Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden

Kunst, Religion und Presse

Andreas Mertin

Im Juli 2010 endete in Moskau ein Prozess, den es im Europa des 21. Jahrhunderts gar nicht mehr hätte geben dürfen. Angeklagt waren die Kuratoren einer Ausstellung gegen Zensur, weil sie mit ihrer Ausstellung „religiöse Gefühle“ verletzt hätten. Ziel der Anklage war es, die Zensur wieder in Geltung zu setzen. Initiiert wurde der Prozess von den Nachfolgern einer neofaschistischen Partei Russlands, die im sich abzeichnenden Rollback der russischen Kultur die Gelegenheit sahen, nun auch auf offiziellem Wege mit unbequemer Kunst abzurechnen. Während die Vorgängerausstellung einfach gestürmt und zerstört wurde (ohne dass die Täter bestraft worden wären), glaubte man nun die russische Gesellschaft so im Griff zu haben, dass man mittels der staatlichen Behörden gegen das Unerwünschte vorgehen könnte. Und tatsächlich wurde dieser Prozess geführt und er wurde nach rechtsstaatlichen Normen geführt, die allen juristischen Erwägungen Hohn sprechen. Die Mehrzahl der Zeugen hatte die Ausstellung gar nicht gesehen, sondern nur von ihr gehört oder sich anhand von Abbildungen „sachkundig“ gemacht. Grundsätzliche Überlegungen dazu, was Aufgabe und Sinn von Kunst ist, spielten keine Rolle. Das orthodoxe Patriarchat hielt sich zwar etwas zurück, wünschte – wie es expressiv verbis erkennen ließ – zwar keine Haftstrafe, sondern ein Berufsverbot für die Kuratoren. Der Chef des Pressedienstes des Moskauer Patriarchats, der Oberpriester Wladimir Wigiljanski, sagte laut der „Stimme Russlands“:„Einer Kunst gegenüber, die in Wirklichkeit für den Autor nur eine Möglichkeit ist, durch die Beleidigung des Glaubens anderer auf sich aufmerksam zu machen, verhalte ich mich zweifellos negativ. Aber die russischen Gesetze verhalten sich dazu ebenfalls negativ. Meine prinzipielle  Position ist Folgende: Wenn ein Mensch gegenüber einem anderen keine Gewalt gebraucht hat, darf man ihn nicht durch eine  Begrenzung seiner Freiheit bestrafen,  da sind andere Methoden erforderlich. Ich denke, das sollte entweder eine Strafe oder ein Berufsverbot sein.“ Die Stimme Russlands nennt das „eine humane Position“.

Nun wird man der russischen Orthodoxie grundsätzlich kein gutes Verhältnis zur Kunst der Moderne nachsagen können und zu religionskritischen Werken hat sie ein durch und durch gestörtes Verhältnis. Das verwundert angesichts der orthodoxen Haltung zum Bild seit 843 nicht.

Interessanter ist es da schon, wie in der westlichen Hemisphäre mit diesem Prozess umgegangen wird. Es ist ja gerade einmal 100 Jahre her, dass auch die westlichen christlichen Kirchen Künstler wegen ihrer religionskritischen Werke mit Prozessen verfolgt haben. Und noch heute führt jeder gekreuzigte Frosch zu erregten Debatten in der Öffentlichkeit. Man könnte also einmal schauen, wie die christlichen Kirchen zeigen, dass sie etwas gelernt haben aus ihrer eigenen Geschichte der Kulturzensur.

Es ist das Schöne an der von den Verlegern so stark kritisierten News-Aggregationsmaschine von Google, dass sie es einem ermöglicht, auf einen Blick die unterschiedlichen Wahrnehmungen eines gesellschaftlichen Phänomens in den Medien bzw. in der Presse zu erkennen (ohne dass man den versammelten Überschriften gleich einen urheberrechtlich relevanten Originalitätscharakter zusprechen müsste). Am 11. Juli 2010 gegen Mittag, also einen Tag vor Ende des Prozesses, sieht die Nachrichtenübersicht bei Google-News relativ übersichtlich so aus:

