Gnadenlos populär

Ist die Massenkultur die Lebensform der Gegenwart?*

Andreas Mertin

Ich lese seit einiger Zeit in meinen freien Stunden die gerade erschienene Dokumentation der Notizen des Schweizer Schriftstellers und Theologen Kurt Marti aus den Jahren 1964 bis 2007. Es ist ein dickes Buch, 1400 Seiten stark, aber es liest sich angenehm, weil es kurzweilig und erkenntnisreich ist. Kurt Marti war und ist vielleicht immer noch einer der in evangelischen Predigten am häufigsten zitierten Autoren des 20. Jahrhunderts, neben Bertold Brecht und Max Frisch gehörte er sozusagen zur Populärkultur der Predigtkunst. Sein Gedichtband „Leichenreden“ dürfte in fast jeder Pfarrbibliothek stehen und ich weiß nicht, die wie vielte Auflage er inzwischen erfahren hat. Kurt Martis Werk ist anspruchsvolle Literatur und zugleich populäre Kultur innerhalb des angezielten Publikums. Selbst das schwergewichtige Werk, das ich gerade lese, hat es innerhalb von nur 3 Monaten schon zur zweiten Auflage geschafft und das wird sicherlich nicht die letzte gewesen sein.

Warum ich angesichts des Themas „Leben mit der Massenkultur“ über Kurt Marti rede? Nun, vieles von dem, was Marti zwischen 1964 und 2007 in seiner Kolumne „Notizen und Details“ geschrieben hat, ist immer noch aktuell. Und manchmal erschrickt man, wenn man sieht, dass die Kritik an der Massenkultur, die man gerade zu Papier zu bringen beabsichtigt, vor knapp 30 Jahren mit ähnlichen Worten auch schon vorgetragen wurde. Vielleicht gehört die Kritik der Massenkultur zur Standardklage der Intellektuellen seit biblischen Zeiten. Oder mit den Worten Friedrich Schillers in seinem Gedicht mit dem Titel Jeremiade:

„Alles in Deutschland hat sich in Prosa und Versen verschlimmert,
Ach, und hinter uns liegt weit schon die goldene Zeit!“

Trotzdem lohnt es sich, dieser Klage einmal nachzugehen und sie zu bedenken. 1973 jedenfalls schreibt Kurt Marti unter dem Titel Der TV-Anfänger:

„Seit ein paar Monaten hole ich Versäumtes nach. Ich habe mir einen Fernsehapparat gekauft und mich in einen eifrigen Fernsehkonsumenten verwandelt. Statt abends zu arbeiten oder auszugehen, sehe ich fern. Mein Tages- bzw. Abendablauf hat sich verwandelt und richtet sich nach den TV-Sendezeiten. Das Abendessen musste vorverlegt werden, denn um 19 Uhr beginnt entweder «Gefahr unter Wasser», «Dick und Doof», «Drüben bei Lehmanns» oder «Schweinchen Dick». Die Ansagerinnen kenne ich jetzt (am Bildschirm versteht sich); ihr Lächeln erlabt mich, auch staune ich über die wechselnden Farben und Formen ihrer Bekleidung. Die Tagesschausprecher sind mir vertraut geworden. Sie haben's nicht immer leicht. Oft gibt es Pannen, doch dann wird's erst recht spannend. Den Fußballmatch im Cup der Landesmeister zwischen Ajax Amsterdam und Juventus Turin konnte ich dank Eurovision mitverfolgen, was mir die mühsamere Lektüre der Zeitungsreportagen ersparte. Ich komme in den Genuss von Mäni Webers «War gwünnt?» ebenso wie in denjenigen von «Aktenzeichen XY — ungelöst», das von Herrn Zimmermann mit der kenntnisreichen Sachlichkeit eines sendungsbewussten Pastors zelebriert wird. Dazu die Krimis: ich habe noch nie so viele Krimis gesehen wie in den letzten Monaten, vom «Kommissar» über «John Klings Abenteuer» bis zum historisch und kunsthistorisch drapierten «Geheimnis des Kupferbechers» - um nur einige zu nennen.

