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Sakralität und liturgischer RaumBuchvorstellungenAndreas Mertin Wenn immer mehr Bücher zu einem Themenkomplex erscheinen, dann scheint man davon ausgehen, dass es sich um eine wichtige Fragestellung handelt. Und auffällig ist, dass in den letzten Jahren eine Fülle von Büchern zum Thema „Kirchenbau“ erschienen ist. Hier eine kleine Auswahl:
Das kann auf den ersten Blick verwundern, denn angeblich gibt es doch nichts mehr zu bauen, ja es werden sogar Kirchen abgerissen oder anderen Nutzungsformen zugeführt. Aber vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass zur Zeit so intensiv der Frage nachgegangen wird, was wir an den Kirchenbauten haben und welche Nutzungsformen es inzwischen gibt, denn immer mehr Gemeinden (und damit auch Architekten) werden vor der Herausforderung stehen, dieses Problem für den eigenen Kirchenbau angehen zu müssen. Es kann daher nicht schaden, wenn möglichst multiperspektivisch eine Antwort auf die Problemstellung: Kirchenbau der Gegenwart gesucht wird. Nollert, Angelika (Hg.) (2011): Kirchenbauten in der Gegenwart. Architektur zwischen Sakralität und sozialer Wirklichkeit. Regensburg: Pustet. Genau das macht der von Angelika Nollert und anderen herausgegebene Band. Er versammelt zunächst einmal Beispiele und Sichtweisen, damit die Leserinnen und Leser einen Überblick bekommen, was alles möglich ist und was inzwischen schon an Lösungen oder Lösungsversuchen vorgelegt wurde. Dieser Band, so heißt es in der Ankündigung, verbindet die Dokumentation ausgewählter Kirchen mit einer interdisziplinären Diskussion der Bedeutung von Kirchen und ihrer Entwicklung aus theologischer, gesellschaftlicher, architektonischer, urbanistischer sowie philosophischer Perspektive. Dabei ist die Bandbreite der Beiträger groß und die Herangehensweisen vielschichtig. Dabei ist es natürlich nicht das Problem der Herausgeber, dass sich die Zahl gelungener Beispiele nicht beliebig steigern lässt, so dass man doch auch immer wieder auf die bekannten Exempel trifft. Also natürlich München-Herzhausen, natürlich Wien Donaucity, natürlich die Kapellen auf Schalke und im Berliner Olympiastadion, natürlich München-Riem, natürlich die Neunutzung der Bielefelder Martini-Kirche. Für denjenigen, der sich zum ersten Mal auf das Feld der Erkundung christlich/religiöser Raumnutzungen und Umnutzungen begibt, ist das spannend zu lesen und ertragreich. Aber es sind eben immer auch herausragende Beispiele und wie schon gesagt man trifft sie inzwischen in fast allen einschlägigen Büchern. Was die theoretischen Beiträge betrifft so decken auch sie ein breites Spektrum ab. Das einzige, was mir fehlt, ist eine Wiederaufnahme der Diskussionen aus den 60er-Jahren, die radikal fragten, ob wir überhaupt noch Kirchen als Sakralgebäude brauchen. Die unentrinnbare Dialektik, dass „Sakralbau“ einerseits ein fester architekturtheoretischer Begriff ist, andererseits theologisch aber höchst umstritten ist, kommt so nicht richtig zum Tragen.[1] Es gibt einen insgeheimen common sense der Beteiligten, „Sakral“ als Diskussionsbegriff vorauszusetzen (im Voraus zu setzen). Das ist meines Erachtens der Sache und der Diskussion nicht zuträglich. Hier wäre etwas mehr Ikonoklasmus angesagt. Trotzdem wer sich in die komplexe Materie einarbeiten will, dem sei das Buch dringend empfohlen, weil es die verschiedenen Entwicklungen und Diskussionsstränge gut zusammenfasst. Am Anfang resümiert Hans Christof Brennecke die Diskussion um den protestantischen Kirchenbau des 19. Jahrhunderts. Und das Spannende seines Beitrags ist, dass er sehr deutlich werden lässt, dass diese Diskussion eigentlich eine um die Moderne ist wie viel Welt, wie viel Demokratie, wie viel Partizipation will man in den