It’s a sin

Eine videoästhetische Reise durch die Welt der populären Sünden[1]

Andreas Mertin

Prolog - Das Problem mit der schönen Sünde

Werner Hofmann hat im Katalog zur Ausstellung „Luther und die Folgen für die Kunst“[2] unter dem Titel „Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion“ folgende Anekdote überliefert:

„1958 war auf der Brüsseler Weltausstellung im Pavillon des Vatikanstaates ein lebensgroßes Bild von Brigitte Bardot zu sehen, das die Sünde und das Böse verkörpern sollte, ein Thema, das die katholischen Moraltheologen seit eh und je ebenso ausgiebig beschäftigt wie die Maler und Bildhauer. Die neue 'Eva' erwies sich als überraschend attraktiv, weshalb man sich genötigt sah, ihr Bild wieder zu entfernen. Die Kirche sah sich von einer Allegorie verunsichert, deren sie sich seit Jahrhunderten bedient hatte. Die Macht des Bildes zwang sie zum Bildverzicht. Einmal angerufen, hatte das Bild des Filmstars eine Wirkungsmacht entfaltet, welche dem ihm zugewiesenen belehrenden Kontext sprengte: anstatt zu warnen, verführte es. Deshalb musste es verschwinden. Insgeheim gehorchten die vatikanischen Instanzen einer Bilderangst, wie sie ähnlich auch den Ikonoklasten erfasst, der sich von der Bedrohung durch das Götzenbild befreit, indem er es zertrümmert.“ (S. 24)

Als der Vatikan Brigitte Bardot so vorführte, geschah das natürlich nicht einfach so, also quasi willkürlich, sondern war eine Reaktion auf ein genau benennbares populärkulturelles Ereignis. Im Jahr zuvor, also 1957, war jener Film erschienen, der in Deutschland den Titel trug „Und ewig lockt das Weib“ und im Amerikanischen unter dem wesentlich zugespitzteren Titel „and God created woman“ erschien. Altersfreigabe: 18 Jahre. Die Filmwerbung ergänzte den Filmtitel „and God created woman“ süffisant mit dem Satz: „… but the devil invented Brigitte Bardot.“ Ein Phänomen, dass man gesehen haben muss, um es zu glauben!

Der Vatikan hatte also 1958 die Filmwerbung beim Wort genommen und Brigitte Bardot als das Böse, als die Sünde bzw. als Verführung zur Sünde schlechthin dargestellt. Was den Cineasten recht war, sollte dem Vatikan doch billig sein. Nur funktionierte es eben nicht so, wie es sich der Vatikan ausgedacht hatte. Die Sünde geht tiefer als intendiert, sie ist nicht nur oberflächlich. Nun ist die Differenz von 53 Jahren kaum zu überschätzen. Was musste Brigitte Bardot also getan haben, um derartige Reaktionen zu provozieren? Schauen wir uns eine knappe Zusammenfassung des Films an:

Video 1: And God created woman (4:02)

Schaut man sich die Szenen an, dann mag man aus heutiger Perspektive kaum glauben, dass diese Harmlosigkeiten und stereotypen Oberflächlichkeiten derartig heftige Reaktionen hervorgerufen haben. Das also soll die Verkörperung der Sünde sein?

Wir befinden uns immerhin sieben Jahre nach Willi Forsts Skandalfilm „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef, der schon 1951 wegen „entsittlichender“ Tendenzen den entschiedenen Protest der evangelischen und der katholischen Kirche hervorrief, was ihm dann in Deutschland über 7 Millionen Zuschauer einbrachte. Der Erzbischof von Köln, Kardinal Joseph Frings, verurteilte den Film in einem Hirtenbrief, Priester warfen Stinkbomben in Kinos, und Politiker verteilten Flugblätter mit Texten wie "Die Sünderin – Ein Faustschlag ins Gesicht jeder anständigen deutschen Frau! Hurerei und Selbstmord! Sollen das die Ideale eines Volkes sein?" Aufführungsverbote und die öffentliche Verurteilung von den Kanzeln verhalfen dem Streifen zum großen Publikumserfolg. Sieben Jahre später hätte die katholische Kirche es also durchaus wissen können, welche Folgen es hat, wenn man die personifizierte Sünde in der Gestalt einer Frau präsentiert und sich davon Abschreckungseffekte erhofft..

