Zweckfreiheit und Weltbezug

Zur anthropologischen Dimension des Ästhetischen bei Kant

Frauke A. Kurbacher

Problemskizzierung

Derzeitige geisteswissenschaftliche Fragestellungen richten sich nachvollziehbarer Weise angesichts diverser aktueller Problemlagen erneut und verstärkt auf den Begriff von „Welt“. Die folgenden Ausführungen zielen auf das Verständnis eines „conceptus cosmicus“, eines Weltbegriffs, der – und dies wird zu bedenken sein – verschiedentlich von Kant in Form eines „Weltbürgertums“ reflektiert wird. Dies weist auf ein Verständnis von Welt als eines aus interpersonellen Verhältnissen.[1] Die thematische Ausrichtung auf einen Weltbegriff kommt gegenwärtig, aber vor allem auch innerhalb der Philosophie Kants nicht von ungefähr. Sie ist eine kritische Anfrage, denn einerseits erschließt sie sich im Rahmen einer auf Apriorizität bedachten Transzendentalphilosophie in Bezug auf einen zunächst einmal erfahrungsgesättigten und lebensphilosophischen Begriff von Welt nicht von vorne herein, und andererseits scheint doch implizit ein Weltbegriff schon aller Vorstellung eines geradezu sprichwörtlich gewordenen „Bedürfnisses nach Öffentlichkeit“ der Vernunft inhärent. Kant kennt jedoch noch ein weiteres „Bedürfnis“, - das ebenfalls einen Aufweis auf Welt gibt -, und zwar eines nach Zweckmäßigkeit.[2] Eine spezielle Diskussion erfährt diese Vorstellung in Kants Ästhetik, gleichzeitig gilt es, auch dem bereits mit der Formulierung ‚Bedürfnis‘ gegebenen anthropologischen Wink nachzugehen. Offenbar enthält Kants Aufnahme des Weltbegriffs im Konzept des Kosmopolitischen eine intersubjektive und interpersonelle Relevanz, für die der Gedanke des Zweckmäßigen aufschlussreich ist. Er wird maßgeblich durch das Ästhetische geprägt. Diesem Zusammenhang wird im Folgenden nachgegangen.

Kants Kritik der Urteilskraft bietet hierzu mit der Formel einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ ein Potential ganz eigener Art. Zunächst ist sie paradox, weil sie eine offenkundige Zusammenfügung von Zweckmäßigkeit und Zwecklosigkeit darstellt. Provozierend ist dies insofern, als Kants Überlegungen zur Ästhetik gerade in weitem Maß darauf beruhen, zwei Urteilsarten, die bestimmende von der reflektierenden, genauer: von der ästhetisch-reflektierenden zu trennen, um sie dann doch wieder in ganz eigener Weise formal auf einander zu beziehen, nämlich als ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘.[3] Genau diese paradoxale Formel in der dritten Kritik läßt sich als eine Verhältnisbestimmung zu einem möglichen Weltbezug reflektieren, wie Kant es selbst in seinen anthropologischen Schriften nahe legt. Die weltperspektivierende Möglichkeit dieser denkwürdigen, im Ästhetischen aufgefundenen Figur, die zugleich Selbstzweckhaftigkeit beschreibt, erschließt sich also besonders in einer anthropologischen Deutung.[4] Zuerst sei daher ein Blick auf die ästhetische Bestimmung und Funktion der Zweckmäßigkeit geworfen, bevor sie dann im Hinblick auf die anthropologischen Schriften und ihrem Zusammenhang mit dem Weltbegriff erörtert wird. Eine Reflexion der ästhetischen wie anthropologischen Ausführungen Kants zur Zweckmäßigkeit befragt dieselbe auf ihre philosophische und aktuelle Relevanz bezüglich eines Weltbegriffs, also in intersubjektiver und interpersoneller Perspektive. Die Gedankenfigur des Zweckmäßigen kann als eine aussagekräftige Umschreibung von ‚Selbstzweckhaftigkeit‘ begriffen werden kann, deren Koordinaten mit Blick auf eine Tradition des Selbstzwecks aristotelischer Prägung neu und kritisch im Sinne möglicher Interpersonalität zu bedenken sind. Dies sei im Folgenden, neben der Betrachtung der dritten kritischen Schrift (1790) unter Verweis auf die Reflexion 1820a (1771), Kants Text „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784) auch im Rückgriff auf Überlegungen zu Aristoteles systematisch unternommen.

