Dante Alighieri als Theologe für heute

Ein Denkanstoß

Markus Göschel

1. Ad hoc

Nicht, dass vielleicht schon alles gesagt wäre, was zur denkerischen Entfaltung des christlichen Glaubens gehört – vielmehr lässt sich feststellen, dass es zumindest in der deutschsprachigen protestantischen systematischen Theologie seit W. Pannenberg[1] keine nennenswerten eigenständigen Entwürfe von vergleichbar breiter Rezeption gegeben hat[2]. Also besinnt man sich vorläufig auf alte Meister zurück[3]: mittlerweile weniger K. Barth, mehr P. Tillich[4], mehr F. Schleiermacher[5] und natürlich Luther[6]. Nichts dagegen einzuwenden, dem Sprechen geht ein gründliches Hören voraus; bedauerlich ist aber, dass man sich im evangelischen Bereich die Jahreszahl 1517 als Demarkationslinie setzt[7], und sich somit ein latentes bis offenkundiges Misstrauen oder gar Desinteresse gegenüber dem Mittelalter durchsetzt[8].    

Das Bild vom Mittelalter ist ständig im Wandel: von Luthers regelrechter Verachtung seiner Periode am Anfang von De Captivitate Babylonica[9] bis hin zur formal-strukturellen Nachahmung der Scholastik in der altprotestantischen Orthodoxie[10] – nur leider gewinnt man einen Eindruck unter Protestanten selten: dass das Mittelalter ernst genommen werden kann, als Quelle der Inspiration für die Nachgeborenen[11]. Schade, denn man könnte meinen, in Zeiten des Umbruchs wären viele Quellen es wert, (auf’s Neue) geprüft zu werden und eine gute Orientierung willkommen, war doch beispielsweise das letzte Jahr 2010 wahrlich kein leichtes:         

  • am Offenkundigsten vielleicht der nach knapp vier Amtsmonaten überraschende Rücktritt der hoffnungstragenden EKD-Ratsvorsitzenden Dr. M. Käßmann nach ihrem „schweren Fehler“[12] Ende Februar;
  • sodann hat man in der nicht erst seit letztem Sommer aufgetreten Frage nach dem Umgang mit Missbrauch in der Kirche[13] von einer regelrechten Krise gesprochen;
  • weiterhin die anstehende Fusion der Kirchen Nordelbiens, Mecklenburgs und Pommerns zur „Nordkirche“[14];
  • schließlich wird eine Restrukturierung der EKD[15]-Gliedkirchen aus finanziellen und Personalgründen[16] später oder früher kaum eine Überraschung darstellen.

Ein hartes Jahr, das einem Respekt vor so manchem engagierten Kirchenpolitiker abnötigt. In diesen und mehr Umständen und Situationen geht es – längst nicht nur, aber jedes Mal auch – um die Frage: wie kann evangelische Kirche zukunftsfähig sein? Hierbei handelt es sich in gewisser Weise um einen gordischen Knoten, der durch einen einfachen Streich nur zerstört, nicht aber gelöst werden kann. Eine Perspektive und ein theologisches Profil werden mühevoll erarbeitet und langfristig errungen werden müssen, um

  • Kirche heute zu sein,    
  • Kirche in der Welt zu sein,       
  • nicht nur für ihre Mitglieder, sondern auch Mitarbeiter menschlicher zu werden, und vor allem
  • ihre Substanz im Pluralismus zu bewahren.

Man könnte an dieser Stelle erheblich breiter und tiefer ansetzen, aber ich denke, das vorläufige Fazit bleibt: es braucht Ideen, gefragt ist nicht zuletzt eine in der Gegenwart vertretbare Theologie. Guter Rat ist dabei nicht teuer, denn an Positionen und Vorstellungen unterschiedlichster Provenienz mangelt es nicht[17]. Dennoch möchte ich in dieser Situation des Suchens und Ringens um eine gegenwartsfähige Theologie als Denkanstoß zumindest stichprobenartig die Erinnerung an einen Denker wachrufen, der dem Vernehmen nach wenigstens im Protestantismus kaum Beachtung findet; und es doch nicht nur um seiner kraftvollen und kreativen Vision dieser und der nächsten Welt wert ist, gedacht zu werden. Ohne auf die vielen und klugen Dinge einzugehen, die die heutige evangelische Dogmatik von Thomas von Aquin (1225-1274) und seiner Summa contra gentiles, Augustin von Hippo (354-430) und seinem De civitate Dei und, oft vernachlässigt, Origénes (ca. 185-254) und seinem Perì Archôn lernen könnten, möchte ich auf die bemerkenswerten Parallelen zu Dante Alighieri (1265-1321) hinweisen und ganz grob umreißen, warum er als dichtender Theologe gerade heute wieder Geltung beanspruchen und mit Gewinn studiert werden kann.

2. Dantes Theologie…

Über die vergangen sieben Jahrhunderte wurden dem Florentiner Gelehrten viele Ehrentitel zugesprochen, sein z.T. mysteriös anmutendes Werk hat längst nicht nur in die italienische Kultur Eingang gefunden und es ranken sich entsprechend viele Legenden um ihn. Dennoch existiert von dem schon zu Lebzeiten prominenten Politiker keine authentische Abbildung, auch die ersten biographischen Notizen[18] sind erst posthum entstanden.