Sinnermann

Kommen wir von den cineastischen zu den musikalischen Auseinandersetzungen mit dem Thema Sünde. Ein Klassiker ist das Spiritual „Sinnerman“, der von einem bzw. dem Sünder handelt, der dabei in durchaus biblischer Sprachtradition bei ganz verschiedenen Phänomenen Zuflucht nimmt: Er flieht zum Fels, zum See, zum Herrn, zum Teufel – ohne jemals Halt und Zuflucht zu finden.

Von diesem traditionellen Spiritual gibt es zahlreiche Vertonungen und Versionen seit den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts, wobei die Ursprünge mindestens auf den Anfang des Jahrhunderts zurückgehen dürften. Die Allmusic-Datenbank gibt allein schon 235 Alben an, auf denen sich das Lied findet: dazu zählen etwa Nuestro pequeño mundo in der Art einer spanischen Ballade aus dem Jahr 1968 oder The Seekers im Stil eines irischen Folkliedes aus dem Jahr 1966. Legendär ist die überraschend moderne 10-minütige Version von Nina Simone aus dem Jahr 1965, die Felix da housecat im Jahr 2003 neu aufgegriffen und videoästhetisch unterlegt hat. Wir hören zuerst Nina Simone und sehen und hören dann die Bearbeitung von Felix da housecat.

Video 2: Nina Simone (9:29)

Video 3: Felix da Housecat (3:35)

Deutlich ist, dass Felix da housecat das Thema mit dem Videoclip wieder in den moraltheologischen Diskurs der sieben Todsünden zurückholt, während das Spiritual (man möchte fast sagen: gut protestantisch) beim Sündersein an sich verbleibt.

Pet Shop Boys: It’s a sin

Ging es beim Spiritual Sinnerman um die kommentierende Darstellung des verzweifelten Sünders, so ging es Mitte der 80er-Jahre bei den Pet Shop Boys eher darum, dass alles immer sofort als Sünde bezeichnet wird. Es ist der (für die 80er-Jahre freilich reichlich verspätete) Aufstand gegen veraltete Etiketten: Everything I've ever done / Everything I ever do / Every place I've ever been / Everywhere I'm going to / It's a sin. Visualisiert wurde das Stück 1987 von dem Regisseur Derek Jarman, der die Thematik des Liedes aufgreift, indem er einen der Musiker im Arrest der Inquisition zeigt, mit einem anderen Bandmitglied als Kerkermeister und einem Dritten in der Rolle des Richters. Das Ganze ist durchsetzt mit kurzen Clips von Personifikationen der sieben Todsünden.

Video 4: 1987 - Derek Jarman (5:00)

Während die Musik von „It’s a sin“ bis heute ihre Aktualität und Präsenz kaum verloren hat, ist das bei der Visualisierung im originalen Videoclip nicht der Fall. Das ist alles extrem bemüht und gewollt und weckt aber auch keine Sekunde Assoziationen, die etwas mit Sünde, Todsünde, Laster usw. zu tun haben. Es ist – aus heutiger Perspektive zumindest – schlicht langweilig. Es ist ja nicht so, als ob in dieser Zeit nicht beklemmende Videos gedreht wurden, aber dieses gehört definitiv nicht dazu.

