50 Jahre danach: Kunst und Kirche


Heft 71 | Home | Heft 1-70 | Newsletter | Impressum und Datenschutz

Gott oder Satan?

Kunst-Diskurse vor 1950. Teil I

Andreas Mertin

Wenn man wissen will, wie umwälzend die Zuwendung der Theologen nach 1955 zur autonomen Kunst war, muss man sich mit zwei Texten beschäftigen, die etwa zeitgleich entstanden sind, einem theologischen und einem kunsthistorischen. Der eine ist berühmt-berüchtigt mit einer Nachgeschichte bis in die Gegenwart: Hans Sedlmayrs „Verlust der Mitte“[1] aus dem Jahr 1948, basierend auf Vorlesungen aus den Jahren 1941 und 1944. Der andere ist zu Recht vergessen, es handelt sich um Leo Fremgens theologische Dissertation „Kunst und Schöpfung“ von 1940, publiziert 1942.[2]

Beiden Texten gemeinsam ist ihre reaktionäre Gesinnung und die Ablehnung der Gegenwart, d.h. der neuen Kunst, die für den einen der Naturalismus, für den anderen die gesamte Moderne ist. Beiden gemeinsam ist auch das Beharren auf einer metaphysischen Rahmensetzung, obwohl das zeitgeschichtlich mehr als 100 Jahre überholt war. Beiden gemeinsam ist aber auch der vielleicht letzte Versuch, sich nicht deskriptiv und wahrnehmend, sondern normativ der Kunst- und Kulturentwicklung zu nähern. Nicht die Frage Was passiert in der Kunst? berührt beide, sondern die Frage Warum sieht die Kunst nicht so aus, wie sie nach der vorgegebenen Ideologie aussehen müsste? Beide Texte operieren mit einem dezidiert religiösen Grundmodell, das Gott nicht nur als den Bezugspunkt aller Kultur sieht, sondern auch als normative, d.h. begrenzende Größe. Wie sich die Kunst und wie sich der Künstler zu Gott, zur Mitte stellt, entscheidet darüber, wie sie zu bewerten und einzuordnen sind. Kunst ist entweder gloria dei oder pompa diaboli kann Leo Fremgen sagen, während Hans Sedlmayr konstatiert, dass der moderne und das heißt autonome Mensch ein gestörtes Verhältnis zu Gott habe, da er in seiner Kunst nicht mehr Gott diene.

Nach dem Erscheinen von Sedlmayrs Schrift schrie das Betriebsystem Kunst in Deutschland auf, weil es befürchtete, dass sie „im Ausland stellvertretend für die deutsche Einstellung zur modernen Kultur“ (Werner Haftmann) wahrgenommen werden könnte. Bei den Kirchen ging es nicht ganz so heftig zu.


Fremgen, Leo (1942): Kunst und Schöpfung. Ethik der Kunst

Die „Ethik der Kunst“ von Leo Fremgen wurde 1940 von der Universität Erlangen als Dissertation angenommen. Sie umfasst 260 Seiten und gliedert sich in fünf Abschnitte:

I. Die Wirklichkeit der Kunst in der Schöpfung

II. Vom Wesen der Kunst

III. Kunst und Leben

IV. Vom Wesen der Kunstgattungen

V. Kunst und Kirche

Wir besitzen ja nicht so viele Zeugnisse von der Ideologie jener, die während des Nationalsozialismus kirchlicherseits für die Kunst verantwortlich waren. Dank der Studie von Hans Prolingheuer „Hitlers frommer Bilderstürmer“[3] wissen wir heute wenigstens, was die kirchlich Verantwortlichen praktisch alles verbrochen haben. Aber es gibt bisher wenige Auseinandersetzungen mit ihrer ideologischen Konstruktion.

Der Verfasser der hier behandelten Dissertation ist 1913 geboren und zur Zeit der Abgabe der Doktorarbeit 27 Jahre alt. Es ist die Zeit des beginnenden Krieges, zwischen Abgabe und Publikation der Arbeit liegt der erste Fronteinsatz des Autors. Während seines Studiums und während der Erstellung der Doktorarbeit herrscht in Deutschland bereits der Nationalsozialismus.