2.1 Wer ist Dante Alighieri?

Der Volksmund schreibt ihm zu: „Für zwei Dinge lohnt es sich zu leben, für die Liebe und für die Politik“ Ob dieser Ausspruch authentisch ist, sei dahingestellt, aber er umreißt treffend zwei der drei Hauptthemenkreise in seinem Leben..

a) der Dichter und Poet – La vita Nuova          

Das erste, was Dante Alighieri ernstzunehmend literarisch hervorgebracht hat, waren Versuche, seinen inneren Konflikt äußerlich zu verarbeiten, genauer: seine unerwiderte Liebe zu der Floretinerin Beatrice (Portinari). Obgleich sie möglicherweise nie ein vertrautes Verhältnis hatten, in dem er die Gelegenheit zu einem Aug-in-Aug-Gespräch genutzt hätte, dominierte sie immer wieder regelrecht sein Denken[19] und er band scheinbar seine ganze Existenz an ihre. Diesen emotionalen Weg schildert er lyrisch, dabei die einzelnen Etappen selbst kommentierend, in La Vita Nuova[20]: von der Liebe auf den ersten Blick über das stets zaghafte, sich selbst verzehrende Sehnen bis hin zum Ahnen, dass er sie niemals erlangen wird (Beatrice war inzwischen eine verheiratete Frau) und ihrem frühen Tod. Eine tragische Geschichte für den jungen Dante, zweifelsohne, aber keineswegs einzigartig – das Besondere hier ist die Art und Weise, wie er dichterisch damit umging: so schrieb er hochkomprimierte, bildliche Sonette, aber nicht in der üblichen Literatursprache Latein, sondern er schrieb wie er sprach im toskanischen Dialekt. Doch nicht nur die volkssprachliche Dichtung[21] erregte bei der Veröffentlichung in seinem 30. Lebensjahr Aufmerksamkeit, es war vor allem der Stil, persönlich und einfach: den Leser ansprechend, direkt (als Anrede) und indirekt (auf eigene Erfahrungen und Erlebnisse rekurrierend). Und obwohl die Dichtung selbst über dem Boden der Tatsachen zu schweben scheint – mit bis ins Metaphysische gehenden Hochstilisierungen[22] –, wird so ihr Thema handgreiflich und verständlich. Diese innovative Eindringlichkeit war es, durch die Dante schon in vergleichsweise jungen Jahren in die Kreise der Italienischen Poeten aufgenommen wurde und den sog. Dolce Stil Nuovo zur Blüte trieb. Aber obschon er sich mit seinem Frühwerk u.a. ein bleibendes Andenken in der italienischen Literaturgeschichte schuf, erschöpfte sich seine geistige Kraft nicht in seinen (mit um die 50) vergleichsweise wenigen Dichtungen.    

b) der Politiker und Staatsmann – De Monarchia

Dante wandte sich, wahrscheinlich nach Beatrices Tod, dem Leben dem Aktion zu: er heiratete, zeugte Kinder, kämpfte in der Battaglia di Campaldino (1289). Die Fraktionen des damaligen Florenz bestanden, in gewisser Weise Früh- und Spätmittelalter spiegelnd, tendenziell zwischen Kaisertreue wie Dante (Guelphen, später Weiße Guelphen) und Papsttreue (Ghibellinen, später Schwarze Guelphen). Durch die Schlacht gewann die Fraktion der eher papstkritischen Guelphen die Oberhand, und Dante beschloss, sich als einer von ihnen in seiner Heimatstadt politisch zu engagieren und sich für ihre Unabhängigkeit einzusetzen. Über den Umweg einer Ausbildung zum Apotheker bzw. Buchhändler hatte er über die Jahre eine ganze Reihe von Ämtern inne, während die Stadt versuchte, sich von papaler Oberherrschaft freizumachen. Es kam zu diplomatischen Verwicklungen und die Lage war angespannt, sodass Dante als Florentiner Legat nach Rom reiste, um von Papst Bonifatius VIII. empfangen zu werden; währenddessen wurde 1301 Florenz angegriffen, erobert und eine neue, papsttreue Führungsschicht eingesetzt. Dante wurde (mit seinen Söhnen) verbannt, sein Vermögen konfisziert, bei einer Rückkehr ihm der Feuertod angedroht. Durch weiteren Verrat in den eigenen Reihen wurden auch seine Bestrebungen, sich über seine Exilierung hinwegzusetzen, zunichte gemacht. Etwa 10 Jahre später legte er in drei Bänden[23] mit De Monarchia[24] seine politische Theorie nieder, zusammengefasst: der Papst habe sich für das spiritueller Wohl der Menschheit einzusetzen, alles Weitere obliege dem Kaiser. Philosophisch, historisch, biblisch begründet setzt er sich skeptisch mit der Unam Sanctam-Bulle[25] auseinander; es wurde wahrscheinlich etwa beim Italienfeldzug des damaligen Kaisers Heinrich VII. veröffentlicht, der sich gegen den französischen König und den römischen Papst energisch für die Erneuerung des Kaisertums einsetzte, bis sein früher Tod die Bestrebungen scheitern ließ.

c) der Gelehrte und Theologe – La Commedia

Einerseits erfuhr Dante sein lebenslanges Exil als existentielle Entwurzelung; andererseits war auch klar, dass er nun nicht mehr für die politischen Alltäglichkeiten verantwortlich war und sich mit Zeit und Kraft anderen Aufgaben zuwenden konnte. Wir wissen aus dieser Epoche seines Lebens nicht viel, aber es scheint gesichert, dass er sich der Kontemplation und seiner später so umfassenden Bildung widmete: so reiste er (möglicherweise bis ins ferne Paris), schrieb (beispielsweise ein unfertiges Manuskript zur Empfehlung und Darstellung der Philosophie: Il Convivio) und las vor allem viel, er studierte die lateinischen Autoren der klassischen Antike, macht sich mit der griechischen Mythologie vertraut und nahm das umfassende Wissen der scholastischen Kosmologien und zeitgenössischen Theologen in sich auf. Dieses alles bildet den Nährboden, auf den er mit der Commedia[26] (vermutlich von 1308-21 kurz vor seinem Tod) aufbaute und ein epochales Gedicht der Weltliteratur schuf, in dem sich die Grenzen von Dichtung und Theologie auflösen[27], das langfristig italienische Literatursprache begründete  und die Jenseitsvorstellungen für Jahrhunderte veränderte.

