Paradigmen theologischen Denkens

Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben

Stefan Schütze

7. Abschluss

Rückblickend auf das Ganze der in diesem Aufsatz dargestellten Gedankengänge kann ich sagen, dass die Begegnung mit der hier vorgestellten theologischen Literatur, und mit der Weite und kritischen Tiefe theologischen Denkens, wie ich sie außer bei Theißen v.a. im Bereich der gegenwärtigen englischsprachigen, amerikanischen und britischen Diskussion gefunden habe, mein eigenes theologisches Denken und meine existentielle Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben ein großes Stück vorangebracht und bereichert hat.

Sicher handelt es sich bei den vorgestellten Entwürfen um sehr unterschiedliche konkrete Positionierungen und um sehr unterschiedliche Konzepte mit teils unvereinbaren und widersprüchlichen Bestandteilen. Dennoch vereint alle diese Entwürfe die Verbindung kreativen Weiterdenkens der biblischen und christlichen Glaubensperspektive auf der einen Seite, und ihre Inbezugsetzung zur modernen Religionskritik, zu den Denkstandards der Aufklärung, zum gegenwärtigen Stand naturwissenschaftlichen Nachdenkens, und zum globalen religiösen Horizont auf der anderen Seite. So verhalfen sie mir zu einem neuen Spektrum von Denkmöglichkeiten eines heute plausiblen kritischen Glaubens, der über die Sackgassen großer Teile der bisherigen religionsphilosophischen Debatten und schlichtweg nicht mehr kommunizierbarer rein selbstreferentieller theologischer Binnensprache, die sich leider oft auch noch in vielen gegenwärtigen deutschen theologischen Diskussionen findet, hinausführt.

Die menschliche Frage nach „Gott“ ist in diesen Konzepten auf der einen Seite der Mittelpunkt aller einzelnen Denkbemühungen. Auf der anderen Seite meinen diese Autoren mit „Gott“ nicht einen isolierten Gegenstand menschlicher Erkenntnis, ein „höchstes Seiendes“ neben dem anderen Seienden, das, wie wir eigentlich schon seit Augustin, Thomas von Aquin, Luther und Tillich wissen, in Wahrheit allenfalls ein „Götze“ und eine Wunschprojektion irdischer Perspektiven in den Himmel sein könnte. Sie fassen das Symbol Gott vielmehr im Sinne der Tillich’schen Denkfigur vom „god above god“ als „Horizont“ und  „Grenze“ menschlichen Denkens auf, so wie Haught es in Anlehung an Tillich formuliert hat: „God is not one object among others in our experience. Rather, God may be understood as the ultimate horizon which makes all of our experiences possible in the first place.“[i] Die Perspektive des Göttlichen als „Horizont“ menschlicher Wirklichkeitsdeutung schützt das Symbol „Gott“ vor Verdinglichung und Reifizierung: Über den „Horizont“ seiner Lebensperspektiven kann man immer nur näherungsweise sprechen. Jedesmal, wenn man den „Horizont“ selbst in den Blick nehmen will, weicht er zurück, und entzieht sich seiner visuellen Fixierung und dinglichen Beschreibung.

Haught erklärt diese gedankliche Nichterfassbarkeit und nur näherungsweise Ahnbarkeit des Göttlichen im Rahmen einer „via negativa“ noch mit einem anderen Bild, „by considering an elementary aspect of information systems, the notion of negative feedback. Negative feedback is information about the variance between a system’s actual state and an ideal state. For example, through negative feedback, a heating system informs the thermostat to adjust itself when the temperature falls below a set point, allowing the heat to come back on until the idealized temperature is reached. Registering the discrepancy between an actual and an ideal state is a feature of many information systems. It may be useful then to envisage religions as adaptive evolutionary information systems capable of registering the enourmos distance between our concrete symbols and the enexhaustible depth they symbolize. In addition to all the genetic and evolutionary causes that Darwinians are conditioned to look for, religions are simultaneously information systems attempting to adjust to the negative feedback emanating from the inexhaustible depth towards which they are oriented, but to the bottom of which they can never conclusively arrive. Because of its own boundlessness, an infinite depth could never be adequately represented by any particular set of symbolic portrayals. There would always and forever be a distance between the ultimate depth of the universe on the one hand, and the finite religious systems that seek to model and codify it on the other.“[ii]