Kirchenraum lassen und wie viel Differenz, wie viel Stil, wie viel Zeichensetzung muss sein. Nach der Lektüre seines Textes fragt man sich, ob wir heute wirklich schon über diese Fragestellung hinaus sind. Carola Jäggi setzt sich anschließend mit den „Heiligen Räumen“ auseinander und nimmt den Leser mit auf eine Kurzreise von den Anfängen bis in die Debatten der Gegenwart. Das ist eine gute Zusammenfassung der Diskussionslage und zeigt zugleich die verwirrende Situation der Gegenwart: „Vergleicht man die Äußerungen des katholischen Liturgiewissenschaftlers Klemens Richter mit jenen des evangelischen Praktischen Theologen Manfred Josuttis, so ist geradezu eine chiliastische Entwicklung im Sinne einer ‚Katholisierung’ des evangelischen Kirchenbauverständnisses zu beobachten“ (S. 27). Christian Demand skizziert noch einmal das Ende der früher sehr verbreiteten Säkularisierungsthese, der heute niemand mehr folgen will, während alle von der Wiederkehr der Religion reden. Die Wiederkehr der Religion ist allerdings selbst, wie ich schon in der Besprechung des Buches „Vom Logos zum Mythos“ in dieser Zeitschrift schrieb, ein perennierender Mythos der bürgerlichen Gesellschaft: „Als ich noch studierte, erschien ein Buch, herausgegeben von Willi Oelmüller, mit dem Titel „Wiederkehr der Religion?“ Das ist nun knapp 30 Jahre her, liegt also in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und wurde schon damals mit einem Fragezeichen versehen. Nicht, weil es die Wiederkehr der Religion nicht gäbe, sondern, weil sie nie weg war.“ Nur einige Soziologen wollten das partout nicht einsehen. Insofern hilft das Ende der Säkularisierungsthese nicht weiter, weil es die Frage der Verräumlichung des Religiösen nicht zu lösen hilft. Eckhard Frick geht den „Spielräumen des Heiligen“ nach, vor allem in Auseinandersetzung mit Foucaults inzwischen in der Kirchbaudiskussion berühmt gewordenen Heterotopie-Text.[2] Er führt einige interessante Unterscheidungen ein, andere wiederum z.B. den verwendeten Begriff des Symbols finde ich nicht so plausibel.[3] Der Beitrag, der für mich der überzeugendste und spannendste Beitrag des ganzen Buches ist, ist der von Dieter Hoffmann-Axthelm: Was ist zwischen Stadt und Kirche? Dieser Text ist wirklich ein Gewinn. Er sollte zur Pflichtlektüre aller Kirchenvorstände gehören und nicht nur derer, die demnächst Kirchenumnutzungen zu beschließen haben. Vor allem aber empfehle ich ihn denen zur Lektüre, die immer noch besinnungslos von den Kirchen als prägenden Zeichen in der Stadt reden. Hier ist Hoffmann-Axthelm wirklich heilsam. Ein Doppelsatz wie „Wenn also eine Kirchengemeinde in einem Stadtgebiet eine Kirche errichten will, ist sie planungsrechtlich nicht anders gestellt als ein privater Bauherr oder eine Religionsgemeinschaft, die eine Moschee oder einen Hindu-Tempel errichten will. Sie hat den Baugrund zu erwerben und eine Bauplanung einzureichen, die dann nach §34 BauGesB (Zulässigkeit im Ortszusammenhang) oder durch Bebauungsplan genehmigt wird“ bringt einen radikal auf den Boden der Tatsachen zurück. Noch schärfer der Satz im Anschluss: „Dass es in einem neu geplanten Stadtgebiet eine Kirche geben müsse, ist aber nicht einmal Teil der Vorstellung von einem neuen Stadtgebiet.