Weil die Commedia das umfassendste und verhältnismäßig bekannteste Werk Dantes ist, in dem nicht nur ausdrücklich-thematisiert, sondern auch implizit-strukturell sein theologisches Profil zutage tritt, möchte ich mich im Folgenden ganz darauf konzentrieren[28].

2.2 Was sagt Dante?

In erster Linie ist die Commedia eine seelsorgerliche Begleitung des durch Sünde angefochtenen Lebens auf dem Weg zu Gott, daher der Titel „Commedia“[29] – weil sie ein gutes Ende nimmt: die Versöhnung des Willens mit Gott in der visio beatifica. Doch anfangs findet sich das lyrische Subjekt[30] in der Mitte des Lebens hoffnungslos in einem dunklen Wald verirrt wieder, nur die Hindurch-lebung des Todes und die Durchwanderung des Jenseits vermag ihm nach göttlichem Auftrag hieraus zu helfen. So erscheint ihm am Karfreitag[31] des Jahres 1300 der römische Dichter Vergil, um ihn zu retten und quer durch das Jenseits letztlich in den Himmel zu führen.

Dazu müssen sie in den ersten 33 (von insgesamt 100) Gesängen[32] die Hölle (it. Inferno) durchqueren, aufgebaut in neun konzentrischen Kreisen eines gigantischen Trichters[33] bis zum kältestmöglichen Erdmittelpunkt. Im Inferno befinden sich die Seelen der Sünder, die bis zum Tode ihre Sünde nicht erkennen[34] oder sie nicht bereuen wollten. Dabei wird jeder Sünder durch seine schwerste bewusst begangene Sünde zur ewigen Strafe in einem der Kreise verurteilt, je bösartiger und aktiver die Sünde ist, desto kleiner der Kreis und desto schlimmer die Strafe: Zuerst die Maßlosen (Wollust, Völlerei/Sucht, Gier, Jähzorn), dann in der Höllenstadt die Aggressiven (Häresie und Gewalt) und schließlich nahe des Erdkerns im eisigen See die Böswilligen (Täuschung und Verrat[35]).

Am Teufel vorbei durch den Erdkern gereist, erklimmen beide – nun auch für Dante mit dem Schmerz der Reue[36] verbunden – den in neun Terrassen gestuften und gewundenen Läuterungsberg (it. Purgatorio), der, als Zentrum der Erzählung, dem in Reue gestorbenen Sünder nun die Möglichkeit einräumt, sich durch Buße zu befreien und zur nächsten Terrasse weiterzugehen. Nach einer Menschenmasse der späten Büßer[37] oder Exkommunizierten beginnen die Reuigen ihre Buße nach der Motivation der schwersten begangen Sünde, in der Folge der sieben Kapitalsünden: Hochmut, Neid, Zorn, Akedía[38], Habgier, Völlerei, Wollust; nach einer endgültigen Feuerprobe wird der Erzähler auch der Erinnerungen an seine Sünden rein gewaschen und die Erinnerungen an seine guten Taten und Tugenden werden verstärkt.

Die letzten 33 Gesänge des Himmels (it. Paradiso) wurden bezeichnenderweise in Dantes letztem Lebensjahr 1321 vollendet und erst danach posthum veröffentlicht. Hierin schreitet er an zahlreichen Seligen vorbei über den Mond und die Planeten des Sonnensystems über die Fixsterne und das primum mobile[39] nach einigen Prüfungen bis in das coelum empireum[40], wo sich ihm die notwendige Gottmenschlichkeit Christi und die Trinität in einem Höhepunkt aus Licht erschließt – und die Erzählung endet.

Soweit die knappste Inhaltsangabe[41]. Obwohl es sich um nicht einmal 400 Druckseiten handelt, ist damit die nicht zuletzt kompositionelle Eigenleistung eines einzigen gewaltigen volkssprachlichen Entwurfs gegeben, der in den einzelnen Dialogen mit über 600 prominenten Persönlichkeiten des Jenseits weit über seine Kosmologie hinaus verweist. Nachdem schon Inferno und Purgatorio eifrig angenommen wurden, verbreitete sich das komplette Werk nach Dantes Tod nicht nur in Italien mit großer Geschwindigkeit und löste teilweise einen regelrechten Dante-Kult aus; es ist nicht übertrieben zu sagen, dass seine Geltung in Italien mit der Goethes in Deutschland und Shakespeares in der englischen Literatur vergleichbar ist[42], nicht umsonst ist er in Italien ehrerbietend auch als il (Sommo) Poeta bekannt[43], auf seinem Zenotaph[44] in der Kulturhauptstadt Florenz heißt es Onorate l‘altissimo poeta.

Es ist ein vielschichtiges und kompliziertes Werk, das zu mehrfachem Studieren einlädt: man kann es etwa als

  • als mystische Dichtung von einer Himmelsreise;       
  • als narrative Bewertung der politischen Verhältnisse im 14. Jhd.;   
  • oder fast buchstäblich als Weltanschauung ("Cosmo Dantesco")

verstehen. In diesem Fall lässt sich beispielsweise sagen, dass Dante auf der Erde ansetzt, da, wo er den Menschen (Anthropologie) in seinem Kernkonflikt anspricht, seiner Widersprüchlichkeit und Fehlbarkeit (Hamartiologie); dass er zwar das Jenseits narrativ expliziert, aber erst da und dann kann die Welt aus der Zukunft und die Sünde aus Gott richtig gesehen und verstanden werden, der Tod als Geheimnis des Lebens; er offenbart in einer contrapasso genannten Verfahrensweise das Wesen des eigenen Handelns (Ethik)[45]; und dass er schließlich vom Ende spricht, von dem wir gemeinhin annehmen und hoffen, wir wären bei Gott[46] (Theologie/Eschatologie[47]) – und so könnte man, zwar methodologisch unangemessen, aber inhaltlich möglich, alle klassischen Topoi[48] der Dogmatik durchgehen und über die Commedia verteilt Dante Ansichten systematisiert zusammentragen.