Man kann nun anhand der Arbeit gut studieren, wie Fremgen ausgehend von theologischen Sätzen sich immer mehr der nazistischen Ideologie annähert, ohne diese freilich direkt beim Namen zu nennen. Vor allem im Abschnitt über das „Wesen der Kunst“ und hier im Kapitel über „Kunst und Volk“ wird die schleichende Angleichung deutlich. Systematisch-theologisch gibt es keinen Grund, über das „Völkische“ der Kunst positive Sätze abzugeben. Fremgen sieht das anders:

„Da sich die völkische Eigenart vornehmlich in der Verschiedenheit seelischen Empfindens und Ausdrucksvermögens kundgibt, da die Seele die Geburtsstätte der Kunst ist, so kann Kunst immer nur im Bezug auf das Volk, das sie hervorbrachte, recht beurteilt werden ... Damit verneinen wir eine schlechthinnige Internationalität der Kunst.“[4]

Und auch für das Kunstverstehen bringt Fremgen „völkische“ Gesichtspunkte zum Tragen – bis dahin, dass er sich zustimmend auf  Richard Eichenauers „Musik und Rasse“[5] bezieht. Alles dreht sich darum, dass die „große völkische Kunst Dienerin sein will und muß am nationalen Aufbau und Werk.“[6] Und dann geht er unmittelbar über in die Sprache der nazistischen Propaganda:

„Wahrhafte Kunst behauptet sich gegen alle Entartung, gegen jeden, allem Wertbetonten feindseligen Zerfall. Entartete Kunst hilft mit an der Zersetzung der Volksseele und des Reichsgedankens. Alle wahrhaften Meister und Kunstliebenden dagegen, … erhoffen zusammen mit allen echten Patrioten, dass aus dem Zerfall bald eine neue Zeit erstehe, darin wieder rechte Erben eine wahrhaft wertvolle überkommene Kunst weiterpflegen und im Geiste künstlerischer Ahnen gute neue Kunst schaffen können.“[7]

Konsequent kann Fremgen daher von „priesterlich deutscher Kunst“ reden, die alle „Zersetzung“ von sich weist.[8] Ein Leser des Jahres 1942 wusste natürlich sofort, wer und was gemeint war.[9]

Zur theologischen Konstruktion

Im Gegensatz zu allen von Immanuel Kant ausgehenden Ästhetiken kann sich Fremgen mit einer Kunst des interesselosen Wohlgefallens nicht abfinden. Diese erweise sich als ethisch uninteressiert und gefährlich. Ausgehen müsse man von einer potentiellen „Dämonie in der Schöpfungswelt“.[10]

Die grundsätzliche Konstruktion, die Fremgen im ersten Abschnitt entwirft ist die, dass zunächst alles der Schöpfungstheologie als petitio principii unterworfen wird. Zwar muss Fremgen anerkennen, dass es genügend Menschen gibt, die diese Prämisse nicht anerkennen, für den glaubenden Menschen aber bleibt nur die Anerkenntnis des „Seinsakkords der Schöpfung: Schöpfer – Geschöpf – Tat des Geschöpfs vor dem Schöpfer“.[11] Nur scheinbar kann man dieser Beschreibung zustimmen, denn die Folgerung, die Fremgen daraus zieht, lautet sofort: Wenn man diesen Glaubenssatz nicht anerkennt, dann ist man „ein Werkzeug der satanischen Empörung gegen Gott“.[12] Oder kurz später mit Bezug auf Kierkegaard: „Entweder unverantwortliches Spiel im Ästhetischen, das in Tragik enden muß, Oder gottverbundene Kunstentfaltung, die auf dieser Erde bestehen kann, weil sie die Erde total nimmt dadurch, dass sie den Menschen aus der Krisis des Zwie-spaltes herausführt zum Glauben.“[13] Tertium non datur. Deshalb kann eine Kunst, die „nur“ zeigt, was ist, nicht vor dem theologischen Auge bestehen.

Das Geschöpf hat die Entscheidung zwischen „gloria dei oder pompa diaboli“. Und der Unterschied zwischen beidem ist nur minimal: „Gottesdienst ist Gottbejahung und Bejahung seiner Schöpfung“, „Satansdienst ist Gottverneinung und Weltbejahung“.[14] So gesehen ist die theologische Ethik der Kunst auch wieder ganz einfach, teilt sich die Welt doch simpel in die Kunst, die für Gott ist und alle andere Kunst, die dann eben infernal und dämonisch ist.

Diese simplifizierende Denkfigur lässt sich in den religiösen Kunstdiskussionen bis in die Gegenwart verfolgen. Zum Kriterium aller Kunst wird so das „soli gloria dei", aber noch viel dramatischer die Verwerfung aller Kunst, die dem angeblich oder wirklich nicht dient. „Damit stellt sich die theologisch-ethische Behandlung der Kunst dar als totale Bejahung des Eigenwesens und Mittel-Charakters der Kunst innerhalb der Grenzen ihrer relativen Mächtigkeit und Selbstzwecklichkeit“.[15] Von der Freiheit der Kunst kann dabei keine Rede mehr sein.

