Gefühl im Spiegel

Nachrichten aus dem katoptrischen Universum

Andreas Mertin

Vorbemerkung

Es gibt Dinge, die kann man nicht erfinden. Vor einiger Zeit bekam ich ein Buch zugesandt, dem der nebenstehende Zettel beigelegt war. Nun könnte das der ganz normale Zettel für Anschriften an Rezensenten sein, was immer noch nicht erklären würde, warum ein Buch von Mario Perniola über das Fühlen ausgerechnet auf dem Schreibtisch von Tà katoptrizómena landen sollte. Und so beginnt man sich in ein Buch zu vertiefen, dass zu den spannendsten, aber auch anstrengendsten Lektüren der letzten Zeit gehört.

In dichter Sprache, so dass man beinahe jeden Satz mehrfach bedenken muss und beispiellos, so dass man sich das Gesagte immer wieder exemplarisch vor Augen rufen muss, führt Perniola in seine Betrachtungen „Über das Fühlen“ ein. Und dann, auf Seite 33 des Buches wurde mir dann klar, welchem Umstand ich – vermutlich – die Zusendung verdankte. Dort heißt es: Der Sinn der zeitgenössischen katoptrischen Ästhetik liegt in der Verwandlung des gesamten sensitiven Lebens in etwas undurchdringlich Äußeres, in etwas mit Bezug auf das fühlende Individuum wesentlich Anderes.


Perniola, Mario (2009): Über das Fühlen. Berlin: Merve.
(Originalausgabe Del sentire, Turin: Einaudi 1991 [Neuauflage 2002])


ημεις δε παντες ανακεκαλυμμενω προσωπω την δοξαν κυριου
κατοπτριζομενοι την αυτην εικονα μεταμορφουμεθα απο δοξης
εις δοξαν καθαπερ απο κυριου πνευματος - 2. Kor. 3, 18[1]

Mario Perniola beginnt mit der Feststellung, dass sich unsere Zeit in ihrem Verhältnis zum Fühlen von allen anderen Epochen unterscheidet. Wir könnten feststellen, „wenn wir unsere Weise zu fühlen und die unserer Großeltern miteinander vergleichen, dass diese beiden Weisen sehr viel weiter auseinander liegen, als unsere und ihre Weisen zu denken und zu handeln.“ (S. 19) Aber was macht diese Differenz aus? Unseren Großeltern, so meint Perniola, hatten noch eine innere Erfahrung der Dinge während wir nur noch auf bereits Gefühltes stoßen (S. 20f.). Und das bereits Gefühlte kann nicht mehr gefühlt werden, es kann nur noch „gepaust werden“.

Und an dieser Stelle wird es interessant und auch für das Thema „Gefühl und Religion“ relevant. Denn nach Perniola wird das Fühlen „nicht mehr der einzelnen Subjektivität aufgebürdet“, es „hat eine Dimension angenommen, die, anonym, unpersönlich, sozialisiert, gepaust sein will.“ (S. 21) Gefühl unter den Bedingungen der Condition Postmoderne. Anders als das Bereits-Gedachte oder das Bereits-Getane ist das Bereits-Gefühlte aber kaum wahrheitsfähig. Im Rahmen einer Mediakratie wird das Bereits-Gefühlte durch Umfragen und Zuhörerquoten erhoben (S. 26).

Selbst dort, wo wir meinen, noch authentisch sein zu können, etwa im Blick auf den eigene Körper, stoßen wir auf das Bereits-Gefühlte. Wir sind geradezu umstellt und entstellt von fremden Bildern unseres Selbst.

„Nun hat die abendländische Kultur die Erfahrung des Sich-Spiegelns in all ihren möglichen Aspekten erkundet, sie hat sich jedoch ausgesprochen selten bei der Eventualität einer Metamorphose des Menschen in einen Spiegel aufgehalten“ (S. 30). Letztlich hieße das, „sich als Ort zu fühlen, in dem sich das Äußere spiegelt“ (S. 31).

„Spiegelsein stürzt hinein in eine Bewegung, die zur Erfahrung der in ihrer Außenseitigkeit erfassten Wahrnehmung zurückläuft.“ (S. 33) Und an dieser Stelle tauch nun erstmals das katoptrische Universum auf: „Der Sinn der zeitgenössischen katoptrischen Ästhetik liegt in der Verwandlung des gesamten sensitiven Lebens in etwas undurchdringlich Äußeres, in etwas mit Bezug auf das fühlende Individuum wesentlich Anderes.“ (S. 33)