Doch was hat der „Dichter der Hölle und des Exils“ mit uns heute zu tun, begehen wir doch in einem Jahrzehnt bereits seinen 700. Todestag?

3. Was hat Dante mit uns zu tun?

Nicht wenig, meine ich. Es ist wahr, man sieht der Zeit nicht an, wes Kind sie ist; aber wie die Florentiner Bürger zu Beginn der Renaissance dessen gewahr wurden, dass die Zeit ihrer Vorfahren nicht die Ihre ist, so lassen sich auch in der Gegenwart deutliche Züge erkennen, dass unsere Zeit nicht die unserer Großeltern und Eltern ist. Um gewissermaßen die theologische Leistungsfähigkeit von Dante Alighieris Commedia in der sog. „Postmoderne“[49] abzustecken, kann ich aufgrund der übergroßen Komplexität hier nichts simplifizieren, aber will versuchen, anhand sinnvoller Literatur[50] wesentliche Merkmale zu elementarisieren – auch hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Denn wie Dante mit den Gegebenheiten seiner Zeit umging, kann auch eine Antwort auf das Ringen nach Modalitäten gegenwärtiger Theologie darstellen, hier kurz anhand von wesentlichen Kriterien zur Unterscheidung unserer Zeit (im Gegensatz zur vorherigen der „Moderne“) dargestellt – beachtlich sind die Parallelen zu Dantes Reaktion:

Autoritäten?

Ein duozentrisches Weltbild, wie es über Jahrhunderte in der politischen[51] und soziokulturellen[52] Landschaft vertreten wurde, polarisiert die Kräfte, sodass der Einzelne seine Identität orientierend über sie bestimmt? – dagegen plädiert Dante[53] deutlich für die Verantwortung des Einzelnen im tätlichen Handeln, hoffenden Glauben und vorausschauenden Denken. Selbst in der Reihe hochgelehrter Meister stehend, scheut er auch bittere Kritik von Autoritäten nicht, wenn sie seiner Meinung nach auf Abwegen sind: Loyalität soll nicht den Sinn bestimmen, und das scholastische Denken in Schulen und Namen[54] nicht den Vorrang der Argumente einnehmen.[55]

Ökonomie?

Eine pseudo-kapitalistische Marktwirtschaft, wie Dante sie immer wieder ausdrücklich thematisiert[56] und als Selbstzweck des Strebens um des Strebens willen charakterisiert? – dagegen fordert er unzweideutig, dass gerade die Ökonomie Mittel zum Zweck für den Menschen zu sein hat.

Geschlechterfrage?

Ein patriarchales Gesellschaftssystem, in dem die Frau zwar unter der Vorherrschaft und Entmündigung, aber dafür auch unter Schutz und Verantwortung des Mannes steht? – dagegen praktiziert Dantes eschatologisches System faktisch eine Gleichberechtigung[57] und impliziert mehr als deutlich, dass in Himmel, Läuterungsberg und Hölle alle Menschen zum Guten wie zum Schlechten in der gleichen Eigenverantwortung[58] für Ihr Leben einstehen.

Kultur?

Eine traditionalistische, regionale Einheitskultur? – dagegen skizziert Dante einen Pluralismus: er implementiert längst nicht nur die klassische Kirchengeschichte oder Scholastiker italienischer Provenienz, sondern bemüht sich um (Neu-)Bewertungen und ggf. um Dialog mit aus damaliger Sicht nicht nur naheliegenden Perspektiven: klassische Antike, griechische Mythologie, römische Politik, zeitgenössische Mystik, muslimische Prominenz wie Avicenna, Ibn Rushd, Ali und Muchámmad selbst[59] – Dantes Jenseits ist bunt.

Religiöser Horizont?          

Sogar eine indirekte Art interreligiöser Ökumene ist bei Dante festzustellen: nicht nur, dass er in seiner Bewertung historischer Persönlichkeiten z.T. deutlich von der offiziellen Doktrin der Kirche abweicht, indem er beispielsweise Abgeurteilte preist und andererseits Gepriesene, auch Kleriker und Päpste als Sünder und sogar ewig Verdammte aburteilt[60]; sondern auch, wenn er ganz unprätentiös die Möglichkeit des Ungetauftseins ernst nimmt, ebenso antike Prominente, Weise und Tugendhafte vorchristlicher Zeiten in einer Art Asphodeliengrund (oder gar im Himmel[61]) wohnen lässt – hierin lässt sich ohne viel Mühe die Frage nach der Heilswahrheit des Judentums bei Dante zumindest vorläufig beantwortet sehen. Auch Muslime wie Avicenna und Saladin und nichtchristlichen Potentaten wie Trajan[62] werden durch ihr tugendhaftes Handeln ungeachtet des persönlichen Glaubens entlohnt. [63]

4. Dantes Theologie – heute

Warum also kann Dante heute wieder Geltung beanspruchen und mit Gewinn studiert werden?