Sechs Meldungen werden angezeigt. Die neueste Meldung des Humanistischen Pressedienstes wiederholt erkennbar die Überschrift des Artikels der NZZ und ist tatsächlich auch nur ein zitierender Verweis auf diesen. Auf die zweite und dritte werden wir noch eingehen. Die Berliner Morgenpost übernimmt eine Meldung des evangelischen Pressedienstes (epd). Die Stimme Russlands ist ein Konglomerat von verurteilenden und verteidigenden Sätzen, die aber die journalistischen Standards mehrfach durch stark wertende Urteile unterläuft („Viele Künstler sind in ihren Werken frevelhaft mit den christlichen Symbolen umgegangen.“) Die linke Wochenzeitung „Jungle World“ nutzt die Meldung für eine gesellschaftsdiagnostische Sicht auf das heutige Russland.

Ich möchte nun im Folgenden die Aufmacher der beiden Beiträge der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) und der Plattform www.evangelisch.de miteinander vergleichen. Noch auf der Ebene der News-Aggregation von Google fallen Unterschiede auf: Die Schlagzeile der NZZ lautet „Moderne Kunst vor Gericht“, während das evangelische Portal schreibt „Moskauer Kuratoren droht Straflager wegen anti-religiöser Hetze“. Beide Überschriften sind problematisch. Die NZZ unterstellt, hier stünde die Kunst selbst vor Gericht, was nur indirekt stimmt. Tatsächlich stehen Kuratoren wegen ihres Ausstellungsprogramms und seiner Intention vor Gericht. Das ist ein kleiner, aber gewichtiger Unterschied, der freilich von der Mehrzahl der Presseorgane vernachlässigt wird. Das evangelische Portal macht dagegen das Zitat der Anklage „antireligiöse Hetze“ nicht als solches kenntlich und gibt ihm damit einen de-facto-Charakter; so als ob die Kuratoren wirklich „anti-religiöse Hetze“ betrieben hätten. Wie es korrekt aussehen müsste, zeigt die NZZ im Untertitel: „Zwei russischen Ausstellungsmachern droht wegen «Schürens von Hass» eine Gefängnisstrafe“. Das Zitat ist die einzig vertretbare Form der Darstellung. Nun kann man sich fragen, ob evangelisch.de diese Form der Darstellung nur unterlaufen ist oder ob es Indizien gibt, die dafür sprechen, dass hier tatsächlich eine ambivalente Haltung gegenüber der Kunst eingenommen wird. Ich glaube dass letzteres der Fall ist.

Die NZZ jedenfalls belegt ihren Artikel mit der Ausstellungsansicht eines der inkriminierten Werke, nämlich einen der beiden Leuchtkästen von Alexander Kosolapov aus dem Jahr 2002 mit dem McDonalds Signet, dem Christusporträt und den Schriftzug „This is my body“. Genau wegen der Ausstellung derartiger Werke sind die Kuratoren angeklagt. Das ist übrigens insofern lustig, weil ich sie in meiner Besprechung der Ausstellung „Medium Religion“ als viel zu harmlos für eine Religionskritik eingestuft hatte. Das ZKM schrieb seinerzeit zu den Werken: „Beide Werke sind ein ironischer Kommentar zur Konsumkultur, in der Produkte zum Fetisch werden und die Werbung zur Bibel. Kosolapov verknüpft christliche Elemente mit der Bildsprache kommerzieller Werbung und macht dadurch auf Parallelen von Religionsvermittlung und Werbestrategien aufmerksam.“ Das heißt, hier werden die Bilder als kritischer Kommentar zur Konsumkultur begriffen, während sie in der Orthodoxie als Angriff auf den Glauben verstanden werden. Dass die Lesart des ZKM die zutreffende ist, kann man erkennen, wenn man sich andere Werke von Kosolapov anschaut. Die NZZ übernimmt die Inszenierungsform der Kuratoren, die das Werk hinter einer weißen Wand mit Gucklöchern gezeigt hatten.