Ein Jahr später wurde die Musik im Rahmen der Stückes „Der Schlafsaal“ der Tanzgruppe Carbone 14 mit den Choreographen Gilles Maheu & Danielle Tardif auf eine geradezu atemberaubende Weise visualisiert. Das Ganze schildert das Erwachen der Sexualität im Rahmen eines katholischen Internats und hat offenkundig bis heute nichts von seiner beklemmenden Aktualität verloren. Es ist die Zeit, in der auch Madonna in dem kurz darauf erschienenen Videoclip zu  Express Yourself unter der Regie von David Fincher an einer ähnlichen visuellen Strategie arbeitet. Inspiriert von Fritz Langs Film Metropolis zeigte sich Madonna in Strapsen und tanzend im Männeranzug und lag nackt mit schweren Eisenketten im Bett, ein Motiv, das dann Mitte dieses Jahres 2010 von mehreren Popkünstlerinnen in ihren Videoclips wieder aufgegriffen wurde (vgl. etwa Lady Gagas verunglücktes Video Alejandro unter der Regie des Fotografen Steven Klein oder Christina Aguileras dekonstruktivistische Madonna-Adaption Not myself tonight unter der Regie von Hype Williams) und unter der Rubrik „Pop Stars getting back to their dirty roots“ abgelegt wurden.

Video 5: 1988 – Tanzperformance (5:19)

Die Video-Tanzperformance zu „It’s a sin“ – von der es mehrere unterschiedlich komponierte Versionen desselben Film-Materials gibt – arbeitet zwar mit Rahmungen, die die Assoziationsreihe andeuten, aber enthält sich unmittelbarer Visualisierungen der Sünde. Dort, wo die Sünde dann thematisch wird, werden nur die Worte eingeblendet. Alles Weitere spielt sich in der Phantasie der Betrachter ab.

Tödliche Sünden?

Der Zusammenhang von Wohlergehen, Krankheit und Sünde beschäftigt schon die neutestamentliche Literatur und trotz aller aufklärenden Worte Jesu bezüglich des nicht existenten Zusammenhangs von Krankheit und Sünde interpretieren viele religiöse Menschen Krankheit bis in die Gegenwart als Folge von begangenen Sünden bzw. sie schließen umgekehrt von vorhandenen Krankheiten auf bisher nicht zugegebene vorhergehende Sünden. Dieses Denken greift das folgende Lied samt dem dazu gehörenden Clip auf.

Die amerikanische Heavy-Metal-Band Metallica hat im Mai 1996 unter der Regie von Samuel Bayer ein Video zu ihrem Lied "Until it sleeps" produziert, das ein hoch interessantes und immer noch aktuelles Lehrstück in Religions-, Kultur- und Kunstgeschichte zugleich ist. Der Text des Liedes fragt nach den Ängsten, die im Menschen lauern und den Panikattacken, die er verspürt, jedoch nicht zu bändigen weiß. Visuell setzt der Clip diese Fragen in einem Wechsel von Band-Präsentation und Bildererzählung um.

Video 6: 1996 – Metallica (4:28)

Mediales Mittelstück dazu ist die Bilderwelt des niederländischen Malers Hieronymus Bosch (1450-1516). Der Film schlägt eine Brücke von der Gegenwart über das ausgehende Mittelalter bis zur Lebensgeschichte Jesu Christi, ja bis zum Anfang der Welt. Um den Videoclip aber verstehen und deuten zu können, muss man mehr wissen, als nur ein paar kunstgeschichtliche Fakten. Man muss um die Verbindung von Sündenfall und Kreuzigung ebenso wissen wie um das Leben Jesu, um zu erkennen, dass hier das Ringen eines Menschen mit der Verzweiflung Jesu in Gethsemane parallelisiert wird.

Römer 5, 18f: Ist durch die Übertretung des einen der Tod zur Herrschaft gekommen, durch diesen einen, so werden erst recht alle, denen die Gnade und die Gabe der Gerechtigkeit reichlich zuteil wurde, leben und herrschen durch den einen, Jesus Christus. Wie es also durch die Übertretung eines einzigen für alle Menschen zur Verurteilung kam, so wird es auch durch die gerechte Tat eines einzigen für alle Menschen zur Gerechtsprechung kommen, die Leben gibt.