Nachdem seine Positionen, trotz aller Bewunderung seiner gelehrten Werke, unter Zeitgenossen immer wieder auf Unverständnis und Ablehnung traf (wie De Monarchia) – schon ein knappes Jahrhundert später wäre dies in der Renaissance sehr wahrscheinlich nicht mehr der Fall gewesen –, scheinen sich mir trotz aller Verhaftung in mittelalterlichen Weltbildern beachtliche strukturelle und inhaltliche Parallelen zu dem aufzutun, wie die jetzige Gegenwart dem Vernehmen nach oft wahrgenommen wird, um es in aller Kürze zu belassen[64]. Vor allem die Orientierung und existentielle Inanspruchnahme des Lesers, die durch kundige Darstellung strukturiert geboten wird, hat viel für sich.

Auch ich bezweifle, dass es auf die schwierigen Fragen der Gegenwart einfache Antworten aus der Vergangenheit gibt. Aber ich glaube, dass Zukunft eine Herkunft braucht, und dass es in der terra incognita vor 1517 auch und vielleicht gerade wieder viel zu entdecken gibt. Nicht nur als Staatsmann und Dichter, sondern auch als christlicher Denker und Theologe nimmt Dante mit seinem vielschichtigen und überaus komplexen opus magnum viele große Traditionen auf, trifft vielleicht nicht den Nerv seiner Zeit, aber verweist deutlich über sie hinaus. Gerade die genannten Gemeinsamkeiten mit der heutigen Lebenswelt und Konvergenzen mit den Mentalitäten der Postmoderne machen exemplarisch und schnell deutlich, dass die Commedia auch von heutigen Theologen wieder im Blick auf die Gegenwart mit Gewinn gelesen und studiert werden kann.

Anmerkungen

[1] Pannenbergs (*1928) stark an G.W.F. Hegel (1770-1831) orientierter Ansatz grundlegend dargestellt in Pannenberg, Wolfhart (Hrsg.): Offenbarung als Geschichte, Göttingen 51982, und dogmatisch vielseitig entfaltet in Pannenberg, Wolfhart: Systematische Theologie, Göttingen 1988-1993.

[2] Zwar gibt es an Kreativität und Tiefe bemerkenswerte und hochinteressante Studien, aber keine vergleichbaren grundlegenden neuen Entwürfe im deutschen Sprachraum. Vgl. dazu den nützlichen Band von Ford, David F. (Hrsg.): The Modern Theologians. An Introduction to Christian Theology in the Twentieth Century, Oxford 22001, bes. Part I, S. 17-224.

[3] Auch mir ist durchaus bewusst, dass das Spektrum der Theologie des 20. Jahrhunderts deutlich mehr differenziert werden kann, wie etwa Pöhlmann, Horst Georg: Abriss der Dogmatik. Ein Kompendium, Gütersloh 62002, S. 24 dies schematisch-exemplarisch tut. Andererseits erfahre ich aus täglicher Praxis, woran sich Dozenten und Lehrbücher de facto orientieren, und welche theologischen Vorstellungen an die Vikare, Religionslehrer und Geistlichen der evangelischen Kirche von morgen herangetragen werden.

[4] Vgl. bspw. die Einschätzung zur Christologie von Leiner, Martin: Die Entstehung des Christentums als semiotische Revolution, in: Danz, Christian et.al. (Hrsg.): Historischer Jesus und biblischer Christus, Wien 2011.

[5] In der Praktischen Theologie lässt sich diese Linie bis heute etwa im ebenso populären wie problematische Ansatz Wilhelm Gräbs erkennen, vgl. letztes Heft von tà katoptrizómena.

[6] Vgl. in der Populärliteratur z.T. Friedrich Schorlemmer; in der wissenschaftlichen Literatur ist ein Blick in das Literaturverzeichnis der mittlerweile klassisch gewordenen „Studentendogmatik“ von Härle, Wilfried: Dogmatik, Berlin/New York 32007, S. 690 aufschlussreich.

[7] Vor diesem Hintergrund zum Schmunzeln Barth, Karl: KD I/1, S. IX.

[8] So gibt es an evangelisch-theologischen Fakultäten in Deutschland keine Lehrstühle für mittelalterliche Kirchengeschichte.

[9] WA 6,484-573 (1520).

[10] Vgl. nicht auf personalen Autoritäten aufbauend (wie Väter und Papst), sondern vom Schriftprinzip ausgehend die Aufweisung der Inkohärenz, etwa zuletzt durch Coors, Michael: Scriptura efficax. Die biblisch-dogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt, Göttingen 2009.

[11] Vgl. dagegen den Mythos vom Mittelalter als der „ganz anderen Zeit“ exemplarisch Hardenberg, Friedrich von (Novalis): Die Christenheit oder Europa, Ein Fragment 1799.

[12] So der Wortlaut der Presseerklärung http://www.evlka.de/content.php?contentTypeID=4&id=12418, letzter Aufruf: 19. Dezember 2010, 20:04 Uhr.

[13] Die in mehr oder minder direkter Linie am 16. Juli 2010 zum Rücktritt von Maria Jepsen führte, der weltweit ersten lutherischen Bischöfin.

[14] Der erste Verfassungsentwurf wurde am 31. Oktober 2010 beschlossen.

[15] um von der römisch-katholischen Kirche zu schweigen, über die auch weniger kritische Beobachter hinlänglich urteilen, sie befände sich in der größten Krise seit den Pius-Päpsten. Rein numerisch lässt sich das in Deutschland an der immer steigenden Zahl der Kirchenaustritte festmachen; nun lässt sich auch feststellen, dass sich (etwa in Bayern) ein nicht geringer Teil in evangelischen Gemeinden wiederfindet – allerdings stellt sich wieder die Frage, ob sich diese Gläubigen im protestantischen Milieu langfristig heimisch fühlen werden.