Aus dem Ausgeführten ergeben sich nun für Fremgen ästhetische Konsequenzen, die weitgehend in die Konstruktion des Kunstwerks eingreifen. So weist er alle Hervorhebung der Form ab: „Nie kann für eine ernsthafte Ästhetik … die Form die Hälfte der Verantwortung für das Gesagte abnehmen!“[16] Alle Verantwortung trägt die Idee: „Damit ist der Vorzug der Ideen-Kunst gegenüber der Form-Kunst behauptet, und zwar als gottgegebener Auftrag für die Veranschaulichung des Großen und Reinen (Idee) im gestalteten Schönen und Keuschen (Werk).“[17]

Das führt bruchlos über zur Verklärung des Schönen als dem zentralen Wesen der Kunst. „Aufgabe der Kunstethik ist es, die heimliche Theodicee, die in der zu Gott weisenden Schönheit verborgen ist, ins Licht der Offenbarung zu rücken.“[18] Wo Künstler das nicht einsehen wollen, gilt es, „den Künstler wie alle Menschen zu einem gottnahen Lebensbekenntnis zu weisen.“[19] Von dieser Bestimmung aus ergibt sich dann auch das Hässliche: „hässlich ist jenes Nein zur Schönheit, das als Negation der von Gott gewollten Art der Ideen verstanden wird.“[20]

Damit ist der instrumentelle Charakter der Kunst auch gleich klar benannt. Alle Kunst dient nur, sie ist nicht nur Selbstzweck, nicht Ästhetizismus bzw. l’art pour l’art, sondern sie muss sich unterordnen, muss beherrscht werden.

Klar wird damit, dass für Fremgen alle Kunst nach der Aufklärung, dass alle Kunst, die sich an der Autonomie orientiert, abgewiesen werden muss. Kann er schon mit den ästhetischen Bestimmungen Immanuel Kants zum interesselosen Wohlgefallen wenig anfangen, bekommt er spätestens bei der romantischen Grenzüberschreitung von der Kunst auf die Religion Probleme. Denn die romantische Kunst ist eben keine dienende Kunst mehr, sondern steht für ihn in der Gefahr, selbst als Religion aufzutreten. Deshalb tritt bei Fremgen neben das Ja zur romantischen Kunst auch ein Nein.[21]

Spätestens nachromantisch wird dann aber eine klare Grenze gezogen. Jeglicher Naturalismus ist nur noch Auflösungserscheinung, ja „Auflösungskunst“. Naturalismus ist für ihn verknüpft mit dem materialistischen Geist, mit einem „zersetzenden Geist, der, bis zum Nihilismus gesteigert, sich erkühnte, eine Neuordnung des Daseins ohne die kulturelle Hilfe der christlichen Religion heraufführen zu wollen.“[22]

Wenn man bedenkt, dass der Naturalismus um 1840 beginnt, dass die Hauptvertreter des malerischen Naturalismus in der Mitte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstorben sind, dass die Vertreter des literarischen Naturalismus ihren Höhepunkt im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hatten, dann wird deutlich, wie wenig Fremgen mit der kulturellen Entwicklung seiner Zeit zu tun hatte. Muss man extra hervorheben, dass mit dem Naturalismus bzw. Realismus zwar die Moderne beginnt, die zentralen Bewegungen aber dann doch Impressionismus, Jugendstil, Fauvismus, Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Dadaismus, Surrealismus, abstrakte Kunst und Neue Sachlichkeit sind? Von all dem keine Spur in der theologischen Reflexion der Kunst bei Fremgen. Es ist, als ob sein Denken mit den Nazarenern aufgehört hätte.

Aber einige Künstler nennt Fremgen dann doch: Pfitzner, Schäfer, Schroeder seien echte deutsche Künstler, die geradezu zeitlose Werke schufen.[23] Ich vermute einmal, er meint den anti-modernistischen Komponisten Hans Pfitzner, den Kirchenmaler Rudolf Schäfer und den Schriftsteller und Kirchenlieddichter Rudolf Alexander Schröder. Alle drei stehen in der Tradition der Wiederaufnahme der Romantik, Pfitzner und Schäfer auch unter deutlich konservativen Vorzeichen. Nur Rudolf Alexander Schröder fällt etwas aus der Liste heraus. Mit den großen kulturellen Bewegungen ihrer Zeit haben aber zumindest Pfitzner und Schäfer nichts zu tun.