Den Metallica-Fans war von vorneherein klar, dass hier keine blasphemische Verwendung religiöser Motive vorlag, sondern dass es um eine ernsthafte Auseinandersetzung ging. Sie bekamen heraus, dass der Liedtext aus Anlass des Krebstodes eines nahen Verwandten eines Bandmitgliedes entstanden war, der von seinem bevorstehenden Tod erfahren hatte und mit seinem Schicksal haderte: Warum gerade ich? Welche Sünden habe ich begangen? Der Videoclip versetzt die Band in die Bilderwelt von Hieronymus Bosch und legt ihr zudem ein heilstypologisches Schema über und inszeniert sie in einer videodramatischen Form, die den Gegenüberstellungen von Altem Testament und Neuen Testament auf den Türen der Baptisterien mittelalterlicher Kirchen entspricht. Insofern er das tut, setzt er aber einen Deutungsrahmen voraus, den sich der reine Liedtext versagt. Denn die Antwort, die der Clip gibt, lautet ja nicht, dass alles seinen Sinn hat, sondern dass unter Verweis auf das Leiden Jesu das Leiden des Einzelnen keine Strafe für seine Sünden ist. Auf diese Weise ermöglicht die Auseinandersetzung von Musik, Text und Bildinszenierung auch ein spannendes Gespräch zum Thema Bibel, Religion und Lebensdeutung.

Was ist denn eigentlich Sünde? – Ein Sängerwettstreit auf dem Ballermann

Die evangelikale Nachrichtenagentur Idea gab in einer Meldung vom 3. Juli 2010 die Klage eines kirchlichen Veranstalters wieder, dass „die größte Gruppe der Musikliebhaber, die Freunde der Volksmusik“ von der Kirche zu Unrecht vernachlässigt werde. „Die starke Fixierung der Kirche auf den Geschmack des Bildungsbürgertums und der Jugendkultur schadet ihrem umfassenden missionarischen Auftrag“ meinte deshalb Martin Scheuermann und fügte hinzu: „Viele Volkslieder befassten sich mit menschlichen Sehnsüchten, die sich gut als Aufhänger für geistliche Impulse eigneten. Häufig wiederkehrende Themen seien Heimat, Liebe, Gemeinschaft, Natur, Wanderschaft und Tod … Wer etwas für den christlichen Grundwasserspiegel in Deutschland tun will, darf die Volksmusik nicht hochnäsig behandeln“, lautet sein Fazit.

Da lassen wir uns nicht lumpen und schauen einmal, was die Volksmusik zum Thema Sünde beizutragen hat. Spontan fällt einem aus der älteren Karnevalsmusik Willy Millowitschs Gassenhauer „Wir sind alle kleine Sünderlein, s’war immer so, der Herrgott wird es uns bestimmt verzeihn.“ Ja, aber sicher doch, hier artikuliert sich der unverdorbene christliche Grundwasserspiegel in Deutschland. Man könnte bei den Klassikern auch zur Not auf Jupp Schmitz „Wir kommen alle in den Himmel – weil wir so brav sind“ aus dem Jahr 1952 zurückgreifen. Auch das will recht verstanden als gute evangelikale Botschaft wahrgenommen werden.

Wenn wir es aktueller angehen wollen, dann müssen wir uns dem Sängerwettstreit des Jahres 2005 über die rechte Sündenauslegung auf dem Ballermann zuwenden. Seinerzeit entspann sich ein über Lieder ausgetragener Streit zwischen Dj Ötzi & Marc Pircher einerseits und Antonia aus Tirol andererseits darüber, was denn als Sünde überhaupt zu verstehen sei.