[16] Vgl. etwa die strukturelle Frage in Von Heyl, Andreas: Zwischen Burnout und spiritueller Erneuerung. Studien zum Beruf des evangelischen Pfarrers und der evangelischen Pfarrerin, Frankfurt am Main 2003.

[17] Vgl. die handliche Sammlung qualitativer Aufsätze zu den in den letzten Jahrzehnten meistgelesenen Theologen (Europas): Theologien der Gegenwart. Eine Einführung, Darmstadt 2006.

[18] Boccaccio, Giovanni: De origine vita studiis et moribus viri clarissimi Dantis Aligerii florentini poetae illustris et de operibus compositis ab eodem, 1357.

[19] Vgl. das erste Sonett in La Vita Nuova.

[20] In Deutsch etwa in der Übersetzung Richards Zoozmanns (1958).

[21] Über die er eine eigene Abhandlung verfasste: Alighieri, Dante: De vulgari eloquentia, 1303-05; dt. übers. v. Kannengießer, Karl Ludwig: Über die Volkssprache, Leipzig 1845.

[22] Es scheint nicht immer ganz klar, ob Dante bzw. das lyrische Subjekt sich bewusst ist, dass er allenfalls sein Bild von Beatrice hochverehrt, aber kaum die ihm unbekannte, dahinterstehende konkrete Persönlichkeit. (Vgl. Lit. zum als Pygmalion-Effekt bekannten Projektionsverhalten.)

[23] Eigentlich Heftchen, zusammen haben sie einen Umfang von knapp 100 Druckseiten.

[24] Imbach, Ruedi/Flüeler, Christoph (Hrsg.): Dante Alighieri: Monarchia. Studienausgabe (lat.-dt.), Stuttgart 1989. Dazu Grasmück, Ernst: Dante Alighieri. De Monarchia. Zur politischen Idee vom Kaiser als Garant des Friedens, in: Beestermöller, Gerhard/Justenhoven, Heinz-Gerhard (Hrsg.): Friedensethik im Spätmittelalter. Theologie im Ringen um die gottgegebene Ordnung, Stuttgart 1999, S. 64-78.

[25] DH 870-75; sie fasst im Prinzip alle vorhergegangen papalen Machtansprüche unter Berufung auf theologische Autoritäten zusammen.

[26] Zu empfehlen ist beispielsweise die nicht wörtliche Übersetzung, aber sinnvolle Nachdichtung von Laaths, Erwin (Hrsg.): Dantes Werke. Italienisch und Deutsch, Berlin 1958. Seit 2010 ist auch wieder eine deutsche Ausgabe mit den beeindruckenden Holzstichen Gustave Dorés (1832-83) verfügbar.

[27] Vgl. bspw. die Überschrift zur Einordnung Dantes in die Geschichte der katholischen Theologie von Vorgrimler, Herbert: Geschichte der Hölle, 2. Auflage München 1994, S. 175: „Am Schnittpunkt von Dichtung, Visionen und Theologie“.

[28] Leider ist es aus Platzgründen hier keineswegs möglich, eine Systematische Darstellung der Theologie Dante Alighieris anzustreben, deshalb werde ich nur auf einige, exemplarische Punkte eingehen.
Leicht zu lesen und als Einführung sehr lohnend, aber an Hintergrundinformationen knapp gehalten Logister, Wiel: Dante. Dichter-Mysticus-Pelgrim. De spiritualiteit van de Divina Commedia, Averbode 2000 (inzw. dt. Übers. Logister, Wiel: Die Spiritualität der Divina Comedia [sic!]. Dantes Gedicht theologisch gelesen, Münster 2003.) Aus anderer Perspektive Ottaviani, Didier: La philosophie de la lumière chez Dante. Du Convivio à la Divine Comédie, Paris 2004. Oder mit zahlreichen inhaltlichen Einzelstudien Ghisalberti, Alessandro (Hrsg.): Il pensiero filosofico e teologico di Dante Alighieri, Milano 2001.

[29] Eine Komödie bezeichnet in diesem Sinne, im Gegensatz zu einer Tragödie, eine Erzählung, die für den Protagonisten ein gutes Ende nimmt. Ergänzt um das Attribut „Divina“ wurde sie im 14. Jahrhundert durch die drei Abschriften von Dantes ersten Biografen Giovanni Boccaccio (1313-75), der ihn seit dem Alter von 19 Jahren kannte, und ist ab 1555 geläufig.

[30] Der Ich-Erzähler suggeriert, es handle sich dabei um Dante selbst, der dies alles visionär erlebt habe, vgl. auch den letzten Abschnitt der Vita Nuova.

[31] Aus einzelnen Stellen der Commedia lässt sich dieses Datum mit einiger Notwendigkeit folgern, da von der „Mitte des Lebens“ die Rede ist, nach biblischem Verständnis 35 Jahre (vgl. Ps 90,10), Dante 1265 geboren wurde; der Tag deshalb, weil seine visionäre (?) Jenseitsreise durch die Erzählung hindurch fünf Nächte umfasst und er nach der zweiten Nacht am Ostermorgen den Läuterungsberg betritt.  
Vgl. zur Notwendigkeit der Datierung auf 1300 auch Logister, Wiel: Die Spiritualität der Divina Comedia, Münster 2003, S. 8.

[32] Die drei mal 33 Gesänge von Inferno, Purgatorio und Paradiso ergeben zusammen mit dem einführenden Gesang der Verzweiflung Dantes an Welt und Leben 100 Gesänge: die Potenz der vollkommenen Zahl – ein deutlicher Hinweis auf die numerische Strukturierung der Commedia, die zugleich eine eigene Allegorie enthält.