Und evangelisch.de? Die Plattform zeigt als visuellen Aufmacher ein Detail eines Kunstwerks, das scheinbar zwei sich küssende russische Polizisten in einem Birkenwald zeigt, in Wirklichkeit aber eine ironisierende Inszenierung aus dem Jahr 2005 der russischen Künstlergruppe Sinije Nosy (Blaue Nasen) mit dem Titel „An Epoch of Clemency / Eine Epoche der Milde“ ist. Der Bildtitel scheint mir zum Verstehen des Bildes wichtig zu sein. Das alles erfährt der Betrachter aber nicht, er sieht nicht einmal das korrekte Format der Arbeit. Wegen der Aufmachung von evangelisch.de wird aus dem beinahe quadratischen Bildformat einfach ein Querformat gemacht und das Bild oben und unten stark beschnitten. Als Copyright wird dpa/Peer Grimm angegeben, obwohl die Urheber leicht recherchierbar sind.

Nun sprach die Überschrift ja von „anti-religiöser Hetze“. Darum geht es bei diesem Bild von Sinije Nosy nun auf gar keinen Fall. Warum wurde es dann ausgewählt? Und warum wurde nicht eines jener Kunstwerke ausgewählt, die tatsächlich mit Religion zu tun haben? Ich weiß es natürlich nicht, aber ich habe so meine Vermutungen. Zum einen hätte man vermutlich gewärtig sein müssen, dass einige evangelikale Christen angesichts eines Christus als Mickey-Mouse-Figur oder einer Christus-Ikone, die mit Kaviar gefüllt ist, gesagt hätten, dass die Kuratoren zu Recht vor Gericht stehen. Das Risiko wollte man eventuell vermeiden.

Vielleicht wollte man aber auch ein wirklich „provokantes“ Werk zeigen, und das ist für eine Plattform wie evangelisch.de offensichtlich immer noch die offen dargestellte Homosexualität. Unter das Kunstwerk setzt evangelisch.de jedenfalls folgende Erläuterung: „Das Bild der küssenden Polizisten gehört zu den provozierenden Werken, die Andrej Jerofejew gesammelt und in der Ausstellung "Verbotene Kunst" im Moskauer Sacharow-Museum 2007 gezeigt hatte.“ Gehört es zu den provozierenden, zu den als provozierend bezeichneten oder zu den Aufsehen erregenden Werken? Ich fürchte, evangelisch.de meint, was es schreibt, es hält das Werk tatsächlich für provozierend. Und ich hoffe, ich irre mich. Während aber die NZZ die Differenz von unangemessener Reaktion und aufgeklärter Kunstwahrnehmung durch den Gebrauch von Anführungsstrichen kenntlich macht, tut evangelisch.de dies gerade nicht.

Auch in der Beschreibung wird nicht deutlich, ob evangelisch.de bzw. der Autor die fundamentale Differenz von kultureller Freiheit im Gefolge europäischer Aufklärung und den unangemessenen Reaktionen auf missliebige Kunstwerke wirklich verstanden hat, wenn zu lesen ist: „23 Exponate hinter einer Wand mit kleinen Gucklöchern erregten schnell die Öffentlichkeit. Kein Wunder, denn die Künstler hatten dort christliche Motive in sehr provokanter Form verarbeitet. Bilder von Jesus, der auf einem Werbeplakat "Coca Cola - Das ist mein Blut" deklamierte oder als Micky Maus in einer Fotocollage auftrat, spalteten die Meinung des Publikums.“

Was mich an diesen Sätzen irritiert, ist das eingeschobene „kein Wunder“. So etwas schreibt, wer die Reaktion der angeblichen Öffentlichkeit für nachvollziehbar hält. Und dass tatsächlich jemand meint, die Darstellung eines kitschigen Vollbart-Jesus auf einem Werbeplakat mit der Aufschrift „Das ist mein Blut“ sei eine „sehr provokante Form“ der Verarbeitung christlicher Motive. Abgesehen davon, dass der Künstler ja meint, wir gingen mit Konsumartikeln wie Coca Cola oder einer Restaurantkette wie McDonalds geradezu kultisch um – die Stoßrichtung also eine ganz andere ist -, wäre die Verwendung des stereotyp jugendlichen Jesusbildes mit Vollbart und das fragmentarische Zitat der Abendmahlsformel nun gerade keine sehr provokante Form der künstlerischen Darstellung. Eher schon ist ein derartiges Jesusbild selbst eine religiöse, sicher aber keine künstlerisch gelungene „Provokation“. Dass man heute in Westeuropa bereit ist, dieses miese Klischee als Bild von Jesus zu akzeptieren, spricht schon Bände und ist wahrhaftig provozierend. Dass man meint, die ironische Verwendung eines Klischeebildes des barmherzigen Jesus sei eine „sehr provokante Form“ künstlerischer Arbeit ist schrecklich. Die Decke der Zivilisation ist dünn.