Video 7: DJ Ötzi: Sieben Sünden (04:01)

Sünden, so vertreten es DJ Ötzi & Marc Pircher höchst ironisch postmodern sind eigentlich Werte, die uns der Himmel schenkt. Als Sünden werden aufgezählt: das Begehren zum Küssen, das Berühren der Lippen, mehr als nur Tanzen zu wollen, sich tief in die Augen zu schauen, einem die Sinne zu rauben, einem anderen eine  Gänsehaut zu verpassen und vor allem, jemanden mit nach Hause zu nehmen. Und dort – zu Hause – gibt es dann eine zweite Sündenserie: Champagner, Verwirrung, rote Rosen, zärtliche Berührungen, Ortsverlagerung ins Schlafzimmer, Einflüsterungen und daraus folgend: Orientierungslosigkeit. Wow, selten so konzentriert die christliche Sündenlehre gehört. Ergänzt wird das dann von anderen volksmusikalischen Ergüssen wie „Der Teufel und der junge Mann“ oder „Deine Schwester ist ein richtig geiles Luder“. Da wird einem sofort einsichtig: „Wer etwas für den christlichen Grundwasserspiegel in Deutschland tun will, darf die Volksmusik nicht hochnäsig behandeln“. Der Ballermann scheint mir da aber noch ein weitgehend unerschlossenes Missionsgebiet zu sein. Soweit also Teil 1 der volksmusikalischen Sündenlehre auf dem Niveau von American Pie.

Das Interessante ist nun, dass die unerträgliche Abseitigkeit und Banalität dieses konkreten Ballermann-Ergusses selbst in diesem Milieu nicht unbemerkt geblieben ist. Flirten = Sünde? Aber nicht doch. Und so gab es einen „literarischen“ Wettstreit darüber, wer – das Niveau noch einmal unterbietend – in der Sündenauslegung Recht behält. Auftritt Antonia aus Tirol:

Video 8: Antonia: Das ist doch keine Sünde (03:53)

Vorgestellt wird sie im hier zu sehenden volksmusikalischen Fanvideo von Gott höchstpersönlich in der Erscheinungsform von Charlton Heston als Mose (sic!), der Antonia als Engel ankündigt, der nun darüber aufklärt, was keine Sünde ist. Eben all das, was DJ Ötzi & Marc Pircher gerade noch frohgemut als Sünde vorgestellt hatten: Nein, nein, das ist doch keine Sünde, weil Liebe keine Sünde ist! Ach, wenn die theologische Welt so einfach wäre. Aber auch hier zeigt sich natürlich, wie gut sich Volkslieder „als Aufhänger für geistliche Impulse eignen“. Da bekommt „Aufhänger“ gleich einen ganz neuen Sinn. Aber das wäre wieder eine Sünde.

Die sieben Sünden

Nun gibt es aber im populärkulturellen Bereich tatsächlich Elemente, die sich ganz ernsthaft und auf substantieller Basis mit dem Thema Sünde respektive Todsünden beschäftigen. Ein faszinierendes Beispiel dafür ist der deutsche Rapper Prinz Pi. Ich zitiere einmal aus der Beschreibung der Wikipedia: „Seine Texte behandeln vornehmlich sozialkritische Themen, Verschwörungstheorien und gesellschaftliche Trends. Ein weiteres Thema ist das Leben im Jetset. Er selbst bezeichnet sich als ‚bester deutscher Themen-Rapper’. Vom Großteil der Rap-Szene setzt er sich vor allem durch seine vielfältige Themenauswahl ab. In seinen oft ironischen Texten benutzt er Doppel- und auch Dreifachreime.“ Auf der Deluxe-Version seines Albums Neopunk aus dem Jahr 2008 erscheint auch das Stück „Sieben Sünden“. Und das ist tatsächlich ein sprachlich ausgefeilter aktueller Beitrag zur Thematik.