Auch Theißen beschreibt religiöse Vorstellungen und Gottesbilder in dieser Weise als „Tastversuche“: „Alle Religionen tasten m.E. mit ihren Symbolen und Bildern über die Schwelle, die von der biologischen Evolution zur kulturellen Evolution führt.“[iii]

Ein solches Verständnis tastender und suchender Gottesrede erfordert m.E. einen grundlegenden Wechsel weg von einer polemischen und adversativen hin zu einer irenischen und synthetischen Theologie. In allen Entwürfen, gerade solchen, mit denen man sich schwer tut, gilt es, die berechtigten Anliegen und „momentae veri“ zu sehen. In diesem Sinne betont z.B. Kaufman die Notwendigkeit, „to open ourselves to everything human, to every position and claim; to listen sympathetically to every kind of experience … This is an empowerment for radical inclusiveness rather than exclusiveness, an empowerment that encourages gratitude and respect for the humanity of every person and community, not only to those who happen to agree with us.“[iv]

Und was ist bei einem solchen Verständnis von „believes“ als „imaginativen“ menschlichen kulturellen „Konstruktionen“ mit der Bedeutung von „Schrift und Bekenntnis“, und ihrer konstitutiven Bedeutung als Norm und Quelle jedenfalls eines christlich bestimmten menschlichen Glaubens („faith“)?

Zuzugeben ist sicherlich eine gewisse Differenz zu in Bibel und Bekenntnisbildungen immer auch enthaltenen Überzeugungen, dass sich einzelne religiöse Wahrheiten und Botschaften einer direkten „Eingebung“ durch einen göttlichen „Sender“, etwa einer unmittelbaren prophetischen Ergriffenheit durch ein „Wort“ oder „Worte Gottes“ verdanken könnten, die sie der historischen Kontingenz menschlichen Verstehens enthebt, wie man es etwa einer vordergründigen Deutung der prophetischen „Botenspruchformel“ („co amar JHWH“ oder „neum JHWH“) entnehmen könnte. Von der Tatsache, dass die Perspektive eines kritischen religiösen Realismus hier „does depart from what each tradition says about itself“, gibt John Hick offen zu: „Yes, it does and it must“[v], denn jeder Anspruch auf direkte göttliche Inspiration ist religionswissenschaftlich gesehen „partly a human projection, as a joint product of the universal presence of the Real and of a particular human conceptual scheme and its associated spiritual practices“[vi].

Dabei wird ein kritischer religiöser Realismus solchen Ansprüchen auf direkte Mitteilung geoffenbarter Wahrheiten allerdings nicht einfach kategorisch widersprechen, sondern sie in ihrer existentiellen Funktion für den Vorgang der betreffenden religiösen Kommunikation interpretieren: Dass z.B. die prophetischen Boten mit der Botenspruchformel ihre Sendung direkt auf ein an sie ergangenes „Wort Gottes“ zurückführen, besagt, dass sie hier etwas weitergeben, von dem sie selbst „unbedingt ergriffen“ und „verpflichtet“ sind, weil dahinter eine persönliche genuin-religiöse, und in diesem Sinne für sie „absolute“, Grunderfahrung steht.

Eine solche existentiell-funktionale Interpretation und teilweise Relativierung religiöser Selbstansprüche auf direkte göttliche Wahrheitsmitteilung in den „Heiligen Schriften“ der Menschheit ist dabei nicht erst eine Folge der hier beschriebenen theologischen Revisions- bzw. Rekonstruktionsarbeit im Zusammenhang mit einer evolutionär-geschichlichen und global-pluralistischen Perspektive, sondern schon durch eine historisch-kritische Hermeneutik an sich notwendig gegeben (historische Sachkritik). Und sie „entwertet“ dadurch den Anspruch auf Normativität und „Verbindlichkeit“ etwa von Bibel und Bekenntnis für den christlichen Glauben m.E. nicht.

Historisches Wissen und kritisches Nachdenken führen zwar zu einer konsequenten Einordnung auch der biblischen Zeugnisse und Bekenntnisformulierungen der Dogmen- und Theologiegeschichte in die menschliche Kultur. Sie sind selbst Teil der anhaltenden menschlichen Kreativität, „human imaginative constructions“, in denen grundlegende Erfahrungen von „faith“ erzählt, gedeutet, konzeptualisiert und überliefert werden. Sie können nicht direkt von Gott gewirkt oder „geoffenbart“ sein, weil Offenbarung im Rahmen einer heute angemessenen theologischen Deutung eben keine „Mitteilung von Satzwahrheiten“ („propositional truths“) sein kann, sondern nur Teil der Erschließungskraft der Wirklichkeit bzw. ihrer transzendenten Tiefendimension selbst.