Fremgen schließt seine Ethik der Kunst mit einigen interessanten Appellen. So grenzt er sich ab von fremdländischer Kunst, vom Ästhetizismus, von jeder Anschauung, die „den ethischen Untergrund aller Kunst, die Religion, verachtet“. Im Augenblick sieht er nur „ungesunde, volksfremde Dekadenz“. Und er fährt fort mit Sätzen, die bis heute gut vertraut sind: „Es ist um die Gesamtkultur eines Volkes schlecht bestellt, wenn die Dome und Kirchen seines Landes zu Museen geworden sind, wohin nur noch der Ästhetizismus, nicht aber mehr die Andacht versammelt“.[24] Seine Hoffnung lautet daher: Wiederherstellung der Einheit von Glaube und Kunst.[25]

Kulturprotestantismus?

Hans-Eckehard Bahr[26] und ihm in jüngster Zeit nachfolgend Frank Hiddemann[27] haben Leo Fremgen als lutherischen Kulturprotestanten par excellence kategorisiert, ohne freilich dessen nationalsozialistische Grundierung bzw. Camouflage direkt anzusprechen und einzuordnen.

Ich kann der Zuordnung Leo Fremgens zum Kulturprotestantismus nicht folgen. Sie ist nicht nur aus zeitgeschichtlichen Gründen unwahrscheinlich (1940 spielte der Kulturprotestantismus in Deutschland theologisch kaum eine Rolle mehr), sondern auch deshalb, weil der theologische Aufbau der Dissertation von Fremgen ja gerade eine wirkliche Gleichberechtigung von Kunst und Religion ausschließt, geschweige denn den Gedanken einer religiösen Vervollkommnung in und mit der Kultur zuließe. Wahre Kunst ist für Fremgen immer nur denkbar im theologischen System – oder es ist eben satanische Kunst. Hier ist Fremgen ganz der theologischen Lehre von Paul Althaus verpflichtet. Kunst gehört demnach zur Schöpfungsordnung Gottes, aber nur insoweit, als der Künstler und sein Werk sich auch dazu bekennen.

Was aber die Kategorisierung Kulturprotestantismus definitiv ausschließt, ist der Umstand, dass sich Fremgen selbst explizit gegen diesen wendet (ohne freilich das Wort ‚Kulturprotestantismus’ zu verwenden): „Schöpfungsglaube heißt: Ende des Kulturoptimismus“[28]. Genauer: „Nur in einem gesunden und geordneten Gottesverhältnis aber kann die Kunst bestehen.“[29] Die Kunst ist immer sekundär gegenüber der zu treffenden Entscheidung gegenüber Gott:

„Eine Kunst ohne Gottesbejahung, die nicht der Weltfestlichkeit in Christo dienen will, kann keine heilige Kunst sein … Künstlerisches Schaffen und Leben empfängt seine Heiligkeit nicht von einem gottfernen Kunstenthusiasmus, sondern nur in der Bejahung des Heiligen.“[30]

Das ist weit entfernt von einem kulturellen Fortschrittsglauben, der die kulturelle Entwicklung Hand in Hand mit der religiösen Entwicklung sieht: „Keine Kulturteleologie, die sich nicht vom Schöpfungsglauben und seiner Eschatologie her korrigieren ließe, kann die Entfaltung des Schöpfungslebens verstehen.“[31] Ganz deutlich dann noch einmal später: „Es bedeutet Überforderung der Kunst durch den Menschen, von ihr das zu erwarten, was einzig die Re-ligion schenken kann“.[32] Freilich kann die Kunst als „Begleiterin des Menschen auf seinem religiösen Wege zur ethischen Vervollkommnung dienen“.[33] Dabei ist aber die Religion das Ziel der Kunst, die allenfalls als Mittel dienen kann.

Was immer man unter dem bis heute unpräzisen Begriff „Kulturprotestantismus“ für die theologische Haltung zwischen 1860 und 1918 in der Sache verstanden hat, Fremgens Bestimmung gehört meines Erachtens nicht dazu. Er will die Kultur und hier vor allem die Kunst an das theologische Modell anpassen und der Theologie unterwerfen. Es ist ein Rollback und er sucht keinesfalls eine „Erneuerung der protestantischen Kirche im Geiste evangelischer Freiheit und dem Einklang mit der gesamten Kulturentwicklung unserer Zeit.“[34] Man wird daher für die Bestimmung der kulturprotestantischen Haltung zur Kunst andere, vor allem ältere Quellen zurückgreifen müssen. Fremgen ist über die Theologie von Paul Althaus mit all ihren Ambivalenzen und Gefährdungen eher zu verstehen als über das Etikett „Kulturprotestantismus“.  