Und wie es das Glück so will, gibt es auf Youtube und Myspace dazu eine Comic-Version, die von T-Kay gezeichnet wurde und den Text kongenial visuell umsetzt. Der junge Künstler T-Kay erstellt zu verschiedenen HipHop-Stücken Comic-Videos, die das aufgreifen und zuspitzen, wovon der Text erzählt. Aber er montiert auch anderes Material (wie Fotos oder Zitate von Bildvorlagen) in die Clips und versteht es, daraus ein packendes Video zu machen.

Beides zusammen gibt jedenfalls einen interessanten Beitrag zum medialen Umgang mit dem Thema Sünde:

Video 9: Prinz Pi feat. Basstard – 7 Sünden

Neben den Bildern ist es vor allem der die Aktualität der „Todsünden“ abklopfende Text der überzeugt. So heißt es zur Sünde mit dem Namen Gula: Dies ist zuunterst, / Die Sünde des Unmaß, / welche Blüten die Maßlosigkeit treibt, / hat schon so manchen verwundert / Das große fressen, / fett triefende stücken von Fleisch, / nicht bloß ein essen, / ein Fest, Orgie schlingende Münder, / unverdaute Klumpen im Dünndarm, / klebrige Finger reißen aus eklig schimmernden Leichen von Tieren, / sich teile heraus / kein hunger, nur glasige Augen, / mahlende Kiefer, versagender Kreislauf / so, essen die Sünder, / maßlose Münder, schlingen die Stücke hinab, / ewig bleibt die Gefräßigkeit eine schlingernde brücke ins grab. Und so geht es Sünde für Sünde weiter.

Epilog: Schuld und keine Sühne

Nicht im Ansatz das Niveau von Prinz Pi erreichen die Fantastischen Vier mit ihrem Lied „Gebt uns ruhig die Schuld“. Dazu ist die Gruppe inzwischen zu sehr Mainstream und Oberfläche geworden. Dennoch soll ihr Beitrag nicht außen vor bleiben, denn er ist in einem doppelten Sinne interessant.

Zum einen lässt er sich kontrovers-theologisch gegen den Strich lesen: Was ist den eigentlich der Rest, wenn jemand singt Gebt uns ruhig die Schuld, den Rest könnt ihr behalten? Genau dieser Rest / Nicht-Rest ist zwischen den großen christlichen Konfessionen seit Jahrhunderten und bis in die Gegenwart umstritten. Gut protestantisch bleibt kein Rest, gut katholisch aber doch.

Das Zweite, was das Stück interessant macht, ist der Kontrast von visueller Schuldkultur der 50er- und 60er-Jahre (Pop, Sex, Nackheit etc.) und verbaler Schuldkultur der 90er-Jahre (deine mutter vater bruder tante onkel und schwester / ich und all meine verwandten alles umweltverpester / denn im norden süden osten und im westen von gestern / tun sich alle zusammen und ballern rum an silvester) der den unter der Regie von Zoran Bihać gedrehten Videoclip auszeichnet:

Video 10: Die Fantastischen Vier – Gebt uns ruhig die Schuld (4:20)

Die Conclusio: Gebt uns ruhig die schuld für alles mögliche - vielleicht macht es euch glücklicher klingt dann aber doch etwas zu harmlos und trivial, quasi sündenästhetisches Feng Shui. Das ist von allem etwas und vor allem nichts Substantielles.

Und das gilt auch für das bemühte Cover von Single und Album, die jeweils noch einmal scheinbar anspielungsreich von Hieronymus Bosch bis zum Dollarsymbol alles verwursten, was vor die Grafikfeder kommt, aber noch so viele Anspielungen ergeben kein gutes Bild. Und das ist nun wirklich ihre Schuld.

Anmerkungen

[1]    Etwas überarbeiteter und ergänzter Vortrag am Eröffnungsabend der Summerschool „Media and Religion“ 2010 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar zum Thema „Die sieben Todsünden“

[2]    Hofmann, Werner (Hg.) (1983): Luther und die Folgen für die Kunst. Hamburger Kunsthalle, München: Prestel.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/66/am323.htm
© Andreas Mertin, 2010