiert hat. Und ist dieser Tatbestand weniger einer Erinnerung oder Feier wert, als der Jahrestag des Todes von Melanchthon?

Die EKD scheint das zu meinen. Deshalb feiert(?) sie den 450. Todestag mit einer Predigtreihe: „Unter dem Titel ‚Melanchthon beim Wort’ wird die Aktualität des reformatorischen Erbes Melanchthons im Mittelpunkt stehen. Es werden predigen: Bischof Dr. Markus Dröge, Bundestagsvizepräsident Dr. Wolfgang Thierse, Prof. Dr. Dr. Christoph Markschies, Pater Klaus Mertes SJ, Dr. Stephan Schaede, Dr. Petra Bahr und Dr. Alexander Deeg.“ Spürt niemand, wie verfehlt diese Ansammlung von Großkopferten ist, die nicht das biblische Wort, sondern die Aktualität des reformatorischen Erbes Melanchthons in den Mittelpunkt der Verkündigung stellen? Ist es Aufgabe der Predigt, das zu reflektieren? War es nicht der Protestantismus, der sich von der Autorität der Tradition ab- und der Autorität der Heiligen Schrift zugewandt hat? Oder geht es nur um die Einordnung in eine Eventkultur, bei der auch noch die Predigt dazu missbraucht wird, Veranstaltungstermine zu generieren? Blickt man auf die Liste der Predigenden, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass nicht die Verbindung zu Melanchthon, sondern ihre mediale Prominenz Auswahlkriterium war. Ist das die Aktualität des reformatorischen Erbes? Da sei Martin Luther vor: „Das erfahren wir täglich, wie jedermann nur über sich, zur Ehre, zur Gewalt, zum Reichtum, zur Kunst, zu gutem Leben und allem, was groß und hoch ist, sich bemüht. Und wo solche Leute sind, denen hängt jedermann an, da läuft man hinzu, da dient man gern, da will jedermann sein und der Höhe teilhaftig werden ... Wiederum in die Tiefe will niemand sehen. Wo Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst ist, da wendet jedermann die Augen ab. Und wo solche Leute sind, da läuft jedermann davon, da flieht, da scheut, da lässt man sie und denkt niemand, ihnen zu helfen, beizustehen und zu machen, dass sie auch etwas sind. Sie müssen so in der Tiefe und niedrigen, verachteten Masse bleiben.“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/65/am320.htm
© Andreas Mertin, 2010