Die Erzählungen, Einsichten und Weisheiten der Bibel und die auf sie antwortenden kirchlichen Bekenntnisaussagen werden aber weiterhin ein herausgehobener, besonderer Teil der menschlichen Kultur sein. Die Bibel überliefert „anfängliche“ Glaubenserfahrungen, die in einer besonderen Nähe von geschichtlichen „Durchbrüchen von Transzendenz“[vii] stehen. Sie ist darum im wörtlichen Sinne eine „Ur-Kunde“ menschlichen Glaubens, und über die Zeiten hinweg eine lebendige Quelle der Inspiration für menschliche Weltorientierung, der Begründung, Bereicherung und Vertiefung menschlichen Lebens, und in diesem Sinne „normatives“ Zeugnis einer dem Menschen auch heute begegnenden Inanspruchnahme, Tröstung und Verpflichtung durch das letzte Geheimnis der Wirklichkeit selbst.

Oder, wie es Theißen ausdrückt: „Stellen wir uns vor, die ‚himmlische Akademie der Wissenschaften’ erhielte am Ende der Zeiten den Auftrag, aus allen Traditionen und Büchern auszuwählen, was in alle Ewigkeit gültig bleibt, Wenn man davon überzeugt ist, dass die Bibel in ihren Kernaussagen in diesen ‚ewigen Kanon’ aufgenommen wird, hat man sie als ‚Heilige Schrift’ anerkannt. Nichts spricht dagegen, dass auch Texte aus anderen Religionen in diesen Kanon aufgenommen werden. Wir wissen nicht, welche es sind. Wir sollten uns dafür offen halten, dass wir in diesem Kanon viele Texte anderer Religionen finden, aber auch dafür, dass nicht die ganze Bibel aufgenommen wird! Ein Kriterium der himmlischen Gelehrten – vielleicht nicht das einzige – wird sein, inwieweit die Texte einem antiselektionistischen Geist verpflichtet sind oder nicht.“[viii]

Dass und wie die jüdische und christliche Bibel hierbei aber eine herausragende Bedeutung für das Ganze der menschlichen Kultur hat, das hat gerade Theißen mit seinen Arbeiten auf beeindruckende Weise gezeigt, wenn er den Kanon des Alten und Neuen Testamentes als einen „’semiotischen Dom’“ erschließt, „der nicht aus Steinen, sondern aus Erzählungen, Bildern, Riten und Gegenständen, kurz aus Zeichen verschiedener Art errichtet wurde“, und so den Menschen „den Einbruch einer transzendenten Wirklichkeit“ symbolisiert.[ix]

Mit den hier referierten theologischen Büchern und Gedanken habe ich versucht, einige Einsichten und Denkwege weiter zu geben, die mir selbst geholfen haben, mich heute in diesem „Dom“ weiter staunend, glaubend und hoffnungsvoll zu bewegen. Vielleicht kann mein Beitrag auch für andere eine Hilfe werden, wie Dorothee Sölle es einmal gesagt hat, in diesem Leben „fromm und kritisch zugleich“ zu sein, und „Glauben“, „Liebe“ und „Hoffnung“ dabei als tragfähige Orientierungen auch in der heutigen Wirklichkeit zu buchstabieren, weil sie als Dimensionen des letzten „Geheimnisses“ unserer Wirklichkeit eben keine bloße „delusion“ sind, sondern tief begründet und verwurzelt in „the way things really are“.



[1]   Haught, What is God, 20

[2]   Haught, Deeper than Darwin, 137

[3]   Theißen, Zur Bibel motivieren, 255

[4]   Kaufman, Mystery, xiii

[5]   Hick, Rainbow, 47

[6]   Hick, Rainbow, 46

[7]   vgl. Theißen, Zur Bibel motivieren, 251

[8]   Theißen, Zur Bibel motivieren, 251f.

[9]   Theißen, Zur Bibel motivieren, 132f.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/65/stsh.htm
© Stefan Schütze, 2010