Exposition: „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“

Über die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, als viertes Moment des Reflexionsurteils über das Schöne, wird - wie mit den anderen Momenten - letztlich die Heautonomie von Urteilskraft in Kants Ästhetik erwiesen. Es ist eine Selbstgesetzlichkeit, die wiederum in der Analytik des Erhabenen auf die Autonomie des Subjekts in seiner intelligiblen Natur und Beschaffenheit gespiegelt wird, warum diese Ästhetik zurecht den Titel einer Subjektästhetik erhalten hat. Diese Eigengesetzlichkeit und Freiheit, die sich in der Selbstgesetzlichkeit von Urteilskraft zeigt, gilt so letztlich auch dem Sinnenwesen Mensch und bietet daher die Möglichkeit einer anthropologischen Deutung.

Urteilskraft ist in der dritten Kritik ausdrücklich die Aufgabe gesetzt, zwischen den Freiheits- und Naturbegriffen aus den beiden ersten Kritiken zu vermitteln. Anhand des Gedankens der Zweckmäßigkeit läßt sich nicht nur dieser mediale Charakter erhellen, sondern sie selbst stellt auch einen Teil der Lösung für das drückende Problem dar, wie in einer neuzeitlichen Welt ohne verbindliche Gewißheiten zwischen einer zwingenden Bedingtheit durch Natur und einer bis zur Sinnlosigkeit geöffneten Freiheit, in der alles, was getan wird, auch unterlassen werden könnte, doch eine Perspektive auf Sinnhaftes am Horizont erscheinen könnte. Zweckmäßigkeit bietet hierfür die Reflexion auf das Relationale an und präzisiert und diskutiert es nicht nur in einer engen teleologischen Ausrichtung, sondern als eine Frage des Zu-einander-in Beziehung-Stehens und als die relationale Frage eines Zu-einander-Stimmens.

Parallelen: Subjektdiskurs und Ästhetisches – Funktionalität und Zwecklosigkeit

Es bleibt zu fragen, worin aber genau diese Zweckungebundenheit als Freiheit von bestimmten Zwecken, besteht. Kant selbst bietet in seiner Ästhetik hierfür einschlägige Überlegungen von konstitutiver Relevanz. Wenn der positive, freundliche Vorbehalt gegenüber dem Nicht-Zweckgebundenen in der irritierenden Denkfigur einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ gefaßt wird,[5] dann läßt sich diese Figur durch ihre Verortung in Kants „Subjektästhetik“ letztlich auf das Subjekt respektive Menschen überhaupt beziehen, insofern hier das Subjekt „als Sinnenwesen[.], nämlich als Mensch“ vorausgesetzt wird.[6] Damit wird die Formel der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ zu einer unserer möglichen Selbstzuschreibungen. Sie dient eigenem Selbstverständnis sowie Selbstaufklärung. Worauf reagiert dieses Angebot einer möglichen Selbstauffassung als Zweckfreiheit bei gleichzeitiger Zweckbezogenheit und in welcher Tradition steht wiederum dieser Gedanke? Nur eine Zweckfreiheit mag Menschen als Selbstwert(hafte) auszuweisen. Wie aber und was schützt dann aber wiederum vor der Annahme einer unsinnigen Zwecklosigkeit? Zweckhaftigkeit verbürgt ihrerseits sinn- und bedeutungsvolle Bezüge, die erhofft werden, wenn nicht eine Welt von Absurdität angenommen sein soll. Was aber läßt sie different gegenüber einer bloßen Operationalität und Funktionalisierbarkeit sein? Kurz, wie können wir uns frei und gleichsam sinnvoll denken und bestimmen? Auf diese Fragen und Zusammenhänge scheint die Formel der 'Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘ in ihrer Paradoxalität zu reagieren. Und genau dies gilt es in seinen verschiedenen Momenten zu entfalten und zu beleuchten. Über aktuelle Notwendigkeiten hinaus, über Selbstbeschreibungen nachzudenken, die jenseits von zweckgerichteter Dienstbarkeit angesiedelt sind,[7] geht es offenbar u.a. auch darum, die existentielle Schwierigkeit zu erfassen und zu ertragen, daß wir als Endliche und Fragmentarische nicht nur funktionstüchtig sind. Anthropologisch und existentiell betrachtet geht es auch um das eigene Selbstverständnis unter möglichen Maßgaben von A- oder Dysfunktionalität. Diese Frage weist weit in andere Disziplinen hinaus.