Kurzum: Ich bilde mich. Ich hole nach. Ich hole auf. Ich liebe Bildchen, besonders bewegte und bunte. Fernsehen ist unterhaltsamer als selber schreiben. Die Möglichkeit, dass mich das Fernsehen vom Schreiben abhält, erschreckt mich nicht. Manche wird sie sogar erfreuen.“

Soweit Kurt Marti. Offenkundig hat sich seit damals wenig geändert. „Dick und Doof“ und „Schweinchen Dick“ laufen zwar kaum noch, sind aber durch „Two and a half man“ und die “Simpsons“ ersetzt worden. „Drüben bei Lehmanns“ heißt heute „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ oder „Berlin, Berlin“ oder „Lindenstraße“. Aktenzeichen XY gibt es immer noch, nur lebt Eduard Zimmermann nicht mehr, seine Rolle hat der frühere Sportler Rudi Cerne übernommen. „Wer gwünnt?“ kenne ich nicht, stelle mir darunter aber etwas Ähnliches vor wie Günter Jauchs „Wer wird Millionär?“ (Und die Frage, mit der ein Teilnehmer am 18. Oktober 2002 erster Euro-Millionär wurde, würde Kurt Marti sicher gefallen. Sie lautete: „Welcher berühmte Schriftsteller erbaute als diplomierter Architekt ein Freibad in Zürich?“ Richtige Antwort: Max Frisch). Auch der Kommissar ist nur noch eine historische Reminiszenz, dafür dringen wir zeitgemäß mit CSI unter die Oberfläche des Verbrechens. Und in der Regel siegt immer noch das Gute. Wenig Neues unter der Sonne bzw. in der Massenkultur.

Schon vor 35 Jahren hätte man also über die Massenkultur als Lebensform der Gegenwart sprechen können. Jedenfalls war Kurt Marti, als er diesen Kolumnentext schrieb, 52 Jahre alt und ich schließe daraus, dass er ziemlich spät mit dem Fernsehen und der Massenkultur angefangen hat und nicht zuletzt deshalb ein offenkundig gebrochenes Verhältnis zu ihr hat. Seine Verteidigung des Fernsehens als quasi eirenische Institution, als Einrichtung zur Befriedung der Massen ist natürlich überaus ironisch gemeint und formuliert noch einmal die Kritik der Kulturindustrie aus der Mitte des 20. Jahrhunderts auf spezifische Weise um. Zugleich enthält es aber auch ein Stück Wahrheit: Wer sich Abend für Abend vor den Fernseher rufen lässt – heute müsste man wohl eher an den Computer und ans Internet denken –, der hat wenig Zeit zum Schreiben und für sonstige kulturelle Aktivitäten, aber auch wenig Zeit für Mord und Totschlag oder für das Führen von Kriegen oder das Anzetteln von Aufständen.

Ist Massenkultur daher eine friedliche Kultur? Nun das ganz sicher nicht. Das 20. Jahrhundert ist ein klares Beispiel dafür, wie Massenkultur extrem unfriedliche Auswirkungen haben kann. Denn der Sinn der Massenkultur ist es ja, die Menschen so zu befrieden, dass andere ungestört ihre weit reichenden Entscheidungen treffen können. Panem et circenses – wie es der römische Dichter Juvenal formulierte oder Brot und Spiele – wie wir es heute nennen, ist die typische Struktur der Massenkultur zur Ablenkung vom Wesentlichen. Mit der Massenkultur wird nichts besser, so könnte man sagen, es wird nur anders. Und nur scheinbar hat sich die Massenkultur als Lebensform erst neuerdings in den Vordergrund gedrängt und gesamtgesellschaftlich durchgesetzt. Tatsächlich dürfte diese Entwicklung eng mit der technologischen Entwicklung verbunden sein, also mit dem Kino, dem Fernsehen und dann eben mit dem Internet.

Kritik der Eliten?