Hans Sedlmayr (1948): Verlust der Mitte

Nun hätte man denken können, dass mit dem Untergang des Nationalsozialismus auch das damit affizierte Gedankengut seine Basis und seinen Einfluss verlieren würde. Das ist in der Kunst selbst auch rasch geschehen, hier wurde die durch die Zeit des „Dritten Reiches“ gewaltsam unterbrochene Kulturentwicklung rasch nachgeholt, indem man durchbuchstabierte, was außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches sich an Kunst entwickelt hatte (also insbesondere das Informell). Anders war das im Bereich der Kunsttheorie und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Moderne. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir heutzutage etwa Pablo Picasso zu den Großen der Kunst zählen, existierte in der Nachkriegszeit nicht. Bis weit in die 60er-Jahre war der Name Picasso immer noch ein Schimpfwort und die Gesellschaft nicht in der künstlerischen Moderne angekommen. Kunsttheoretische Positionen, die daher mit der Moderne abrechneten, konnten daher auf ein interessiertes Publikum zählen.

1948 erscheint Sedlmayrs Buch und unbestritten ist es moderner und konziser als die Arbeit von Leo Fremgen. Während dieser nebulös schwafelt und niemals wirklich konkret wird, zielt Sedlmayr präzise auf die Kunst der Gegenwart. Und dennoch gibt es – ganz abgesehen von der metaphysischen Rahmensetzung – frappierende Ähnlichkeiten. Wie Fremgen geht es auch Sedlmayr um die Abwehr des Materialismus, wie dieser polemisiert er gegen den Ästhetizismus, wie dieser wendet er sich gegen einen nur künstlerischen Maßstab in der Bewertung der Kunst.

Und wie Fremgen kann auch Sedlmayr unbefangen von einer diabolischen oder nihilistischen Kunst[35] sprechen, noch lieber nennt er es: die unmenschliche bzw. außermenschliche Kunst. Und natürlich findet sich bei Sedlmayr wie bei Fremgen auch der Begriff der entarteten Kunst: „verheerend und innerlichst entartet der kalte Zynismus Grosz’scher Lithograpien“.[36]

Stärker als bei Fremgen spielt bei Sedlmayr die durchgehende Kontrastierung von Krankem und Gesundem eine Rolle, nicht umsonst spricht der Untertitel von der Kunst als einem Symptom ihrer Zeit. Eigentlich ist das ganze Buch eine einzige Krankheits-Diagnose, der eine vereinfachte Therapie entgegengehalten wird: „Das Bild des Menschen und Gottes im Menschen, mag es uns auch entstellt erscheinen, muss durch die Wirbel des Zeitstroms hindurchgetragen werden im Vertrauen darauf, dass es sich dabei verwandeln und erneuern wird.“[37] Nur so, in der Hinwendung zur Mitte, sei Heilung möglich.

Zur ideologischen Konstruktion

Im 15. Kapitel des Buches (217-228) fasst Sedlmayr die Konstruktion seiner Überlegungen zur Entwicklung der abendländischen Kultur zusammen. Danach ist die moderne Kunst das vierte Zeitalter einer Geschichte vom 6. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

1. Zeitalter: Gott-Herrscher

Vorromanik u. Romanik

(0550-1150)

2. Zeitalter: Gott m e n s c h

Gotik

(1140-1470)

3. Zeitalter: G o t t -Mensch und ’göttlicher Mensch’

Renaissance u. Barock

(1470-1760)

4. Zeitalter: Autonomer Mensch

Moderne

(1760-?)

                                       

Beat Wyss fasst in seinem Buch „Trauer der Vollendung“ die Argumentation so zusammen: Nach Sedlmayr „umfasst die abendländische Geschichte vier Zeitalter; sie vergegenwärtigen Gott in je verschiedener Gestalt.