Zweckfreiheit und Stimmigkeit im Spiegel des Ästhetischen

Der hier verhandelte Zusammenhang läuft auf die Frage hinaus, wie eine Zweckungebundenheit, die der mit dem ästhetisch Schönen aufgewiesenen Freiheit konstitutiv ist, zugleich dennoch Vermittlung zu gewährleisten vermag; und zwar eine Vermittlung in doppelter Perspektive: der internen subjektiven Binnenperspektive und ebenso der externen Perspektive auf Andere und Welt. Wie ist dies zu denken?

Spätestens seit der Subjektästhetik Kants – aber vielleicht auch schon immer durch das im Kunstdiskurs verhandelte ‚je ne sais quoi‘, befindet sich das Ästhetische unter der positiven Annahme, dem bloß Funktionalisierbaren entzogen zu sein beziehungsweise ihm sogar entzogen sein zu müssen, um überhaupt als Kunst oder Ästhetisches gelten zu können. Gerade im Verhältnis von Funktion und Ästhetischem tritt offenbar etwas konstitutiv hervor, was auch für Fragen des Selbstverhältnisses im Sinne einer möglichen Entlastung von Zwecken von Belang ist. Es zeigt sich, daß unter der im Ästhetischen immer wieder angeführten Zweckungebundenheit letztlich nichts Geringeres als Selbstzweckhaftigkeit und damit eine spezifische Form von Selbstwertsetzung gefaßt und in anthropologischer Perspektive verhandelt wird.

Grenzwertigkeiten – Variationen des Unbestimmten und Unbestimmbaren

Innerhalb der Kritik der Urteilskraft begegnet Zweckungebundenheit und damit eine Form von Nicht-Funktionalisierbarkeit in verschiedenen Gestalten, die alle jedoch die Eigenart der Selbstgesetzgebung von Urteilskraft umschreiben. So geschieht dies z.B. im prinzipiell unabschließbaren, aber harmonischen „Wechselspiel der Erkenntniskräfte“, in dem die daran beteiligten subjektiven Fähigkeiten angesichts des Schönen verharren, ohne – anders als im Erkenntnisprozeß – einen Begriff auszuwählen. Nach Kant dient dies zur „Belebung“ beider Erkenntnisvermögen (Einbildungskraft und Verstand) „zu unbestimmter, aber gegebener Vorstellung bei einhelliger Tätigkeit, derjenigen nämlich zu einem Erkenntnis überhaupt“.[8] Auch in der zu reflektierenden Zweckmäßigkeit zeigt sich, daß sie nichts zu einer Erkenntnis, sondern bloß zur „Kritik des urteilenden Subjekts“ austrägt.[9] Sie ist bestimmt als ‚bloß reflektierend‘. Als „subjektives Prinzip“ ist sie die „einzige Art, wie wir in der Reflexion über Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen“.[10]

Mit der Vorstellung einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ wird eine Struktur geprägt, mit der selbst das offensichtlich Nicht- Zweckorientierte doch der Form nach sinnvoller Organisation Genüge tut, und damit Orientierung zu leisten vermag. Eine solche Verweigerung von Funktionalisierbarkeit hat in ihrer Offenheit theoretisch im Sinne einer Anthropologisierung reflexive, strukturelle Relevanz. Wäre der Selbstzweck und damit das Selbst, das er wiederum umschreibt, theoretisch gefüllt (praktisch muß es immer erst und immer wieder gefüllt werden), dann gäbe es eben jene Freiheit der Selbstbestimmung nicht mehr, die sich im Selbstzweck zeigt. Selbstzweckhaftigkeit - die zugleich im Kontext der Ästhetik als eine Selbstgesetzgebung gedacht wird - ist als subjektiver, in sich bewegter Prozeß gekennzeichnet und als Individuierung verstehbar. Wenn die Selbstgesetzgebung von Urteilskraft letztlich um die des Subjekts kreist, dann kann alles bisher zur Selbstzweckhaftigkeit Gesagte im Hinblick auf ‚Menschen überhaupt‘ rezipiert werden.

Vermittlungen

Nachdem Kant über die gesamte ästhetische Urteilskraft versucht, die Eigenständigkeit im Ästhetischen zu erweisen, die zugleich Freiheit, Autonomie und kritische Differenz verbürgt, so hält er mit der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ doch auch an etwas fest, was sonst nur dem bestimmenden Urteil eignete. So wichtig die Herausarbeitung fundierender Funktionslosigkeit ist, so relevant ist doch aber auch der Verweis auf potentielle Funktionalität in der zu reflektierenden Formel.