Aber vielleicht ist die Kritik an der Massenkultur auch nur die Kritik jener, deren Meinung früher etwas bedeutet hat und die heute nur noch eine Stimme unter vielen sind. Es gibt ja diesen Satz: Früher war das Fernsehen etwas von Gebildeten für Gebildete, dann war es etwas von Gebildeten für Dumme und jetzt ist es etwas von Dummen für Dumme. Ich glaube nicht, dass das zutrifft. Früher war es für die Gebildeten nur leichter, ihre Interessen in den Massenmedien durchzusetzen, während sie heute auf die Spartenprogramme verwiesen sind. Und deshalb beklagen sie sich bitter. Ein Beispiel dafür war schon der spanische Philosoph Ortega y Gasset, der 1929 das Buch „Der Aufstand der Massen“ geschrieben hat. Mit den neuen Massenbewegungen, so meinte er, werde Individualität liquidiert: „Anderssein ist unanständig. Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht 'wie alle' ist, wer nicht 'wie alle' denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden.“ In Wirklichkeit wird er nur an den Rand gedrängt. Und das tut weh.

Popularität?

Ich setze noch einmal neu an und frage mich: Was ist eigentlich Popularität? Sobald man aber beginnt, darüber nachzudenken, verschwimmen die Begriffe. Ich schlage also in einem populären Online-Lexikon nach und erfahre: Mit Popularität (vom lat. populus, „Volk“) bezeichnet man

  • die Beliebtheit einer Person, eines Films, Autos oder eines anderen Produkts in einer Gruppe von Menschen. Sie ist ein wesentliches Produkt der öffentlichen Meinung,
  • die Gemeinverständlichkeit der Darstellung eines komplexen, für ein Publikum eigentlich schwer verständlichen Gegenstands unter weitgehender Vermeidung fachlicher Termini und Argumentation.

Popularität ist also die Beliebtheit eines Phänomens bei einer Gruppe von Menschen. Aber ist das ein hinreichendes Kriterium? Denn ganz offensichtlich reicht nicht allein eine Menge an Menschen aus, die etwas gut finden, um es populär zu machen. Fußball ist unbestritten populär, Kirche dagegen ist nicht populär – und doch gehen Sonntag für Sonntag mehr Menschen in die Kirche als aufs Fußballfeld. Warum ist Fußball also populärer als Gottesdienstbesuch? Warum ist Fußball ein Stück der Massenkultur, Gottesdienst aber nicht (oder allenfalls auf Kirchentagen und Weltjugendtagen)? Ist es die Menge der an einem Ort versammelten Menschen? Das würde für die massenkulturellen und populärkulturellen Medienphänomene der Gegenwart kaum noch zutreffen, die allenfalls virtuell massenreich sind. Ist es der Enthusiasmus, mit dem ich einem Phänomen gegenübertrete? War das Christentum in seinen Frühzeiten oder zur Zeit der Erweckungsbewegungen also ein massenkulturelles Phänomen, ist es aber heute nicht mehr? Fragen wir weiter: Millionen von Menschen schauen regelmäßig Dieter Bohlens „Deutschland sucht den Superstar“. Ist er deshalb populär? Oder wird der Konsum seiner Sendung nicht gerade von einer mehr oder minder offensichtlichen Verachtung getragen?

Im Brockhaus gibt es einen Fachartikel zum Thema des Populären. Hartmut Möller schreibt dort am Beispiel der populären Musik:

„Das, was die Bezeichnung des ‚Populären’ umfasst, hat offensichtlich epochen- und stilübergreifende Dimensionen, entzieht sich der gängigen E-U-Dichotomie und weist auf den grundsätzlichen Ort von Musik als kultureller Praxis im Beziehungsgefüge von Individuum und Gesellschaft hin. Was beispielsweise für Musikhörer des frühen 19. Jahrhunderts populär war, ist kaum populäre Musik für gegenwärtige Musikhörer; Góreckis ‚Sinfonie der Klagelieder’ (1976) gelangte Anfang der Neunzigerjahre in die Hitparaden genauso wie kurz darauf Disco-Versionen gregorianischer Gesänge wie etwa Produktionen von ‚Enigma’. Für die Freunde zeitgenössischer elektronischer Musik war Stockhausens ‚Gesang der Jünglinge’ ein Hit, andere bevorzugten Pink Floyds elektronikumhüllte Auftritte in den Ruinen von Pompeji. In einer exemplarischen Befragung 1995 wurde ein Tango der Zwanzigerjahre als um einiges ‚populärer’ als Mozarts ’Kleine Nachtmusik’, diese wiederum ‚populärer’ als Musik von Frank Zappa bewertet.“ (Hartmut Möller im Brockhaus 2002)

