Paradigmen theologischen Denkens

Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben

Stefan Schütze

2. Der Ausgangspunkt: Theißens Frage nach einem „kritischen Glauben“, der „der Religionskritik stand“hält

Lektürebasis:

In diesem frühen programmatischen Buch von Gerd Theißen wird die Frage pointiert gestellt, wie man angesichts der Religionskritik der Neuzeit Glauben und Religion so definieren kann, dass sie den kritischen Anfragen an sie von der Aufklärung bis zur Entwicklung des heutigen wissenschaftlichen Weltbildes „standhalten“.

Wenn Glaube nicht nur Projektion (Feuerbach), infantiles Wunschdenken (Freud) und Opium für das Volk (Marx) sein soll, dann müssen für die religiöse Erfahrung belastbare empirische Korrelate benennbar sein. Solche Haftpunkte, die den Glauben an die Wirklichkeit binden, und die darum nicht als bloße Illusionen aufgelöst werden können[1], findet Theißen in zwei grundlegenden Erfahrungszusammenhängen, die Menschen gegenüber der sie umgebenden Wirklichkeit haben: Menschen machen Resonanzerfahrungen, mit der sie umgebenden Wirklichkeit, in denen sie sich geborgen und getragen fühlen – vgl. auch Schleiermachers Definition der Religion als „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“. Diese Resonanzerfahrungen sind direkt religiös.

Die entgegen gesetzten Erfahrungen, die Absurditätserfahrungen sind dagegen indirekt religiös, insofern, als Religion zu ihrer Bewältigung und Bearbeitung dient: Wie „in jeder Absurditätserfahrung enttäuschte Resonanzerwartung mitschwingt, so klingt in jeder Resonanzerfahrung überwundene Absurdität nach, nämlich das Bewusstsein, dass Resonanz nicht das Normale, sondern das Unwahrscheinliche und Wunderbare ist“.[2]

Alle Religionen beruhen auf dem Umgang mit diesen beiden grundlegenden Erfahrungstypen des Menschen in Bezug auf das Ganze der ihn umgebenden Wirklichkeit. Die christliche Religion bietet dabei mit ihrer „christologischen Dichtung“ ein Symbol, das in besonderer Weise sowohl die grundlegenden Resonanzerfahrungen integriert (Jesu Erfahrung Gottes als gütiger Vater; christologische Bestimmung Gottes als „Liebe“) als auch die menschlichen Absurditäts- und Dissonanzerfahrungen kreativ bewältigt (Kreuz und Auferstehung).

Aus der Deutung der neutestamentlichen Christologie als religiöse Lyrik ergibt sich zugleich ein kritischer hermeneutischer Schlüssel für die Verhältnisbestimmung von Glauben und Glaubenslehre: Die christologischen Texte des NT sind „Liebesdichtung, und wer sie zum Dogma macht, handelt so, als wolle er ein Liebesbekenntnis in einen juristischen Vertragstext umwandeln.“[3] Insofern geht es Theißen, wie schon der Titel seines Buches sagt, nicht nur um eine Verteidigung, sondern auch um eine kritische Transformation des Glaubens, denn nur ein „kritischer Glaube“ wird letztlich in der Lage sein, den Lebensgehalt religiöser Traditionen angesichts des Wahrheitsbewusstseins der modernen Wissenschaft zu bewahren.



[1]  Theißen spricht von der „Erfahrungsbasis religiöser Vorstellungen“ (Theißen, Plädoyer, 46)

[2]  Theißen, Plädoyer, 49

[3]  Theißen, Plädoyer, 110

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/65/sts1c.htm
© Stefan schütze, 2010