Für Kant selbst, bei dem die Frage „Was ist der Mensch?“ als eine leitende angenommen werden kann, stehen die ästhetischen Belange in größerem anthropologischem Zusammenhang. In der benannten, viel bedachten Reflexion 1820a gibt er bereits in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts einen anthropologischen Hinweis. Aufschlußreich ist sie, weil sie auf die gesuchten Verbindungen abzuzielen scheint: „Die schöne[n] Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme“.[11] In welchem Verhältnis befinden sich hier nun subjekttheoretische Annahmen, die in der Subjektästhetik Präsenz erlangen und anthropologische Überlegungen, oder anders gefragt, warum bedarf es bei aller Autonomie im und durch das Ästhetische des Subjekts noch einer (ästhetischen) Anzeige von außen?

Offenbar wird hier (bloß) formal ausgedrückt, daß etwas ‚wie‘ zu einem Zweck taugt, nur da es keinen gibt, kann es sich bloß um ‚Zweckmäßigkeit‘ handeln. Diese vollzieht sich entsprechend eben frei, - aber zweckmäßig. So gesehen scheint es einen Unterschied zur Vorstellung des Selbstzwecks zu geben, wo etwas sich selbst zum Zweck gesetzt ist und seinen Zweck in sich hat oder trägt. Doch verflüchtigt sich genau diese Differenz, wenn darauf reflektiert wird, daß dieser Zweck von jenem Subjekt respektive Selbst gesetzt wird, daß sich wiederum erst über eben den sogenannten ‚Selbstzweck‘ bestimmt.

Der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ ist offenbar eine doppelte Zuschreibung eigen. Einerseits zeigt sie, daß Zweckmäßigkeit des Ästhetischen gerade außerhalb von Zweck-Mittel-Relationen im Sinne einer Selbstzweckhaftigkeit gedacht wird,[12] zugleich ist sie andererseits ein bloßer Relationsbegriff, der allererst seinen Sinn aus einer Beurteilung des je darin bezeichneten Verhältnisses bezieht.[13] Dies gilt insbesondere innersubjektiv in der harmonischen Zusammenstimmung im freien Spiel der Erkenntniskräfte. Fraglich bleibt jedoch die Vergewisserung dieses subjektiv gefühlten, ästhetischen Erlebens nach außen als externer Bezug. Denn die Begründung im Ästhetischen bei Kant – in ihrer Bemühung um die Erhellung des Subjektiven – darf ja nicht an der Existenz des Gegenstandes hängen, mit der sie nicht als frei bezeichnet werden könnte. Gleichwohl aber bedarf es einer externen Verankerung oder zumindest eines Verweises auf eine Affizierung durch das Schöne. Die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ kann so innersubjektiv die Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte verbürgen, wird aber offenbar über diese Binnenperspektive hinausgehend für das Verhältnis Subjekt und Natur oder Welt benötigt.

Das Frappante an dieser Gedankenfigur ist, daß sowohl ‚Selbstzweck‘ als auch „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ in antropologischer wie auch in ästhetisch-autonomer Hinsicht eine Leerstelle formulieren. Sie sind die theoretische Anzeige für eben jene konstitutive, systematisch notwendige Lücke, die – ähnlich einer Variablen in der Mathematik – gar nicht gefüllt werden darf, wenn Freiheit der Person gewahrt bleiben soll. Es muß dem jeweilig gemeinten Selbst überantwortet sein, dies zu tun. Würde das Selbst des Selbstzwecks gefüllt, wäre es nicht mehr autonom und frei. Eine Anthropologie, die diesen Raum einnähme, wäre nicht mehr als solche zu bezeichnen. Nicht erst über das potentielle unabschließbare „Wechselspiel der Erkenntniskräfte“ im ästhetischen Urteil erweisen sich Offenheit und Unbestimmtheit, sondern die Denkfigur des Selbstzwecks selbst ist theoretisch notwendig leer und praktisch, faktisch immer gefüllt und stetig kritisier-, revidier- und latent funktionalisierbar. Über diese Bestimmungen des Nicht-Bestimmbaren an Urteilskraft wird eine systematische ‚Leerstelle‘ sichtbar, die – unter Einbeziehung aller allen menschlichen Fähigkeiten (sensitiven, voluntativen, emotiven und kognitiven) – eine Möglichkeit zu einem philosophisch-kritischen Theorieansatz eröffnet. Schwungrad dieser stetigen Reflexion ist genau dies prinzipiell Unbestimmbare an allem Bestimmbaren, das zum Garanten für die unabschließbare Anstrengung der Reflexion wird. Kein erkenntnisleitendes Interesse funktionalisiert das Beurteilte wie im bestimmenden Urteil. Diese Funktionslosigkeit bietet innerhalb einer kritischen Philosophie konstitutives Potential, und zwar für das Subjekt, insofern es ein mit Sinnen begabter Mensch ist. Damit aber wird gerade diese Bestimmungslosigkeit, der ein systematischer Ort innerhalb Kants Kritiken eignet, Insignum von Subjektivität in anthropologischer Hinsicht und Grundlage jeder freien Möglichkeit zur Selbstbestimmung. Doch reichen diese Überlegungen zur Bestimmung des Selbstzwecks aus? – Anhand des ebenso notwendig werdenden und an der Performanz des Selbstzwecks aufbrechendem Bedürfnisses nach Selbstvergewisserung kann aufgezeigt werden, daß es eines interpersonellen Bezugsrahmens für diese Freiheit bedarf.