Das entspricht unseren Lebenserfahrungen. Popularität ist deutlichen Wandlungen unterworfen und kann auch Phänomene erfassen, die ursprünglich zur elitären Kultur gehörten. Die Vier-Jahres-Zeiten von Vivaldi sind ein massenkultureller Gassenhauer, keine Chance ihnen im Aufzug des Kaufhauses oder im Cafe zu entgehen. Die Bildkonstruktionen des Holländers Piet Mondrian sind dank einer Kosmetikfirma heute universell geworden und vermögen niemanden mehr zu kritischen Nachfragen zu bewegen. Im Gegenzug ist David Bowie sicher ein Teil der Populärkultur, seine an der Fluxus-Bewegung orientierten Videoclips dürften aber kaum dem Massengeschmack unserer Zeit entsprechen. Gnadenlos populär dagegen sind Michelangelo, Leonardo da Vinci, Caravaggio, Vincent van Gogh und Marc Chagall, Gregorianik und Johann Sebastian Bach, postmoderne Architektur und Rosamunde Pilcher. Was für eine Mischung!

Christentum und das Populäre

Gibt es ein genuines Verhältnis des Christentums zum Massengeschmack? Für Mitglieder der christlichen Kultur verbietet sich der verächtliche Blick aufs Populäre, denn die Orientierung am Populären ist dem Christentum in seine Gründungsakten eingeschrieben. Die Evangelien berichten davon, dass Jesus sich dem Volk zu- und sich explizit von den herrschenden Theologengruppen abwandte, dass er populäre Theologie betrieb und keine abstrakte Dogmatik. Und wenn die Evangelien uns davon berichten, dann tun sie dies in einer Sprache, die eben nicht an Homer, Platon oder Aristoteles anknüpft, sondern Volkssprache verkörpert: das so genannte Koine-Griechisch. Was das heißt, kann jeder Theologe am Anfang seines Studiums erfahren, wenn er nämlich Griechisch lernen muss und dann von Altphilologen gesagt bekommt, dass er ja statt des wahren Griechisch der antiken Autoren „nur“ Koine-Griechisch (also sozusagen Primitiv-Griechisch) brauche. Das tut im ersten Moment etwas weh, bis man dann begreift, dass die Artikulation in einer am Volk orientierten Sprache zur Programmatik des Christentums gehört und einen wesentlichen Kern seiner Lehre ausmacht: den Menschen entgegenzukommen.

Und das gilt auch für andere christliche Literatur, nicht nur für die Bibel. Die Legenda Aurea aus dem 13. Jahrhundert ist das vielleicht am meisten gelesene Buch des Mittelalters und orientiert sich – auch wenn es auf Latein geschrieben wurde – frömmigkeitsgeschichtlich am Volk. Es ist eine bis heute faszinierende Sammlung von ursprünglich 182 Traktaten zu Kirchenfesten und vor allem Heiligenlegenden. Ich zitiere wieder die Wikipedia:

„Den Legenden geht es einerseits um das Unterhalten, wie man an Beispielen von ungezügelter Fabulierkunst und Sensationshascherei sieht, die dem gewöhnlichen Unterhaltungsbedürfnis diente. Das gilt beispielsweise für die Texte, in denen Folterungen und andere Grausamkeiten in allen Einzelheiten beschrieben wurden.