[33] Mit einem Radius von Florenz bis Jerusalem, unter der auch Spitze in den Erdmittelpunkt mündet. Dieser Trichter sei entstanden bei Luzifers Höllensturz, da dieser bei seinem tiefen Fall sich bis zum Erdmittelpunkt durchgebohrt habe – das verdrängte Erdvolumen befinde sich auf der gegenüberliegenden südlichen Hemisphäre als Läuterungsberg, dessen Spitze wiederum die Atmosphäre am irdischen Paradies Eden schneidet. In dieser Weise hat Dante den Sündenfall mit der Möglichkeit von Verdammung und der Notwendigkeit zur Versöhnung mit Gott in sinnfälliger Weise geometrisch und geografisch zum Ausdruck gebracht. Bemerkenswert auch, dass Eden – Ort der Erschaffung des ersten Menschen und Fall des Menschengeschlechts – diametral gegenüber von Jerusalem liegt, Ort der Ermordung des Gottmenschen und Versöhnung des Menschengeschlechts; dementsprechend lag unter Kalvaria nach verbreiteter mittelalterlicher Vorstellung auch der Schädel Adams begraben, wie heute noch gegenüber dem Eingang in der Grabeskirche dargestellt.

[34] Wichtig ist dabei, dass Dante Handeln nicht voluntaristisch versteht (wie beim Limbo deutlich wird, dessen Bewohner Unglaube nicht freiwillig gewählt haben und somit auch nicht bestraft werden), sondern den Menschen nach der Inkarnation, spätestens Verkündigung Jesu vor eine echte Alternative zum sündigen gestellt sieht – er vor allem aber nach dem individuellen Sündenfall nicht in Sünde bleiben muss, sondern Buße tun kann.

[35] Dass gerade Verrat als die verachtenswerteste und abscheulichste Sünde erscheint, ist Dantes biografischen Erfahrungen als Opfer von Verrat geschuldet.

[36] Eine physische Manifestation der für die Vergebung unabdingbaren contritio cordis.       
Es ist bezeichnend, dass Dante quasi als Zuschauer die Hölle unbeschadet durchwandert, aber ihm am Läuterungsberg Schmerz und Leid widerfährt: neben der Bestimmung des Purgatorio für die Christen und der zentralen Stellung in der Commedia ein wichtiger Hinweis, dass der zweite Teil eigentlich als wichtigster und Kern der Erzählung zu verstehen ist. Hier wird deutlich: die Commedia ist Erbauungsliteratur.   
Vgl. etwa die Tabelle in Logister, Wiel: Die Spiritualität der Divina Comedia, Münster 2003, S. 102.

[37] Etwa Menschen, die erst angesichts des unmittelbar bevorstehenden Todes um Vergebung bitten.

[38] Nicht-engagement: sich die Mühe einer Reflexion der Selbstregulation, zwischen den notwendigen Bedürfnisse seiner Natur und den zusätzlichen Wünschen seines Willens, seinen negativen Ängsten und positiven Hoffnungen, nicht zu machen, ist Akedía (Vgl. Evagrius Ponticus: Praktikos, §12).

[39] Die äußerste noch von Gott (als unbewegtem Beweger) bewegte Sphäre des Universums in mittelalterlicher Adaption des ptolemäischen Weltbildes.

[40] Der „Wohnort aller Erwählten und Gottes“ selbst.

[41] Der Grund, warum oft vor allem auf das drastisch geschilderte Inferno eingegangen wird, ist schlicht die Orientierung an der Rezeption, die ihm den Vorrang vor dem menschlichen Purgatorio und dem theologischen, teilweise mystisch anmutenden Paradiso gegeben hat. Und obgleich Dante klar sieht, dass die Welt die Form einer freischwebenden Kugel statt einer Erdscheibe hat, ist auch die Wahlverwandtschaft zum ptolemäischen Weltbild deutlich, das die Erde als schwerstes und materiellstes Element im Zentrum des Universums sieht, alle leichteren fliehen von ihr, bis hin zum Feuer und dem immateriellen Gott, mit der größtmöglichen Distanz – daher ist Luzifer auch als maximalste Gottferne so weit weg von den Gestirnen, in der Mitte der Erde.

[42] So hat sich in der Romanistik eine regelrechte Dantologie herausgebildet, vgl. z.B. Esposito, Enzo (Hrsg.): Bibliografia analitica degli scritti su Dante, Florenz 1990, 5 Bände.

[43] Auch wird er auch heutigen Nicht-Akademikern immer wieder ins Gedächtnis gerufen, da ihm die nationale Rückseite der hiesigen 2-Euro-Münze gewidmet, ein kontrastreiches Relief nach seinem Abbild auf der rechten Seite La disputa del sacramento (1509-10)  - wo er von Rafael bemerkenswerterweise als Theologe inszeniert ist.

[44] Seine Gebeine ruhen in Ravenna.

[45] Zu bedenken ist auch, dass Gott bei Dante zwar in einer Weise straft, die der bestraften Tat ähnelt (Vgl. Jak 2,13a), aber vor allem das Wesen der Sünde selbst offenbar wird. Sündenstrafe sei nicht primär als Rache Gottes zu verstehen (obgleich Gott bei Dante dafür wenigstens mitverantwortlich ist, vgl. Inf. Canto XIV & Canto XXI) sondern es handelt sich um die plastische Umsetzung eines uralten Konzepts: Sünde sei die Persiflage ihrer selbst (etwa dieses wollte Augustin ausrücken, als er Sünde gleichsam einer optischen Täuschung als privatio boni identifizierte); insofern ist der Contrapasso einmal die Verkehrung und Überdrehung eines diesseitigen tätlichen Handelns; andererseits ist diese Überdrehung die logische Konsequenz, in der sie die Sünde selbst subsistieren und zu ihrer vollen Ausprägung gelangen lässt.