Die Bestimmung von „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ besagt im Weiteren, daß ihre Funktionslosigkeit zwar ohne Zweck, aber nicht unsinnig ist. Dieser Präzisierung und Einschränkung mit dem Charakter einer Selbstvergewisserung bedarf es offenbar, weil aufgezeigt werden soll, daß bei aller Unbestimmtheit doch ein Zusammenhang vorliegt. Es handelt sich um eine Vergewisserung darüber, daß dieser Zusammenhang als spezifisches Verhältnis gegeben und gleichwohl - trotz fehlender Bestimmung - sinnig ist. Ein Selbstzweck ist letztlich, auch wenn der Begriff anderes evoziert, nicht ‚selbstgenügsam‘. Verstanden als ‚Bedürfnis‘ weist er darauf hin, daß ein Umfeld nötig ist, in der eine Selbstzwecksetzung im Vollzug eines Selbst überhaupt erst freiheitlich aufscheinen kann. Selbstzweck erschöpft sich also offensichtlich nicht in einem und nicht allein aus einem Selbst, sondern bedarf einer Situation, eines Kontextes etc. Wie ist dies aber zusammen zu denken? Einmal ist Selbstzweck notwendig leer, formal, weil es sonst gar keine Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung geben könnte,[14] und zum anderen erfüllt oder vollzieht sich ein Selbstzweck offenbar doch nicht gänzlich aus sich allein.

Die sich im Selbstzweck bekundende Autonomie wäre nichts ohne Umfeld, in der sie sich erweisen kann. Genau hierauf scheint hingewiesen, wenn im Zitat aus den Reflexionen eine Welt aufgerufen wird, in die zu passen wir wünschen. An dieser Stelle wird der Gedanke von möglicher Vermittlung relevant. Wie läßt sich Zweckhaftigkeit mit etwas anderem als dem sich selbstgesetzgebenden Selbst vermitteln? Wie geschieht hier Vermittlung? Drei besondere Momente von Vermittlung lassen sich an dieser Art der ‚Zweckmäßigkeit‘ benennen. Die eine erfolgt für das Subjekt selbst, sie bezeichnet die zu jeder Erkenntnis benötigte proportionierte Zusammenstimmung, letztlich also eine Selbstzusammenstimmung der Erkenntniskräfte, und damit die Möglichkeit eines Selbstverständnisses und Sinnbildungsmöglichkeiten. Die zweite Weise geht auf ‚Vermittlung überhaupt‘ und findet sich in dem darin enthaltenen Gedanken einer Passung mit der Welt und einem Sinnbedürfnis. Der dritte Aspekt zielt auf die notwendige Vermittelbarkeit, auf die intersubjektive Seite des Geschehens von Selbstzweck bei all seiner Subjektivität.[15] Es geht in allen drei Fällen bezüglich der Selbstzweckhaftigkeit u.a. darum, daß es sich zwar um kein funktionalisiertes und zu funktionalisierendes Selbst- oder auch Fremd-Verhältnis handelt, aber gleichwohl um kein unsinniges, kein zweckloses, ja vielleicht nicht einmal gänzlich zweckfreies Verhältnis.[16]

Die im Ästhetischen reflektierte Autonomie des Subjekts ist gleichwohl eine in Gemeinschaft. Viele von Kants Überlegungen weisen darauf hin, wie die zur „Mitteilbarkeit“, zum „Gemeinsinn“ oder zu den „Maximen des gesunden Menschenverstandes“. Genau dieser Umstand führt dazu, den Zusammenhang von Einzelnem und Gemeinschaft unter Maßgabe des Selbstzwecks noch einmal rückschauend und vorausschauend – kurz: den ästhetischen Rahmen sprengend – zu reflektieren.

