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Biblical faith. An Evolutionary ApproachAuf Gerd Theißens SpurenMarkus Mürle Vor mir liegt ein Buch, das der Heidelberger Neutestamentler Gerd Theißen 1984 veröffentlicht hat. Kurioserweise wird es in deutscher Sprache nicht mehr aufgelegt ist aber in englischer Sprache bei Fortress Press erhältlich. Biblical Faith. An Evolutionary Approach[1], statt Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht[2]. Die im Titel angedeutete Perspektive scheint für den angelsächsischen Bereich interessanter, als für den deutschsprachigen[3]. Zum in diesem Buch verhandelten Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaften gab es in der deutschsprachigen evangelischen Theologie ein beliebtes Bild: die Ellipse. Wie diese zwei Brennpunkte hat, so bedürfe es zum Erfassen von Wirklichkeit komplementärer Zugänge. Ein schönes Bild. Man konnte sich damit auch auf die Physik berufen. Wie dort Licht mit den unvereinbaren, aber komplementären Modellen von Teilchen und Wellen adäquat beschrieben wird, so kann Wirklichkeit mit den unvereinbaren, aber komplementären Perspektiven des Glaubens und der Naturwissenschaften adäquat erfasst werden. Schnittmengen („Ethik“, „Glauben von Forschenden“) konnten benannt, eigenständige Bereiche („Methapern“ - „Experimente“) unterschieden werden. Vermutlich liegt dem Modell die alte lutherische Dichotomie von weltlicher und geistlicher Sphäre zugrunde. Eine Stärke dieser Doppelstruktur liegt darin, darauf aufmerksam zu machen, dass Wirklichkeit nicht ein-fach ist. Eine, unbeschadet sattsam bekannter Nebenwirkungen, gute lutherische Pille für religiöse wie immanentistische Monomanen. So halte ich das Modell der Komplementarität immer noch für hilfreich, um sich das Problem religiöser wie naturwissenschaftlicher Fundamentalismen vor Augen zu führen. Dennoch stimmt etwas nicht. Ein Mathematiklehrer hatte uns in der Schule den Unterschied zwischen Kreis und Ellipse auf diese Weise erklärt: Kreise entstehen, indem man auf einer saftigen Wiese Ziegen grasen lässt, die mit einer Schnur an einen Pflock angebunden sind. Eine Ellipse entsteht, wenn man eine grasende Ziege beweglich an einem Seil laufen lässt, das deutlich länger ist als der Abstand der beiden Pflöcke, an welche die Seilenden angebunden sind. Zur Ellipse gehört das verbindende lockere Seil. Gibt es ein solches zwischen „religion“ und „science“? Von theologischer Seite wird zwar mit dem Ellipsenbild eine für die Komplementarität nötige Verknüpfung unterstellt aber ziehen nicht faktisch getrennte Ziegen an getrennten Pflöcken ihre getrennten Kreise? Was, wenn die dabei noch mögliche Schnittmenge gegen Null geht? Oder der erkorene Partner auf die komplementäre Symmetrie pfeift? Wenn das Modell also nicht ein gemeinsames Grasen, einen stattfindenden Dialog widerspiegelt, sondern ein beidseitiges Monologisieren bzw. Wiederkäuen? Man kann dann zwar immer noch versuchen, von seinem Kreis aus den anderen in den Blick zu nehmen, d. h. aus einer Perspektive des Glaubens versuchen, sich redlich anzueignen, was man von den Naturwissenschaften wissen sollte[4], bzw. aus der Perspektive des Hirnforschers auf die Bedeutung mythischer Konzepte und Engführungen biologischer Ansätze hinweisen[5]. Aber eine schöne Ellipse ergibt sich so nicht. Vielleicht ist es konsequenter, die beiden Kreise als unvereinbare Gegensätze darzustellen, wie das etwa Sonja Zekri tut, indem sie Papst Benedikt XVI auf Bertrand Russell auflaufen lässt[6]. Gerd Theißen schlägt mit seinem Buch vor, die beiden Pflöcke durch ein evolutionstheoretisches Band zu verknüpfen. Das evolutionäre Paradigma bietet eine interessante Schnittstelle zwischen empirischer Forschung und abstrakter Theoriebildung. Es ist offen