“ Später wird er noch hinzufügen: „für die Mehrheit der Nutzer sind im Zweifelsfall Parkplätze ungleich wichtiger“. Ja, Architektur ist von Gott verlassen ist von der Herrschaft verlassen, ist von der Gesellschaft verlassen sie ist nur noch Architektur. Und wenn Architekten dennoch auch heute noch gerne Kirchen entwerfen, dann entwerfen sie in Wirklichkeit ihre höchst „eigenen Sehnsuchtsräume“ (S. 169). Es ist nun nicht so, dass Hoffmann-Axthelm keine Perspektiven aufzeigt, ganz im Gegenteil, hier ist er sehr konkret, nur ist er glücklicherweise auch nicht bereit, im Interesse der Sache die Augen zu verschließen. Abschließend schlägt er eine Reihe von Begrifflichkeiten vor, von denen ich vorschlagen würde, sie einmal konstruktiv und kritisch im Einzelnen durchzugehen: er spricht von der nachmodernen Gebäudefrömmigkeit; vom Raum für Religionsgedenken. Sein Plädoyer: „Architektonische Schönheit reicht nicht, sie muss sich auflösen lassen in Freundlichkeit der Aufnahme, in Geborgenheit und zugleich Durchsichtigkeit … (es geht) um Rücknahme, um unterlassene Affirmation, welche den Benutzern Raum gibt und sie zu sich kommen lässt.“ (S. 173) Benedikt Kranemann geht den „Symbolen des Religiösen im Urbanen“ nach und weist darauf, dass religiöser Pluralismus sich auch über Räume abbildet. Gemeinsein ist den religiösen Räumen, dass sie „Zeugnisorte für den Gottesglauben“ der sich in ihnen Versammelnden sind. Auf jeden Fall gilt: „Das vielfältige auch bauliche Nebeneinander der Religionen ist ein Faktum, das es zu entdecken gilt“ (S. 180). In letzten Teil des Buches, der mit „Aktuelle Prozesse und Situationen im Kirchenbau“ überschrieben ist (S. 182-252), geht es noch einmal um ganz konkrete Phänomene wie der öffentlichen Wahrnehmung des Umgangs mit dem religiösen Raum (Gollan / Frick), der politischen Dimension (Duttweiler), den immobilienwirtschaftlichen Gesichtspunkten (Sabary), der Organisationsaberatung (Schuster) sowie der Begleitung der Entscheidungsfindung (Ludwig). Dazwischen finden sich noch grundlegende Vergleiche mit Amerika (Köth), den Niederlanden (Schäfer) sowie abschließend zwei Texte zur „Sakralität der Leere“ (Mennekes) und zur Pflege des Abschieds (Haunerland). Ausgestattet ist das Buch mit 104 Farb- und 42 s/w-Abbildungen, die Entwicklung und Bestand der aktuellen Kirchbauten dokumentieren. Das einzige, was ich im Buch wirklich vermisst habe, war ein positiv-konstruktiver Beitrag eines der Entscheidungsträger im Prozess der Umnutzung bzw. Entwidmung von Kirchengebäuden, einer, der nicht immer nur in einer apologetischen Grundhaltung verharrt, sondern es als Herausforderung für die Zukunft begreift. Herbert Fendrich wäre so ein Beiträger gewesen. Aber das mindert nicht den Wert des gesamten Buches, das ich ich wiederhole mich als sehr empfehlenswert für die Annäherung an die Problematik des verantworteten Umgangs mit Kirchenräumen ansehe. Etwas ganz anderes und doch auch etwas Vergleichbares ist die Dissertation von Stefan Kopp, die gerade im Lit-Verlag erschienen ist. Etwas Anderes in dem Sinne, dass Kopp natürlich eine wissenschaftliche Aufarbeitung bietet und einen Forschungsansatz verfolgt, vergleichbar ist es aber darin, dass auch Kopp fragt, was wir eigentlich im 21. Jahrhundert von unseren Kirchengebäuden zu halten haben. Ich habe Kopps Text nicht zuletzt vor dem Hintergrund meiner Auseinandersetzung mit Johann Hinrich Claussens Buch „Gottes Häuser oder Die Kunst, Kirchen zu bauen und zu verstehen“ gelesen und geschaut, was er bei unterschiedlichem Zielpublikum und anderer Konfession anders macht und wo Gemeinsamkeiten zu entdecken sind. Kopp, Stefan (2011): Der liturgische Raum in der westlichen Tradition. Fragen und Standpunkte am Beginn des 21. Jahrhunderts. Zugl.: Graz, Diss., 2009. 