Die ästhetische Formel bloßer Zweckhaftigkeit verstanden als Selbstzweck, ist also, wenn das telos derselben betrachtet wird, nicht bloß die Umschreibung der Autonomie des Ästhetischen, sondern sie ist letztlich Denkfigur für die Selbstzweckhaftigkeit von Menschen und ‚antwortet‘ insofern im Plural auf die von Kant gestellte Frage: ‚Was ist der Mensch?‘.[17] Deutlich wird dies auch in Kants Formulierung eines Prinzips der „Idealität der Zweckmäßigkeit“, das er folgendermaßen definiert, dieselbe (Idealität der Zweckmäßigkeit) erwirkt, „daß wir in der Beurteilung der Schönheit überhaupt das Richtmaß derselben a priori in uns selbst suchen und die ästhetische Urteilskraft in Ansehung des Urteils, ob etwas schön sei oder nicht, selbst gesetzgebend ist“.[18]

Urteilskraft gibt sich selbst ihr Gesetz, und eine gewichtige Umschreibung, wie dies geschieht, ist eben jene „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, die genau darauf zielt, daß es sich hier zwar um ein freies, aber gleichwohl um kein unsinniges Geschehen handelt. Zusammengenommen aber mit den Gedanken zum Zusammenpassen in die Welt wird spürbar und deutlich, daß der Selbstzweck, so emphatisch auch immer er für das Ästhetische aufgegriffen wurde, er gleichsam in anthropologischer Perspektive einer Einbettung und Rechtfertigung bedarf. Es läßt sich wohl selbst das Gesetz geben, als Umschreibung von Autonomie, aber eine Selbstvergewisserung ist so noch nicht geleistet. Diese kann nicht lediglich aus sich selbst geschöpft werden, wenngleich der Begriff es suggeriert. Es bedarf einer gesonderten Anstrengung, eines Beweises von außen, um zu zeigen und sich zu vergewissern, daß dieser Selbstzweck, der ich bin, und den ich mir selbst gegeben habe, sich nicht völlig isoliert in der Welt vollzieht. Ein Blick auf die Tradition des Selbstzwecks zeigt hier eine relevante Linie. – Er taucht in gänzlich anderem Kontext bei Aristoteles der Sache nach bereits in der Nikomachischen Ethik, in seiner Bestimmung von philia auf. Anhand der notwendig werdenden Selbstvergewisserung kann aufgezeigt werden, daß es eines Bezugsrahmens bedarf, den andere Menschen und die Verhältnisse, in denen sie miteinander stehen, bilden.

Anthropologie des Selbstzwecks

Ein Blick auf diese andere Exposition von Selbstzweck kann die mit der Neuzeit aufgerissene Problematik schärfer konturieren. Die Selbstzweckformel ist grundlegend für Aristoteles‘ Konzeption der philia.[19] Selbstzweck zeichnet die höchste Form der nahen Beziehung, Freundschaft, Liebe,[20] in dreifacher Ausrichtung aus. Er bezeichnet die Selbstzweckhaftigkeit des Verhältnisses als solches, die Selbstzweckhaftigkeit je der beiden Freunde und in der damit gegebenen Daseinsbestätigung auch die Selbstzweckhaftigkeit des Daseins selbst, das sich jedoch nur in concreto vollzieht. Dies bedeutet jedoch keineswegs, Funktionen wie Nutzen oder Lust dürften keinen Platz in der Freundschaft einnehmen. Im Gegenteil, erst wenn Selbstzweck Grundlage ist, können Lust und Nutzen in angemessener Weise am rechten Platz, nämlich situativ und nicht als Grund der Freundschaft auftauchen.

Bei Aristoteles wird Selbstzweck konkret in der Nahbeziehung verortet und reflektiert. Auch bei ihm findet sich der schon für die notwendige Selbstvergewisserung von Kant angenommene Gedanke der Übereinstimmung, nur in anderem Kontext. Hier stimmen die Freunde im Sinne der Gleichheit (im Verständnis geteilter Einstellungen, Gesinnungen, Haltungen) miteinander überein, in je eigener Stimmigkeit und gegenseitiger Übereinstimmung.[21] D.h. innere (Selbst-)Stimmigkeit wird auch von außen gespiegelt. Es handelt sich um ein interpersonelles Geschehen und weist auf, wie menschliches Miteinander anders als funktionalisierend gedacht werden kann.