und stellt für vielen Zeitgenossen eine plausible Grundlage dar, Wirklichkeit adäquat zu befragen und zu beschreiben. Es mag zunächst überraschen, ausgerechnet diejenige Theorie zur Begutachtung von Glaubensdokumenten heranzuziehen, die im Christentum starke Abwehrreflexe hervorgerufen hat. Aber Theißen führt damit lediglich den aufklärerischen Ansatz fort, zeitgenössische Wissenschaften auch auf „heilige Schriften“ anzuwenden. Deshalb konnten etwa historisch-kritische Methoden zur Bibelforschung herangezogen werden: Keine Angst vor wissenschaftlicher Prüfung das hält die Glaubensurkunde schon aus. Wobei keine Methode davor gefeit ist, zu einem scholastischen Ungetüm zu erstarren. Insofern gehört es nach protestantischem Verständnis zur theologischen Arbeit, die „Heilige Schrift“ auch neuen, ungewohnten wissenschaftlichen Perspektiven zu öffnen. Theißen hofft, dass gerade dadurch der zentrale Gehalt der Bibel in neuem Licht erscheint. Das Ergebnis sei für ihn a surprising experience, that precisely when we refuse to stop short at the innermost ‚sanctuaries‘ of the tradition with our modern scientific questioning, the tradition shows up in quite a new light[7]. Diese Offenheit bedingt Vorentscheidungen: Eine simple, starre Verbindungsstange zwischen Glauben und Wissen im Sinne eines „Intelligent Design“ führt nicht zu einer schönen Ellipse. Ebenso wenig ein „biologistisches“ Verständnis von Evolution, das, wie etwa in sozialdarwinistischen Konzepten, Phänomene „biologischer Evolution“ platt auf solche „kultureller Evolution“ überträgt. Auch die Sichtweise, „science“ habe „religion“ überholt und abgelöst, kann in dieser Schlichtheit nicht geteilt werden. Die Unterscheidung von „biologischer“ und „kultureller Evolution“ wird zum Schlüssel, um Differenzen und Beziehungen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu beschreiben. Eine Tabelle in Stichworten dürfte die Weichenstellungen trotz grober Verkürzung verdeutlichen:
Für das Verhältnis von „science“ und „religion“„ ergeben sich auf dieser Basis zu konfligierenden Polen auch Korrespondenzen. Die konfligierenden Pole: Hypothetische Rede apodiktische Rede; Bezug zu Fakten Rebellion gegen Fakten; Widerspruch (Innovation, Autoritätskritik) Konsens (Tradition, Gehorsam). Diese echten Polaritäten lassen sich aber gleichzeitig auch als echte Komplementaritäten darstellen:
Als grundlegende Elemente evolutionärer Sicht greift Theißen also die Phänomene bzw. Theoreme Adaption, Selektion und Mutation auf. Sie dienen als hermeneutisches Raster. Mit ihnen wird experimentiert: Lässt sich damit der Glaube an („faith in“) den einen Gott, an Jesus von Nazareth und an den Heiligen Geist quasi in einem neuen elliptischen Puzzle zusammensetzen? Allein der jeweilige „historical outline“ zum biblischen Monotheismus, zur neutestamentlichen „Christologie“ und „Pneumatologie“ sind der Lektüre wert. Ich habe selten eine solch luzide Darstellung biblischer Entwicklungslinien gelesen. Das Verfahren soll anhand der drei biblischen Themenfelder knapp vorgestellt werden:
Mit dem Legen dieses Puzzles sind zweifellos anregende, sprachlich wie gedanklich „schöne“ Konturen einer Ellipse entworfen. Sollte der Eindruck entstehen, das Bild sei gar zu schön, liegt das an der stark verkürzten Darstellung. Schroffe Disparitäten werden nicht glatt gebügelt. Heines Gedicht trifft nicht zu: Zu fragmentarisch ist Welt und Leben; Ich will mich zum deutschen Professor begeben. Der weiß das Leben zusammenzusetzen, Mit seinen Nachtmützen und Schlafrockfetzen