  • In der Epoche der Romanik tritt der «Gott-Herrscher» auf: als Vater und strenger Weltenrichter thront ER über dem Portal finsterer Kathedralen. Ihn umgeben apokalyptische Wesen, geschaffen, den Menschen an den Jüngsten Tag zu erinnern. Bis ins Mittelschiff dringen die Gelächter von äffenden Teufeln und Greifsgestalten, zur Versuchung gläubiger Andacht.
  • In der Gotik heitert sich der Himmel auf: der «Gottmensch» erscheint. Ihm zur Seite stehen Maria, ‘unsere liebe Frau’, und die Heiligen. Die Natur wird darstellungswürdig als Abbild der Allmacht, Weisheit und Güte ihres Schöpfers. Die Kunst rundet sich zum wirklichen, greifbaren Raum; sie überwindet die Fläche, in welcher die Romanik ihre stummen Zeichen eingrub. Das Übermenschliche erfreut sich der sinnlichen Gestalt. Von Giotto bis van Eyck schärft sich die Beobachtung für die Natur des Sichtbaren. Die Malerei bereitet ein Fest: die Epiphanie der Dinge.
  • Hat sich die Gotik nicht gescheut, die Vermenschlichung Gottes zu steigern bis zur Erbärmlichkeit des leidenden Menschenwurms, ermannt sich das dritte Zeitalter zum Erhabenen. In der Renaissance und im Barock wird Gott als «Gottmensch» und «göttlicher Mensch» offenbar. Der triumphierende Christus steigt auf in die Wolken, welche die Decke des feudalen Prunksaals durchstößt. Seine rauschende Himmelfahrt rechtfertigt die Herrschaft der Mächtigen auf der Erde. Der im Fleisch auferstandene Himmelsfürst gleicht dem olympischen Apoll; die leibliche Schönheit der Antike hat sich mit dem Geist des Christentums vereinigt. Der Künstler selber ist von heroischer Statur: Typus des uomo universale, «der mit Leonardo da Vinci erscheint und mit Goethe endet».
  • Mit der französischen Revolution beginnt das vierte Zeitalter. Die Vermittlung zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre zerbricht. Der Mensch erklärt sich «autonom», indem er Gott leugnet und ersetzt «durch neue Götter und Götzen». Damit verliert die Kunst ihren zentralen Halt; der Zerfall der abendländischen Kultur ist die unausweichliche Folge.“[38]

Es ist bestechend, wenn man feststellt, wie aktuell in einem gewissen Sinne diese Ideologie immer noch ist. Selbstverständlich wurde die Sprache zwischenzeitlich „gesäubert“, man spricht nicht mehr von entarteter Kunst, nicht mehr von unter- oder außermenschlicher Kunst, aber das Grundgerüst ist geblieben. Autonome Kunst, Kunst in der Folge der europäischen Aufklärung ist gottlose Kunst. Wenn man den „Appell an Seine Heiligkeit Papst Benedikt XVI – Für eine Rückkehr zu einer wirklich katholischen sakralen Kunst“[39] aus dem Jahr 2009 liest, könnte man meinen, die Zeit sei einfach stehen geblieben. Zwar beziehen sich die Verfasser nur auf die so genannte sakrale Kunst, aber die ideologische Konstruktion einer metaphysischen Rahmensetzung der Kunst teilen sie uneingeschränkt. Analoges gilt für die Ausführungen von Kardinal Brandmüller über „Kunst – Kult – Kirche“.[40]

Sedlmayr selbst fasst seine Diagnose so zusammen:

„Es fehlt die Vermittlung zwischen Gott und den Menschen, die es in irgendeiner Form immer gegeben hat, seit es Menschen gibt — der Glaube an den Menschen als Ebenbild Gottes, ohne welchen die Idee des Menschen nicht festgehalten werden kann. Deshalb ist die Störung auch eine einzigartige, für die es keine historische Analogie gibt. … Es ist nun offenbar so, daß dieses Auseinanderhalten dem Wesen des Menschen (und Gottes) widerspricht und durchgeführt zu einem Absturz des Menschen ins Untermenschliche führen muß, auch wenn das ursprünglich nicht gemeint war. Dem 19. und 20. Jahrhundert scheint es auferlegt zu sein, die Falschheit der Annahme vom autonomen Menschen in einem ungeheuren historischen Experiment unter entsetzlichen Leiden zu demonstrieren und zu widerlegen. Denn der Ausgang des Experiments, der heute schon sichtbar ist, kann nur so verstanden werden, daß es den autonomen Menschen nicht gibt und nicht geben kann. So wenig wie die autonome Kunst, Architektur, Malerei usw. Es gehört zum Wesen des Menschen, Natur und Übernatur zu sein. Menschliches und Göttliches in ihm lassen sich nicht ohne Schaden für das Menschliche trennen. Der Mensch ist Vollmensch nur als Träger des göttlichen Geistes. So gesehen wäre die Störung, die wir als „Verlust der Mitte" gekennzeichnet haben, eben in der wesensunmöglichen Trennung des Göttlichen und Menschlichen im Menschen zu suchen, in dem Auseinanderreißen von Gott und Mensch und im Verlust des Mittlers zwischen Mensch und Gott, dem Gottmenschen. Die verlorene Mitte des Menschen ist eben Gott: der innerste Kern der Krankheit ist das gestörte Gottesverhältnis.“[41]