[46] Vgl. Augustin: En. in Ps XXX n8; in Ps LXX n5: „Ipse post istam vitam sit locus noster“.

[47] Bemerkenswert ist, dass Dante scheinbar ausschließlich die individuelle Eschatologie thematisiert, aber Themen der kollektiven oder kosmischen Eschatologie (wie Endgericht oder annihilatio mundi), wenn überhaupt, dann nebensächlich behandelt werden.

[48] Wie etwa Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007 dies – methodisch nicht naheliegend, aber hilfreich und kundig recherchiert – für die Schriften des neutestamentlichen Kanons durchführt. Vgl. den knappen und hochinteressanten Versuch von Fischer, Anton: Die Theologie der Divina Commedia, München 1857.

[49] Vgl. bis heute maßgeblich der umfassende und vielseitige Band von Toynbee, Arnold: Der Gang der Weltgeschichte. Aufstieg und Verfall der Kulturen, Stuttgart 41954.

[50] Hilfreich sind z.B. Koslowski, Peter/Spaemann, Robert/Löw, Reinhard (Hrsgg.): Moderne oder Postmoderne? Zur Signatur des gegenwärtigen Zeitalters, Weinheim 1986.    
Bell, Daniel: The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting, New York 1973; dt. Übers. Bell, Daniel: Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt/Main 1989. Oder Laszlo, Ervin: Global Denken. Die Neu-Gestaltung der vernetzten Welt, Rosenheim 1989.        
Zur Beleuchtung einer möglichen theologischen Reaktion vgl. bspw. Küng, Hans: Theologie im Aufbruch. Eine ökumenische Grundlegung, München 1987; ebenso in gewisser Weise die Fortsetzung durch Küng, Hans: Projekt Weltethos, München 122010; oder das Büchlein von Griffin, David Ray: God and Religion in the Postmodern World. Essays in Postmodern Theology, Albany 1989.

[51] Sich aufdrängende Beispiele gibt es reichlich: civitas terrena – civitas dei; regnum – sacerdotium; Protestanten – Katholiken; HumanumChristianum; USA – Sowjetunion; etc. Vgl. dazu umstritten, aber lohnend Galtung, Johan: Konflikte und Konfliktlösungen, Berlin 2007, bes. S. 159-195.

[52] In Deutschland war die antiautoritäre Studentenbewegung der 1960er Jahre eine radikale Reaktion u.a. auf genau diese Polarisierung der Autoritäten.

[53] Der selbst als Politiker im Spannungsfeld von Kaiser und Papst stand, vertrat er doch aus Überzeugung die papstkritischen Weißen Guelphen in prominenter Weise.

[54] Vgl. Paradiso, Canto XII.

[55] Für die Theologie bedeutet das, auch maßgebliche Grauzonen und Ungewissheiten in Kauf zu nehmen, zu ertragen und sie ggf. in Demut den Nachgeborenen zu überlassen, vgl. Paradiso, Canto XXXIII, V. 139.

[56] Ein deutliches Beispiel ist die Rede Vergils in Inferno, Canto VII.

[57] Wieder nur eines von vielen Beispielen: Inferno, Canto V.

[58] Auch die Hervorhebung des Individuums und seiner Heilsgeschichte scheint ungewöhnlich, geht es doch im mittelalterlichen Christentum oder heutigem Katholizismus mehr um ecclesia und Zugehörigkeit zu ihr.

[59] Meines Wissens wird seltsamerweise Al-Ghazzali nicht erwähnt, was aber vielleicht auch auf die fragmentarische Informationslage des Westens über die arabische Welt zurückzuführen ist.

[60] Bspw. Inferno, Canto XIX.

[61] Wie Judas Makkabäus in Paradiso, Canto XVIII.

[62] Paradiso, Canto XIX.

[63] Vgl. Inferno, Canto IV.

[64] Es in der spezifischen Situation Dantes bedeutsame Parallelen, die sich in seinem Werk niederschlagen: er schreib seine Commedia in einem Zeitraum von über zehn Jahren im Exil, das er als existentielle Entwurzelung erfuhr, für ihn dem Tode nahe (vgl. die nicht wenigen vaticinia ex eventu der Jenseitsbewohner über seine spätere Verbannung, z.B. Paradiso, Canto XVII, 55-60) – für das Lebensgefühl vieler heutiger berufstätiger Menschen ist eine im letzten Jahrhundert deutlich zugenommene Fragmentarisierung der soziopsychologischen Zusammenhänge und gesellschaftlichen Netze auszumachen; Dante gilt gemeinhin als der „Dichter der Hölle und des Exils“, der sich biografisch vom Leben der Aktion in die Kontemplation zurückzieht – allgemein bekannt ist, dass heutige Menschen noch nie so wenig Zeit ihre Alltags auf die finanzielle Existenzsicherung verwenden mussten, sodass sich auch schon nach dem Wiener Kongress die Sinnsuche von der Arbeit auf das Privatleben zurückzieht; gerade die Kombination der vorherigen beiden Einsichten hat mit der Auflösung traditioneller Familienstrukturen für den Einzelnen, besonders für ältere Menschen und flexible Karrieristen oft die gefürchtete soziale Isolierung und Einsamkeit zur Folge – erst ab der sechsten Terrasse des Purgatorio sind die Reuigen wieder imstande, miteinander Kontakt aufzunehmen und zu reden, vorher gibt es für sie, obgleich in der Gruppe, keine Möglichkeit dazu, auch der letzte Höllenkreis erlaubt dies nicht, weil die Verdammten zuletzt gänzlich in einem unterirdischen See eingefroren sind: Eis, Kälte und Beziehungslosigkeit nicht nur zu Gott, sondern auch untereinander und sich selber als schlimmste Strafe.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/69/mag2.htm
© Markus Göschel, 2011