Bemerkenswerter Weise scheint die Selbstzweckformel sowohl für den aristotelischen wie für den kantischen Kontext, mit anthropologischen Implikationen versehen zu sein. Was heißt es nun aber, wenn diese nicht mehr im ethischen-sittlichen Kontext von Überlegungen zur philia und Liebe auftauchen, sondern im Ästhetischen und im Umfeld von Reflexionen zur Kunst und dem Subjektiven und weniger dem Intersubjektiven oder vielmehr Interpersonellen? Es besteht ein scharfer Kontrast zwischen der bei Kant aufgefundenen Diskussion des Selbstzwecks im Ästhetischen, der radikaler auf ein formal angenommenes Selbst baut, das sich im Spiegel der „schönen Dinge“ der Welt und sich selbst vergewissert, - gegenüber dem bei Aristoteles gegebenen Verständnis von Selbstzweck als zwischenmenschlich, und insofern intersubjektiv angelegter und interpersonell erlebter Verhältnishaftigkeit in persönlichen Nahbeziehungen, die einen affirmativen Reflex auf das eigene Dasein geben. Zeugt der Gegensatz beider Expositionen u.a. auch von einer problematischen Marginalisierung des Intersubjektiven für die Bestimmung des Subjektiven?

Der Weltbegriff als interpersonelles Konzept

Kant selbst bindet, wenn auch in anderer Weise als in der aristotelischen Konzeption der philia, den Gedanken des Intersubjektiven bzw. des Interpersonellen mit dem des Zweckmäßigen im Begriff des Weltbürgers zusammen. In der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht geht es letztlich um die Frage nach der Sinnigkeit menschlicher Existenz, die im relationalen Gefälle der potentiellen Entwicklung vom Einzelnem und menschlicher Gattung erörtert und ausgelotet wird.[22] Im Vergleich zum citoyen als Staats- und dem bourgeois als Stadtbürger, steht der Weltbürger im Verhältnis der Staaten zueinander, er steht dazwischen. Kant koppelt dieses Verhältnis an die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz, die mit der Idee des Kosmopoliten dezidiert innerweltlich verortet wird. In der Idee des Weltbürgers bekundet sich letztlich ein Zutrauen in die Sinnhaftigkeit wie auch in die möglichen globalen intersubjektiven Beziehungen, für die das Kosmopolitische nun als Sammelbegriff erscheint. – Wie nimmt sich nun aber diese Relation im Hinblick auf Kants Begriff der weltbürgerlichen Absicht aus, in der gerade von einzelnen Relationen ab und auf den Fortschritt des Ganzen hingesehen wird?

Mit Rückgriff auf Aristoteles wurde das gesuchte interpersonelle Moment im konkreten Freundschaftsverhältnis eingeholt. Der Zugewinn der kantischen Exposition liegt wiederum in der Formalität des als „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ vorgestellten Selbstzwecks. Mit Kant kann Selbstzweck in anthropologischer Perspektive als Selbstverhältnishaftigkeit verstanden werden. Die Momente von Selbst- und Weltvergewisserung sind hier im Gedanken der Zweckhaftigkeit verbürgt. Gerade im Verständnis von Selbstzweck, das sich mit der bei Kant sichtbar werdenden Selbstgesetzgebung verbindet, wird ein Moment der Selbstaffirmation faßbar und zugleich des Kontextes, in dem sie erfolgt. Selbstzweck bezeichnet demnach immer eine zweifache Bezüglichkeit, nämlich zu sich selbst und zu dem, was dieses selbst nicht ist. Von diesem jedoch weiß ein jeder nur, wenn und weil er in persönlichen Verhältnissen den anderen und sich darin erlebt. In der anthropologischen Reflexion auf die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ trat über die Frage des Passens und Zusammenstimmens die Verhältnishaftigkeit und der externe Bezug zu Tage, und damit ein Bezug zur Welt, der Welt als interpersonelles Geschehen aufweist. Selbst wenn er dabei die sozialphilosophischen Konturen einer Nahbeziehung von Freundschaft verloren hat, so hat er aber die zwangsläufig ideelle Dimension des Globalen dafür gewonnen.

Anmerkungen

[1] Mit meinen Überlegungen beziehe ich mich auch auf die erhellenden Ausführungen zum Interpersonellen und der Möglichkeit „globaler Weltbürgerschaft“ im Gedankenbild der ‚Landschaften‘ im Spannungsfeld von Aufgeklärtheit, historischer Verantwortung, der Rede vom „Garten der Kulturen“ bis hin zur ‚globalen Kultur‘ im Beitrag von Karin Wendt: „Worin wir leben. Landschaften.“ www.theomag.de Heft 62, Dezember 2009.