Andererseits werden die Erzählungen in den Rahmen des Kirchenjahres und seine Feiertage eingebaut. Das verbindet die Toten mit den Lebenden innerhalb der Kirche. Die Heiligen werden als vorbildhaft dargestellt, sie haben das ewige Heil bereits in ihrer irdischen Existenz gesehen. … Die Darstellung des Übernatürlichen gibt der Überzeugung Ausdruck, dass der Mensch nicht Herr der Welt und seines Lebens ist, und dass die Welt und das Leben ihren Grund und ihre Grenze in einer Macht haben, die außerhalb dessen ist, was der Mensch berechnen und kontrollieren kann. Dazu gehört auch, dass die Legenden die Angst vor dem Teufel schüren, z. B. als Verführer in der Gestalt einer schönen Frau. Sie fordern die Unterwerfung unter die Institutionen christlicher Verkündigung; sie vertiefen das Schuld- und Sündenbewusstsein des Einzelnen; sie verteufeln die Leiblichkeit des Menschen und alle sozialen Beziehungen, die sich dem unmittelbaren Zugriff kirchlicher Machtträger entziehen; sie wecken das Bedürfnis nach religiös motivierter Askese, ja sogar Selbstzerstörung; sie vertiefen den Glauben an die Lösung menschlicher Probleme durch den Beistand der Heiligen; sie lassen die Versuche zu rationaler Problembewältigung als aussichtslos erscheinen und sie bauen Feindbilder auf, z. B. die Heiden, die Juden und die Reichen und Mächtigen.“

Mit anderen Worten: diese religiösen Legenden sind ein perfektes Stück früher Massenkultur und waren im mehrfachen Wortsinn gnadenlos populär.

Das gilt aber nicht nur für die Legenda Aurea, die einen guten Teil der Kunstgeschichte geprägt hat. Der Erfolg des Schriftstellers Dante Alighieri und seiner Göttlichen Komödie vom Anfang des 14. Jahrhunderts liegt nicht zuletzt darin begründet, dass er nicht mehr Lateinisch, sondern in der Sprache des Volkes schrieb. Sie gilt als bedeutendste Dichtung der italienischen Literatur und als eines der größten Werke der Weltliteratur. Aber sie war und ist eben auch Teil der Massenkultur. Heute lesen die Massen vielleicht nicht mehr die Göttliche Komödie, aber sie spielen sie vielleicht am Computer nach: Dante's Inferno ist ein populäres Computerspiel bei dem der Spieler die Kontrolle über Dante übernimmt, den er auf seiner Reise durch die Hölle begleitet. Das Spiel basiert auf dem ersten Buch von Dantes Göttlicher Komödie, dem Inferno. Es hält sich zwar nur in sehr groben Zügen an die Buchvorlage, aber Umgebung und Stimmung werden aufgegriffen (so taucht Vergil auf und gibt in Versform Informationen preis).

Und nicht zuletzt ist natürlich die deutsche Bibelübersetzung Martin Luthers ein Stück realer Massenkultur und das in doppelter Hinsicht: zum einen zielt sie in der Verbreitung auf das Volk als Adressaten, gab es bis dahin doch kaum Volksbibeln; zum anderen orientiert sie sich in der sprachlichen Genese am Volk. Die klaren, volkstümlichen Worte – man müsse "dem Volk aufs Maul schauen" hat er 1530 im "Sendbrief vom Dolmetschen" ausgeführt – und zugleich die Eindrücklichkeit der Übersetzung Luthers waren Weg weisend auch für die Herausbildung einer deutschen Schriftsprache. 

Und auch in der Zeit nach der Reformation bis ins 20. Jahrhundert lässt sich die christliche Orientierung an der Massenkultur beobachten. Selbst ein guter Teil unseres Liedgutes aus dem Gesangbuch entstammte ursprünglich der Massen- bzw. Volkskultur. Wir sehen, die Orientierung an der Massenkultur ist für das Christentum offensichtlich ein zeitenübergreifendes Phänomen.

Gleichzeitig ist dem Christentum – und hier nicht erst dem Protestantismus – aber auch die Abgrenzung von der Massenkultur tief eingeschrieben. Die Gefahr der Trivialisierung stand dabei auf der einen Seite, das Bemühen, den Intellektuellen und den Eliten zu gefallen auf der anderen Seite.