1., Aufl. Münster Westf: LIT (Ästhetik - Theologie - Liturgik, 54). Stefan Kopp gliedert seine Arbeit in fünf Kapitel. Im ersten Kapitel (S. 9-16) skizziert er den Aufbau der Arbeit und sein Erkenntnisinteresse. Im 2. Kapitel und umfangreichsten Kapitel (S. 17-132) geht er der historischen Entwicklung des liturgischen Raumes von den Anfängen bis zum II. Vatikanum nach. Das dritte Kapitel (S. 133-146) fokussiert sich auf die Entwicklung des Kirchenraumes nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Das vierte Kapitel (S. 147-177) fragt nach dem liturgischen Raum im 21. Jahrhundert und das abschließende 5. Kapitel (S. 178-182) zieht ein Resümee. Der Hauptteil des Buches verfolgt die Entwicklung des liturgischen Raumes bzw. des Kirchenbaus durch die Jahrhunderte. Das ist gut zusammengestellt und geht von der aktuellen Forschungslage zu Duro Europos über die frühchristlichen Kirchen- und Bischofsbauten, die Romanik und Gotik bis zur Renaissance und dem Konzil von Trient. Von da aus geht es dann weiter bis zur Moderne. Liturgisch interessant wird es für Kopp natürlich mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und seinen Folgen für den katholischen Kirchenbau der Gegenwart. Er benennt herausragende Beispiele, aber auch die „Tendenz zu Sakralräumen“ seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Dem liturgischen Raum des 21. Jahrhunderts widmet sich das abschließende Kapitel und zeigt noch einmal die aufregenden Möglichkeiten und Entwicklungen der neuesten Zeit. Nicht ganz nachvollziehen kann ich die im Kapitel 4.2.3 vorgenommene Einbeziehung der Polemik von Heidemarie Seblatnig in den wissenschaftlichen Diskurs. Man könnte sie vielleicht ein Symptom nennen, an dem manches deutlich wird, aber ernst nehmen kann man ihre Argumentation nicht. Wer ernsthaft behauptet, die Veränderung der katholischen Räume seit dem II. Vatikanum sei ein Kompromissangebot an die Protestanten, die ihrerseits sich in dieser Frage nicht bewegt hätten, kann nun wirklich nicht für voll genommen werden. Das hat mit Wissenschaft wenig und mit blinder Ideologie sehr viel zu tun. Auch der Rekurs auf Mosebachs „Häresie der Formlosigkeit“ leuchtet mir nicht ein. Mir scheint Mosebach einer ästhetizistischen Argumentationslinie zu folgen, die seriös in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung wenig Platz hat, aber natürlich ihren feuilletonistischen Reiz hat. Zu kurz gekommen ist mir die Auseinandersetzung mit ökumenischen und interreligiösen Räumen. Da der Autor ja gerade „Fragen und Standpunkte am Beginn des 21. Jahrhunderts“ erörtern will, kommt man an den Konfessions- und religiösübergreifenden Raumkonzeptionen kaum vorbei. Diese Frage wird zumindest in Europa eine der spannendsten Fragen der nächsten Zeit sein gerade auch deshalb, weil noch so unklar ist, wie sie beantwortet werden könnte. Die Frage ist meines Erachtens auch nicht, ob wir ökumenische Kirchenräume schaffen können, sondern ob wir nicht interreligiöse Plätze erstellen sollten. Aber das könnte dann das Thema einer weiteren wissenschaftlichen Arbeit sein. Anmerkungen[1] Eine Ausnahme bilden Marc Redepenning und Benno Werlen, die in ihrem Beitrag feststellen: “Die raumbezogene Semantik der Kirche als sakraler Raum kann die heutigen spezifischen Tätigkeiten, die bereits in Kirchen anzutreffen sind oder die als Ansprüche an eine potentielle Nutzung der Bauten vorgeschlagen werden, nicht mehr abdecken.“ (S. 163) [2] Vgl. Verf. Und räumlich glaubet der Mensch. Der Glaube und seine Räume; in: Thomas Klie (Hg.), Der Religion Raum geben, Münster 1998, S. 51-76. M.E. war es Wolf Eckart Failing, der zuerst Foucaults Thesen für die religiöse Raumfrage fruchtbar gemacht hat: Failing, Wolf-Eckart (1998): Die eingeräumte Welt und die Transzendenzen Gottes. In: Wolf-Eckart Failing und Hans-Günter Heimbrock (Hg.): Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt - Alltagskultur - Religionspraxis. Stuttgart, Berlin: Kohlhammer, S. 91122, hier insbes. Punkt 5.2: Der ganz andere Raum: Michel Foucaults Theorem der Heterotopie. [3] Vgl. Meyer-Blanck, Michael (2002): Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik: CMZ. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/70/am348.htm
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