[2] Siehe hierzu Kants Text: „Was heißt: Sich im Denken orientiren?“ Akad.-Ausg. Bd. VIII. S. 131-147. Bes. S. 136f.

[3] Diese Formulierung bezieht sich auf das im Begriff der Zweckmäßigkeit ausgedrückte heuristische Prinzip. Zur Exposition dieses Gedankens bei Kant siehe besonders Abschnitt VII der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft. B XLIII / A XLI ff. Siehe auch Heiner Klemmes Einleitung zur KdU. Hamburg 2001. S. XXXIV u.. XLVI. Zur Verbindung von Heuristik und Urteilskraft siehe auch den Sammelband von Frithjof Rodi (Hrsg.): Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen. Weilerswist 2003.

[4] Vor allem in der weiteren Rezeption wurde diese Formel anthropologisch gewendet. Dies geschieht wohl besonders signifikant in Friedrich Schillers Verständnis des Spielbegriffs.

[5] Die Selbstzweckhaftigkeit hat verschiedentlich Anlaß zum Denken gegeben. Vgl. auch Josef Früchtl: Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Frankf. a. M. 1996. S. 76 und Birgit Recki: ‚Was darf ich hoffen?‘ Ästhetik und Ethik im anthropologischen Verständnis bei Immanuel Kant. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie. Heft 19.1, Januar 1994. S. 1-8.

[6] Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Einleitung B LII / A LIII ff. [Künftig zitiert: Kant: KdU.]

[7] So ist gerade auch von soziologischer Seite der unreflektierte Eingang ökonomisierter Selbstzuschreibungen und deren Problematik überdacht worden. Siehe Rolf Eickelpasch u. Claudia Rademacher: Identität. Bielefeld 2004.

[8] Siehe Kant: KdU. Einleitung B LV / A LII.

[9] Ebd.

[10]  Ebd. B XXXIV / A XXXII.

[11] Immanuel Kant: Akad.-Ausg. Bd. XVI. Reflexion 1820a, S. 127. Und siehe auch Birgit Recki: Ganz im Glück. Die ‚promesse de bonheur‘ in Kants Kritik der Urteilskraft. In: Naturzweckmäßigkeit und ästhetische Kultur. Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft. Hrsg. v. Karl-Heinz Schwabe und Martina Thom. Sankt Augustin 1993. S. 93-115.

[12] Vgl. Birgit Recki: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant. Frankfurt am Main 2001. S. 107.

[13] Siehe Joachim Peter: Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft. Eine Untersuchung zur Funktion und Struktur der reflektierenden Urteilskraft bei Kant. Berlin/New York 1992. S. 64.

[14] Er räumt theoretisch eine Stelle ein, in der freiheitliche Bestimmung allererst vollziehbar wird. Gleichzeitig ist die Formalität auch als Schutz vor möglichem theoretischen Mißbrauch gewählt, vor dem letztlich jedoch auch nichts gefeit ist.

[15] Diesen Aspekt bindet Kant an den sensus communis, auf den dann auch Arendt in ihren Überlegungen zur Pluralität des Menschen rekurriert.

[16] Auch im Ästhetischen begegnet uns ja nicht Sinnlosigkeit, sondern gerade im Gegenteil liegt hier nach Kants subjektästhetischer Position selbstvergewisserndes Potential im Ästhetischen.

[17] Siehe hierzu Kant: KdU, § 58 bes. B 252f / A 249, § 67 und Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Hrsg. v. Ronald Beiner. München 1998. S. 23f.

[18]  Kant: KdU. Einleitung. BXXXIV / A XXXII.

[19] Zur Diskussion der Freundschaftskonzeptionen bei Aristoteles und Kant siehe auch Nancy Sherman: Making a Necessity of Virtue. Aristotle and Kant on Virtue. Cambridge 1997.

[20] Philia siedelt sich nach meiner Auffassung unübersetzbar zwischen Liebe und Freundschaft an. Zur Relevanz der Freundschaft bei Aristoteles siehe auch Nathalie von Siemens: Aristoteles über Freundschaft. Untersuchung zur Nikomachischen Ethik VIII und IX. Freiburg 2007 und Heinrich Hüni: Das Hervortreten des Ethischen bei Aristoteles. In: Die erscheinende Welt. Festschrift für Klaus Held. Hrsg. v. Heinrich Hüni und Peter Trawny. Berlin 2002. S. 135-145.

[21] Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. 9. Buch, Kap. IV.

[22] Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Werkausgabe. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. XI. Frankf. a. M. 1977. A 385-411. Hier bes. A 401.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/65/fk11.htm
© Frauke A. Kurbacher, 2010