Ich versuche einmal, das von Perniola Ausgeführte auf unser Heftthema zu übertragen, mache sozusagen heuristisch von ihm Gebrauch. Denn wenn er recht hat, dann hat das auch Auswirkungen auf die Rede von der Religion als Gefühl. Es gäbe dann nichts unmittelbar Gefühltes mehr, kein „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“[2], sondern nur das bereits-gefühlte religiöse Gefühl. Was Jörg Herrmann in seinen Studien eindrucksvoll gezeigt hat, nämlich die zunehmende Prägung der religiösen Sozialisation durch die Medien, also die Beeinflussung des Unmittelbaren religiösen Gefühls durch Medienapparate, bekäme so einen philosophischen Hintergrund.[3] Und das mit weitreichenden Folgen. Denn: „Das Bereits-Gefühlte kann nicht nachgeahmt, also nach-gefühlt, sondern nur gepaust, zurückgeworfen, widergespiegelt werden.“ (S. 35)

Aber was heißt das für das religiöse Gefühl? Unbestreitbar berufen sich die meisten modernen Menschen, die sich heute auf ihr religiöses Gefühl beziehen, auf eine Schablone, eine gesellschaftliche Vorlage und nicht auf ein authentisches Gefühl. Darauf hat schon Mircea Eliade in seiner Schrift über das Heilige und das Profane hingewiesen.[4] Das was ursprünglich die Menschen unter religiöser Erfahrung verstanden haben, hat mit dem, was moderne Menschen unter religiöser Erfahrung verstehen, wenig gemein. Es fehlt der Widerfahrnis-Charakter.

Heute schematisiert sich das religiöse Gefühl immer mehr. Ich ärgere mich, weil die Kirche, in der ich religiös mit sozialisiert wurde, nun stillgelegt oder abgerissen wird? Ich bin also verärgert, aber nicht aus Verletzung eines ursprünglichen religiösen Gefühls, sondern weil es diese Schablone gibt, die derartiges heute in bürgerlicher Sprache Verletzung eines religiösen Gefühls nennt, obwohl die christliche Religion dezidiert das Gegenteil lehrt. Aber das Schema ist nun einmal unbestreitbar vorhanden und ich brauche es nur zu reproduzieren. Und so ist es eben keine Elementar-Erfahrung im Sinne des Jakob oder des Mose, sondern wirklich nur noch ein Cliché: „Unser Zeitalter ist ästhetisch, weil alles in ihm Wirkliche vom Brennstempel des Bereits-Gefühlten gebrandmarkt sein muss, weil sich das Fühlbare und das Affektive als bereits Vorbereitetes und Vorgefertigtes aufzwingen, das lediglich hingenommen und wiederholt zu werden braucht.“ (S. 36f.) Und dazu braucht man dann gar nicht auf die Medienapparate des privaten Fernsehens oder auf Hollywood verweisen, diese Vorgängigkeit der Gefühlsschemata ist universal.

Perniola, um nun auf den Gegenstand der Rezension zurückzukommen, führt nun im zweiten Kapitel seines Buches eine „Archäologie des Fühlens“ (69-130) durch. Die nach dem auf der Rückseite des Buches abgebildeten Schematik verlaufende Erschließung, wobei horizontal einander zeitgenössische Phänomene erörtert werden und vertikal sich die Entwicklungsgeschichte abzeichnet. Und so gräbt sich Perniola durch diese Entwicklungsgeschichte hindurch. Legt Schicht für Schicht frei, bis er bei Hobbes, Descartes und Gracián landet.

Im dritten Kapitel geht es dann um das „Sich fühlen lassen“ (131-181) und dabei noch einmal um das „Bereits-Gefühlte“ nicht zuletzt im Verhältnis zur Metaphysik in den ursprünglichen Bestimmungen.

Insgesamt ist Perniolas „Über das Fühlen“ ein dichtes Werk, dessen Vorteil nicht zuletzt darin besteht, noch einmal differente Begrifflichkeiten in einen traditionellen Diskurs einzutragen. An manchen Stellen hätte ich mir das Buch „geschwätziger“ und weniger dicht gewünscht. Mehr Beispiele hätten der Rezeptionsfähigkeit sicher gut getan. Aber das Entscheidende – nämlich die Frage, was von der Wertschätzung des Gefühls übrig bleibt, wenn wir seiner Diagnose der aktuellen und unentrinnbaren Vorgängigkeit des Bereits-Gefühlten folgen – liefert sein Werk. Und daran müsste sich auch eine Theologie abarbeiten, die im Rekurs auf den Idealismus heute ihre Impulse bezieht.

Anmerkungen

[1]    Wir alle spiegeln mit unverdecktem Angesicht das Strahlen der Gegenwart des Ewigen Gottes wider, und wir werden in dasselbe Ebenbild verwandelt von einem Aufleuchten zum anderen, wie es von der Geistkraft des Ewigen kommt. (Bibelin gerechter Sprache)

[2]    Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube: nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), hrsg. v. Rolf Schäfer (Berlin: de Gruyter, 2008).

[3]    Herrmann, Jörg (2007): Medienerfahrung und Religion. Eine empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion: Vandenhoeck & Ruprecht.

[4]    Eliade, Mircea (1984): Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. 1. Aufl… Frankfurt am Main: Insel-Verl (Gesammelte Werke in Einzelausgaben).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/70/am345.htm
© Andreas Mertin, 2011