Vom Logos zum Mythos?

Eine Kurzrezension

Andreas Mertin

Dinter, Astrid; Söderblom, Kerstin (Hg.) (2009): Vom Logos zum Mythos. Herr der Ringe und Harry Potter als zentrale Grunderzählungen des 21. Jahrhunderts. Praktisch-theologische und religionsdidaktische Analysen. Münster: LIT (Ökumenische Religionspädagogik, 2).

Es ist bestimmt 12 Jahre her, dass mir ein guter Bekannter erzählte, seine Tochter sei bei der Lektüre des ersten Harry-Potter-Bandes beim intensiven Lesen die Treppe heruntergefallen. Damals wurde ich zum ersten Mal aufmerksam auf die unmittelbare Faszination, die diese Erzählungen für das jugendliche Publikum darstellten. Und bestimmt ist es mehr als 100 Jahre her, dass das einem Jugendlichen mit der Bibel in der Hand passiert ist.

Es gibt also eine Plausibilität, wenn denn die Religionspädagogik auf die Lebenswelten der Jugendlichen angewiesen ist, Massenphänomene wie „Harry Potter“ oder „Der Herr der Ringe“ genauer in den Blick zu nehmen. Das tut der vorliegende Sammelband mit vierzehn Beiträgen.

Der erste Teil des Buches bietet dabei die theoretischen Grundlagen mit Texten von Martina Kumlehn, Astrid Dinter, Peter Meyer, Silke Leonhard, Birte Platow, Johanna Rahner, Maike Schult und Kerstin Söderblohm. Der zweite Teil bietet religionsdidaktische Perspektiven mit Beiträgen von Daniel Schrick, Kerstin Söderblohm, Klaus-Dieter Köhler-Goigofski, Astrid Dinter und Martina Fürbach-Weber.

Sowohl Harry Potter als auch Der Herr der Ringe bergen dabei ein innerkirchliches Konfliktpotential, gibt es doch weiterhin (unbegreiflicherweise) Kreise innerhalb und am Rande der evangelischen Kirche, die diese Schriften verboten und ausgegliedert wissen wollen und deshalb von ihrer Thematisierung im Religionsunterricht gar nichts halten.

Da ist es gut, wenn Fachleute das Material sichten und Vorschläge für die Bearbeitung machen. Das leistet der Band sehr gut, sowohl was die theoretische Reflexion angeht, wie was die konkrete Umsetzung betrifft. Empfehlenswert ist das Buch daher sowohl für Kulturhermeneutiker als auch für den unterrichtenden Praktiker, der sich fragt, ob es Sinn macht, Kulturphänomene wie Harry Potter oder den Herrn der Ringe in der Schule zu thematisieren.

Nur an einer Stelle möchte ich dem Buch widersprechen. Die Wiederkehr der Religion ist selbst ein perennierender Mythos der bürgerlichen Gesellschaft. Als ich noch studierte, erschien ein Buch, herausgegeben von Willi Oelmüller, mit dem Titel „Wiederkehr der Religion?“ Das ist nun knapp 30 Jahre her, liegt also in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und wurde schon damals mit einem Fragezeichen versehen. Nicht, weil es die Wiederkehr der Religion nicht gäbe, sondern, weil sie nie weg war. Wer daher schreibt „Nach der Jahrtausendwende zeichnet sich deutlich eine Rückkehr der Religion ab“ übertreibt ein wenig. Und wer dann noch behauptet, die Großerzählungen „Herr der Ringe“ bzw. „Harry Potter“ spielten innerhalb der Transformationsprozesse von traditionell geprägten Religionsformen eine entscheidende (sic!) Rolle – der hat alle Maßstäbe verloren. Aber ich erinnere mich dunkel, dass Ähnliches schon vor 30 Jahren im Blick auf Raumschiff Enterprise und Star-Trek gesagt wurde. Man sollte die Propaganda der Massenkultur nicht so ernst nehmen. Als Großerzählungen bezeichnen wir – nebenbei bemerkt – die großen –Ismen, Ideologie und Religionen dieser Welt. Damit können die Werke von Tolkien und Rowling nun wahrlich nicht konkurrieren. Hier wäre etwas sprachliche Abrüstung angebracht. Die traditionelle Religion hat bisher immer noch den längeren Atem gehabt. Aber das spricht nicht dagegen, sich intensiv mit den temporären Neu-Mythologien auseinanderzusetzen und sie zu deuten und sich kritisch anzueignen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/69/am339.htm
© Andreas Mertin, 2011