Und zusammenfassend beschreibt er den Verlauf der „Störung“ so:

  • „Der Mensch strebt nach Autonomie, nach Purheit des Göttlichen und Purheit des Menschlichen.
  • In der Idee, daß Gott nicht nach Analogie des Menschen gedacht werden dürfe, liegt schon beschlossen die Leugnung der Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen, liegt schon implizit, nur zunächst noch nicht erkennbar und wirksam, eine Herabsetzung des Menschen.
  • Das Verhältnis Mensch—Gott wird „überspannt", die Verbindung reißt.
  • Die Gottheit wird identisch mit dem All und verrinnt ins All.
  • Der Mensch verliert den Zusammenhang mit Gott (allmählicher Verlust der „Kommunion", des Opfers, des Gebets; vom Gebet bleibt zunächst noch der Hymnus, das Preisgebet).
  • Er verschließt sich sozusagen nach oben und öffnet sich nach den Seiten grenzenlos dem All (Symbol des „Perrons"). Doch auch das All weist ihn als das Unfühlbare, ganz andere ab.
  • Die Natur und die Geschichte entfremden sich dem Menschen, sie vertoten. Dies ist der Preis, den der Mensch für ihre vollendete Beherrschbarkeit zahlt. Der Mensch vereinsamt in der Natur. Er wird zurückgewiesen auf sich selbst. In seinem Selbst zu verharren ist aber schon Wahnsinn, schon „Hölle". „Die Hölle besteht darin, daß der Mensch auf seine Einsamkeit nicht verzichten will." In sich isoliert, verliert er den Zusammenhang mit der Gemeinschaft; er wird „atomisiert". …
  • Alles in Allem: wie für die Kunst und für die Künste ist auch für den Menschen die Proklamation der Autonomie das Vorspiel zum Verlust des Wesens.“[42]

Es verwundert schon, wenn man das aus der Feder eines Kunsthistorikers liest. Und doch spiegelt sich darin eine Diskussionslage wider, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland intensiv geführt wurde. Letztlich – darin kann man Beat Wyss folgen – liegt der Erfolg von Sedlmayr darin begründet, dass es ihm gelingt „die Nazizeit unbewusst zu machen“[43], ja noch die Kunst als für die Katastrophe verantwortlich zu denunzieren.

Dass das funktioniert hat, kann man an zahlreichen religiös-konservativen Schriften der damaligen Zeit ablesen. Max Picard etwa folgt Sedlmayr in seiner Schrift „Die Atomisierung in der modernen Kunst“[44] in Beschreibung, Diagnose und Therapie: „Wie also kann der Mensch wieder ganz werden, dass er das Ganze malen kann? Nur wenn der Mensch das Christentum zur Mitte seines Wesens macht, ist das möglich.“[45]


Ich glaube, damit ist andeutungsweise klar geworden, vor welcher Herausforderung jene Theologen standen, die dann in den 50er- und 60er-Jahren das Verhältnis zur Kunst ganz anders bestimmten, indem sie radikal Christus als „die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität“[46] deuteten und daraus die Konsequenzen zogen. Das war keineswegs selbstverständlich oder eine konsequente Fortentwicklung des zuvor Gedachten, sondern es war ein radikaler Bruch, der aufräumte mit allen Vereinnahmungs- und Rückholungsstrategien. Zugleich ging dieser Schnitt von Theologen aus, die dies biblisch und theologisch begründeten, die nicht einfach nur kulturprotestantisch im Einklang mit der gesamten Kulturentwicklung ihrer Zeit zu leben gedachten, sondern gut dialektisch-theologisch den kulturellen Sphären ihren Eigensinn belassen wollten. Zudem treffen wir mit Kurt Lüthi[47] und Kurt Marti zum ersten Mal auf Theologen, die aus einem tiefen Verständnis der Kunst ihrer Zeit heraus argumentieren, die dezidiert darauf hören wollen, was die Künste und die Künstler ihnen zu sagen haben. Zwar finden wir die Voraussetzungen ihres Denkens auch schon in Äußerungen von Karl Barth und Paul Tillich aus den 20er-Jahren, aber in der Konsequenz und Ausführlichkeit bleibt es Marti und Lüthi vorbehalten, das neue Verhältnis zur autonomen Kunst grundlegend zu bestimmen.