Und weil wir alle wissen, dass sie das ist, geht es darum, die Freiheit zu verteidigen. Wenn irgend etwas von dem ganzen Gerede von der „Kirche der Freiheit“ stimmen soll, dann muss die Kirche der Freiheit als erste bei der orthodoxen Kirche gegen diese Verfolgung künstlerischer Positionen Einspruch erheben. „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden, sich zu äußern“ schrieb Rosa Luxemburg 1918 in ihrer Auseinandersetzung mit den Bolschewiki und dieser Satz stünde einer Plattform der Kirche der Freiheit im Protest gegen das Verhalten der russischen Orthodoxie gut an.

Auf der Startseite von evangelisch.de ist der Teaser übrigens ein wenig anders formuliert. Dort heißt die Überschrift bei gleicher Bildauswahl: Moskauer Kuratoren droht Straflager wegen Jesusbildern. Dann folgt das Kunstwerk von Sinije Nosy und darunter steht: Kunstprovokation – Wegen einer Ausstellung mit Bildern, die die orthodoxe Kirche provozierten, sollen zwei Moskauer Kunst-Kuratoren nun zu drei Jahren Straflager verurteilt werden.

Das ist alles mehr als irreführend. Nimmt man die Überschrift ernst, müsste das Soldatenfoto ein Jesusbild sein. Wir hätten es dann mit der persiflierenden Darstellung des Geschehens im Garten Gethsemane zu tun, genauer mit der Darstellung des Judaskusses, bei der Jesus und Judas dann den sie umgebenden Soldaten angeglichen wurden. Bei Guido da Siena und Giotto (s. Abb.) gibt es Darstellungen, die eine derartige Lesart begünstigen könnten. Dort steht der Kuss im Zentrum des Geschehens, während die Lanzen der römischen Soldaten zum Birkenwald werden. Aber ganz sicher handelt es sich bei der Kunstinszenierung von Sinije Nosy nicht um die Darstellung dieser biblischen Situation und damit auch nicht um ein Jesusbild. Warum wird es dann aber von evangelisch.de gleich zwei mal eingesetzt?

Andrei Jerofejew und Juri Samodurow wurden am 12. Juli 2010 vom russischen Gericht für schuldig befunden mit ihrer Ausstellungskonzeption zu „religiösem Hass aufgewiegelt“ zu haben. Das Strafmass war allerdings milder, als von der Staatsanwaltschaft gefordert. 3800 und 5000 Euro lautete die Geldstrafe füer die beiden Angeklagten.

Trotzdem ist damit eine Grenze überschritten. Der von Amnesty International kritisierte Prozess gegen Jerofejew und Samodurow gilt als besorgniserregend im Blick auf die künftige kulturelle Entwicklung Russlands. Auf die Frage des SPIEGEL, welchen Rückhalt es für diese reaktionäre Position in der Bevölkerung gibt, antwortete der Bruder des Angeklagten: „Mehr als uns lieb sein kann. Sie träumen von einem Russland ohne Demokraten, Liberale und Juden. Sie stützen sich auf Arme und Ungebildete, aber nicht nur. Es ist traurig und skandalös, dass ein Teil der orthodoxen Kirche mit ihnen sympathisiert und ihre Forderungen im Prozess gegen meinen Bruder unterstützt. Da entsteht ein nationaler Faschismus.“

Gerade deshalb ist es wichtig, dass überhaupt kein Verdacht entsteht, die Kirche stünde nicht an der Seite der Kuratoren und Künstler. Nach dem Urteil endet die Pressemeldung mit den Worten: „Menschenrechtler, Künstler und Museumsleute protestierten gegen eine Verurteilung der Ausstellungsmacher und gegen Kunstzensur in Russland und bezeichneten die Vorwürfe als absurd.“ Warum fehlen in dieser Aufzählung die Theologen? Weil sie nicht protestiert haben …

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/66/am324.htm
© Andreas Mertin, 2010