Der Bezug auf das offene evolutionäre Paradigma ermöglicht deutliche Konturen, lässt aber das Gesamtbild offen. Es bleibt ein Puzzle. Im Grunde arbeitet der Verfasser so, wie es traditionell guter Theologie ansteht: Sie verknüpft zeitgemäß plausible Paradigmen des Weltverständnisses mit ihren Glaubensurkunden. Wie etwa Thomas von Aquin aristotelische Philosophie als Werkzeug nutzte, um Glauben verantwortet und verständlich darzulegen. Insofern führt die Offenheit gegenüber „science“ zu theologischen Lernfortschritten. Gleichfalls könnten durch eine Offenheit gegenüber „religion“ Lernfortschritte auf naturwissenschaftlicher Seite nicht ausgeschlossen sein. Das vorgestellte Buch gibt interessante Impulse:
In seinem früheren Buch „Argumente für einen kritischen Glauben“ griff Theißen, um sein Verständnis von Religiosität als Resonanzerfahrung zu verdeutlichen, auf ein Gleichnis zurück: Jemand fährt in die Alpen, um sich dort zu erholen. In großer unberührter Schneelandschaft wird der Urlauber gewahr, dass es unangemessen wäre, mit den Skiern das Weiß willkürlich platt zu pflügen. Es stellt sich das Bedürfnis ein, mit einer schön geschwungenen Kurve der Landschaft zu entsprechen. Diese Kurve beschreibt eine Kehre: Mit dem Versuch, eine schöne Spur zu ziehen, schwindet der Bedarf, die Umgebung zu verzwecken. Der gestresste Tourist findet sich mitsamt seinen Bedürfnissen als Gast in dieser Landschaft wieder. Vergleichbar ist es mit unserem Leben. Wir ziehen los, um an der Wirklichkeit unsere Anliegen erfüllt zu sehen. Sofern uns aber eine religiöse Wende widerfährt, geht es uns mit der Gesamtwirklichkeit wie mit jener Alpenlandschaft: Unsere eigenen Anliegen verblassen auf einmal, und es bleibt das eine Anliegen, der umgebenden Gesamtwirklichkeit mit seinem verschwindenden Leben gerecht zu werden, eine Antwort auf sie zu formulieren und eine „schöne“ Spur zu hinterlassen, ehe wir sie verlassen müssen. ... Zentrales Problem wird nun die Frage...: Können wir ... Echo und Abglanz des erfahrenen objektiven Sinngehalts werden? Aber schon, indem wir die Frage stellen, haben wir unseren dumpfen, beschränkten Lebenskreis verlassen, und es ist, als sähen wir die Wirklichkeit zum ersten Mal mit angemessenen Augen.[9] Eine „schöne“ Spur. Ich vermute, Ästhetik wird in ihrer Bedeutung für „science“ und „religion“ nicht zu unterschätzen sein.
Das ist keine Passage aus einem Religionsbuch, sondern stammt von Ulla Hahn zu einer Auswahl ihrer Gedichte[10]. Sie fährt fort:
Logos und Ästhetik. Nicht fertig sein. Ich kann nicht nicht wissen. Ich kann nicht nicht glauben. Angesichts heutiger, mitunter hohler und schriller Beiträge zu „religion“ wie „science“, wäre eine deutschsprachige Neuauflage von „Biblical Faith“ wünschenswert. Anmerkungen[1] Gerd Theißen, Biblical Faith. An Evolutionary Approach, Minneapolis 2007 [2] Gerd Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1984 [3] Die von R. Hempelmann herausgegebenen EZW-Texte 204/2009, Schöpfungsglaube zwischen Anti-Evolutionismus und neuem Atheismus (http://www.ekd.de/ezw/Publikationen_2008.php), weisen keine Rezeptionsspuren von Theißens Buch auf. [4] Ernst Peter Fischer, Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte, Berlin 4/2005 [5] Gerald Hüther, Die Evolution der Liebe. Was Darwin bereits ahnte und die Darwinisten nicht wahrhaben wollen, Göttingen 3/003 [6] Sonja Zekri, Papst Benedikt XVI. Angst vor Menschen ohne Zweifel, sueddeutsche.de/kultur/679/462298/text [7] Theißen, Preface, xi [8] Vgl. Peter Strasser, Warum überhaupt Religion? Der Gott, der Richard Dawkins schuf, München 2008 [9] Gerd Theißen, Argumente für einen kritischen Glauben oder: Was hält der Religionskritik stand? München 3/1988, S. 38f [10] Ulla Hahn, Süßapfel rot, Gedichte, Mit einem Nachwort der Autorin, Stuttgart 2003, S. 93f |
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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/65/mam2.htm
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