Die christliche Predigtkultur hat sich schnell von der Anrede an das Volk zur sprachlich ausgefeilten Kunstpredigt gewandelt. In einem Buch über die antike Kunstprosa heißt es: „Die Gebildeten gingen damals mit denselben Erwartungen in die Kirche wie in den Hörsaal des Sophisten: sie wollten sich einen Ohrenschmaus verschaffen, ein Stündchen angenehmer Unterhaltung, und viele Prediger waren ihnen darin allzu willfährig“. Und vermutlich steht auch meine Kanzelrede in genau dieser Linie und Sie als Mittagskirchenbesucher sind die jüngsten Nachfolger dieser Tradition ästhetischer Erwartungen an die Kanzelrede. Der Protestantismus war lange Zeit stolz darauf, dass ein guter Teil der deutschen Gelehrten und Literaten aus evangelischen Pfarrhäusern stammte. Wie viele Produzenten der Volkskultur hier ihren Ursprung hatten, war dagegen nicht so interessant. Und nur wenige wurden für ihre Pflege der Volkskultur gelobt, wie etwa der deutscher Dichter, Organist, Komponist und Journalist Christian Friedrich Daniel Schubart, der mit seinen Texten der Volkskultur ihre Stimme gab.

Volkskultur – Populärkultur – Massenkultur – das waren immer auch drohende Elemente der Verflachung der Botschaft, der Trivialisierung der Theologie und der Überführung des Glaubens ins magisches Denken. Nicht zuletzt deshalb suchte man eine gewisse Distanz einzuhalten. Als Vorwurf, man passe die Kirche und ihre Verkündigung dem Zeitgeist an, ist diese Angst immer noch präsent.

Ist die Massenkultur also die Lebensform der Gegenwart?

Ist die Massenkultur also die Lebensform der Gegenwart? Ja, wenn wir zugestehen, dass die Massenkultur die wirkliche Lebensform jeder Gegenwart ist und dass die Bibel, die Legenda Aurea, Dantes Göttliche Komödie und vieles anderes eben genau dies – Massenkultur – waren oder sind. Ja, wenn man ganz simpel zugesteht, dass Massenkultur nichts anderes bedeutet als die Kultur,die von der Mehrheit der Bevölkerung gepflegt wird.

Ist die Massenkultur also wirklich die Lebensform der Gegenwart? Nein, wenn wir daran denken, dass durch die Milieu-Orientierung unsere Gesellschaft immer mehr auseinander fällt. Die Masse selbst teilt sich heute in vielerlei Gruppierungen auf, so dass man allenfalls Trends benennen kann, aber keine wirklichen umfassenden Massenbewegungen mehr. Was den einen Heidi Klum, ist den anderen Dieter Bohlen, ist den dritten Stefan Raab und den vierten Harald Schmidt. Was den einen die Bachkonzerte, sind anderen die Donaueschinger Musiktage, ist den dritten der Eurovision Song Contest und den vierten die Volkstümliche Hitparade. Und anders noch als es sich vor 40 Jahren bei Kurt Marti darstellte, ist dies alles gleich gültig geworden (und droht damit zugleich, gleichgültig zu werden).

Wer einmal das Programmheft der Kulturhauptstadt Ruhrgebiet durchblättert hat, kann dieses Phänomen spüren. Zwar ist die Programmatik durchaus hochkulturell orientiert, aber trotzdem steht hier alles gleich gültig neben einander: die E-Musik neben der U-Musik, das Musical neben der Oper, die Kleinkunst neben den Jahrhundertwerken, das die Zeiten Überdauernde neben dem täglichen Trash. Das ist insofern gut und sinnvoll, als die trennende Gegenüberstellung von E und U nun aufgehoben wurde und man nicht mehr einfach die Massenkultur abwertet. Das ist dann riskant und problematisch, wenn die Aufwertung der Massenkultur mit einer Verdrängung der Hochkultur einher geht. Massenkultur aber ist in aller Regel verarbeitete und mit der Zeit angeeignete Hochkultur. Deshalb brauchen wir beides: die Populärkultur als Lebensform wie die Hochkultur als Reflexionsform.


Anmerkungen

* Dieser Text gibt meine Kanzelrede in der Mittagskirche der Melanchthongemeinde in Bochum am 6. Juni 2010 wieder.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/68/am332.htm
© Andreas Mertin, 2010