Anmerkungen

[1]    Sedlmayr, Hans (1948): Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. [1. Aufl.]. Salzburg: Müller.

[2]    Fremgen, Leo (1942): Kunst und Schöpfung. Ethik der Kunst. Gütersloh: Bertelsmann.

[3]    Prolingheuer, Hans (2001): Hitlers fromme Bilderstürmer. Kirche & Kunst unterm Hakenkreuz: Dittrich, Berlin.

[4]    Fremgen, Leo (1942): Kunst und Schöpfung, S. 52.

[5]    Richard Eichenauer (1932): Musik und Rasse, München.

[6]    Fremgen, Leo (1942): Kunst und Schöpfung, S. 56.

[7]    Ebd., S. 57.

[8]    Ebd., S. 59.

[9]    Er muss nicht erst bis Seite 171 vordringen, um zu wissen, wen Fremgen meint: „Es ist für den Christen tiefer Schmerz, zu sehen, wie sich der trotzige Menschengeist geradezu in universal-jüdischer Weise immer wieder epochen- und raumweise der Erlösungsbotschaft verschließt.“

[10]   Ebd., S. 64.

[11]   Ebd., S. 5f.

[12]   Ebd., S. 30.

[13]   Ebd., S. 33.

[14]   Ebd., S. 38.

[15]   Ebd., S. 52.

[16]   Ebd., S. 75.

[17]   Ebd. 76.

[18]   Ebd., S. 79.

[19]   Ebd. S. 80.

[20]   Ebd. S. 82.

[21]   Ebd. S. 240ff.

[22]   Ebd., S. 244.

[23]   Ebd., S. 247.

[24]   Ebd. S. 253.

[25]   Ebd., S. 255.

[26]   Bahr, Hans-Eckehard (1961): Poiesis. Theologische Untersuchung der Kunst. Stuttgart: Ev. Verlagswerk.

[27]   Hiddemann, Frank (2007): Site-specific Art im Kirchenraum. Eine Praxistheorie. Berlin: Frank & Timme.

[28]   Fremgen, Leo (1942): Kunst und Schöpfung, S. 29.

[29]   Ebd., S. 35.

[30]   Ebd.,  S. 41.

[31]   Ebd., S. 46f.

[32]   Ebd. S. 151.

[33]   Ebd. S. 152.

[34]   Der allgemeine deutsche Protestantenverein in seinen Statuten, den Ansprachen seines engeren, weitern und geschäftsführenden Ausschusses und den Thesen seiner Hauptversammlungen 1865–1888. Berlin 1889, S. 1

[35]   Sedlmayr, Hans (1948): Verlust der Mitte, im Weiteren nach folgender Ausgabe zitiert: Sedlmayr, Hans (1991): Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Ungekürzte Ausg. nach der 10. Aufl. 1983 der Orig.-Ausg., 17. Aufl. Frankfurt/M, Berlin: Ullstein. S. 211

[36]   Ebd., S. 213.

[37]   Ebd., S. 208.

[38]   Wyss, Beat (1985): Trauer der Vollendung. Von der Ästhetik des Deutschen Idealismus zur Kulturkritik an der Moderne. München: Matthes u. Seitz (Debatte, 14). S. 265-277. hier S. 269f.

[39]   http://www.appelloalpapa.blogspot.com/

[40]   http://www.zenit.org/article-19130?l=german

[41]   Sedlmayr, Hans (1991): Verlust der Mitte, S. 170

[42]   Ebd., S. 171.

[43]   Wyss, Beat (1985): Trauer der Vollendung, S. 266.

[44]   Picard, Max (1954): Die Atomisierung in der modernen Kunst. Hamburg: Furche-Verl (Furche-Bücherei, 99).

[45]   Ebd., S. 44.

[46]   Marti, Kurt (1958): Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität. In: Evangelische Theologie (8), S. 371–375.

[47]   Lüthi, Kurt (1963): Moderne Malerei. In: Kurt Marti, Kurt Lüthi und Kurt von Fischer (Hg.): Moderne Literatur, Malerei und Musik. Drei Entwürfe zu einer Begegnung zwischen Glaube und Kunst. Zürich: Flamberg, S. 169–332.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/71/am350.htm
© Andreas Mertin, 2011