50 Jahre danach: Kunst und Kirche


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Himmelsstürmer 2011

Begegnungen

Andreas Mertin

Es ist in der Ausstellungsgeschichte von Kunst und Kirche eher seltener der Fall, dass freie Künstler von sich aus auf die Kirche zugehen und eine gelungene Ausstellungskonzeption unterbreiten und die Ausstellung dann auch tatsächlich realisiert wird. Selbstverständlich gibt es eine Fülle von Einzelausstellungen mehr oder weniger guter Künstler in Kirchen – das ist inzwischen fast schon inflationär geworden. Aber Ausstellungen, die in der Genese von den Künstlerinnen und Künstlern angegangen wurden und die Erkenntnisprozesse über das Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und religiösem Raum produziert haben sind rar. Im Jahr 1993 gab es gleich zwei dieser Ausstellungen, die ich in diesem Sinne für gelungen halte. Zum einen die Ausstellung GEGENBILDER in Münster, zum anderen die Ausstellung KIRCHGÄNGE in Landau.

Die Ausstellung GEGENBILDER[1] zeigte in vier der klassischen Kirchen der Stadt Münster zeitgenössische Kunst und die Liste der beteiligten Künstler war illuster: Norbert Rademacher, Mischa Kuball, Marlene Dumas, Tony Cragg, Stephan Balkenhol, Mathilde Cujpers und viele andere mehr. Wann immer ich mit kirchlichen Vertretern über in Aussicht genommene Ausstellungen spreche, verweise ich auf dieses gelungene Beispiel. Erich Franz, seinerzeit Referent für das 20. Jahrhundert am Westfälischen Landesmuseum Münster, eröffnete die Ausstellung am 22.08.1993 mit einem Paukenschlag:

„Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Verhältnis zwischen Kirche und Kunst könnte gar nicht schlechter sein. Für jemanden, der die Kunst liebt, nicht nur die moderne, sondern gerade auch die ältere, und der auch deshalb gerne in die Kirche – und in die Kirchen – geht, ist das, was er an neuerer Kunst dort sieht, was ihm unweigerlich und aufdringlich ins Auge springt, erschreckend und peinlich … Das Unbehagen, der Ärger über diese Beschränktheit des bildnerischen Denkens im Raum der Kirche war denn auch der eigentliche Anlass zu dieser Ausstellung.“[2]

Anhand der Kunst – genauer: mit der Kunst in der Hand[3] – wanderte man von Kirche zu Kirche, immer auf der Suche nach Wahrnehmungen und Wahrnehmungsirritationen. Wenn auch einige der ausgestellten Werke leicht zu identifizieren waren, so glichen sich andere ihrem Kontext so mimetisch an, dass es nicht leicht war, sie als Werke der zeitgenössischen Kunst und als künstlerische Interventionen in den religiösen Raum wahrzunehmen.

Die zeitgleich stattfindende Ausstellung KIRCHGÄNGE[4] im deutschen Südwesten war auf Initiative der Künstlerin Madeleine Dietz entstanden und platzierte zahlreiche Kunstwerke in elf verschiedenen Kirchen. Beteiligt waren u.a. Franz Bernhard, Eberhard Eckerle, Robert Schad, Valerie Sass, Erwin Wortelkamp. Und auch hier klangen die Worte zur Eröffnung durchaus ähnlich, denn die Kunsthistorikerin Ulrike Rein führte aus:

„Kunst oder Kirche. Denn die Kunst hat schon lange keine Heimstatt mehr in der Kirche. Beide haben sich weit voneinander entfernt, beide verstehen einander nicht mehr ohne weiteres, beide aber wollen den Menschen auf etwas verweisen, was nicht Ware ist, sondern eine Wahrnehmung des Lebendigen.“[5]

In dieser Ausstellung waren die Interventionen direkter und wahrnehmbarer, zugleich habe ich den Eindruck, dass sich die ausstellenden Künstlerinnen und Künstler stärker auf den Kontext einließen.

Herausragend waren beide Ausstellungen, die ja offenkundig auf ein Desiderat in der Beziehung von Kunst und Kirche reagierten. Und so stellt sich die Frage, wie denn heute, knapp 20 Jahre später, die Situation aussieht und was man heute zur Eröffnung sagen müsste?

Vom 13. Juni bis zum 28. August wird in Braunschweig die Ausstellung HIMMELSSTÜRMER 2011 zu sehen sein, die auf ähnliche Weise entstanden ist, wie die beiden gerade geschilderten Ausstellungen, nämlich so, dass die Initiative von freien Künstlerinnen und Künstlern bzw. vom Bund Bildender Künstlerinnen und Künstler in Braunschweig ausgegangen ist.

Heute ist die Situation insofern eine andere als vor 20 Jahren, als man nicht mehr ganz so überrascht ist, überhaupt zeitgenössische Kunst in Kirchengebäuden vorzufinden. Als ich Mitte April durch die mittelalterlichen Kirchen Braunschweigs wanderte, war für mich durchaus spürbar, dass Braunschweig eben auch eine Hochschule für Bildende Künste hat. So wunderten mich die Skulpturen von Emil Cimiotti im Dom St. Blasius nicht und auch nicht das zufällig gerade dort präsentierte Braunschweiger Abendmahl von Ben Willikens in der Martinikirche. Trotzdem ist der Wunsch nach einer Kooperation zwischen zeitgenössischer Kunst und Kirchengemeinden immer noch die Ausnahme – auch wenn es in Zeiten der Postmoderne (und das heißt in Zeiten des selbstverständlichen Neben- und Miteinanders verschiedener Diskurse) eigentlich viel einfacher ist, miteinander ins Gespräch zu kommen als in Zeiten der Moderne, in der man sich noch kämpferisch voneinander abgesetzt hatte.

Eigentlich könnte bei jeder größeren Ausstellung zeitgenössischer Kunst, aber auch bei jeder normalen Ausstellung etwa eines BBK ein oder mehrere Objekte ausstellender Künstler in einer oder mehreren Kirchen ausgestellt und damit einer größeren Öffentlichkeit in einem besonderen Kontext zugänglich gemacht werden. Wenn Dietrich Bonhoeffer recht hat mit seinem Satz, dass der Umgang mit der Kultur in der Kirche darüber Auskunft gibt, wie viel Spielraum der Freiheit in ihr vorhanden ist, dann ist es geradezu ein Bewährungsfall, wie viele derartiger Crossover zustande kommen.

In Braunschweig hatte man ein mehrstufiges Auswahl- und Realisierungsverfahren gewählt, an dessen Ende dann in neun Kirchen zehn künstlerische Interventionen zu Stande kamen. Die Interventionen reichen von der ironischen Infragestellung über die symbolische Öffnung und die kulturhermeneutische Fragestellung bis zur künstlerischen Zeichenhandlung. Die beteiligten Künstlerinnen und Künstler machen zunächst einmal natürlich Kunst, keine Gebrauchskunst, keine funktionale Kunst. Sie intervenieren als freie Künstler in einen bereits besetzten Raum, einen religiös konnotierten Raum bzw. einen touristisch adaptierten Raum. Sie stellen Fragen oder heben Wahrnehmungen hervor, auf die sie selbst im Rahmen ihrer Raumbegehungen gestoßen sind.

Ich reiße nur einige der künstlerischen und kirchenraumbezogenen Fragestellungen der Ausstellung exemplarisch an:

Robert Pasitka in der Bartholomäuskapelle: Wie ist das mit dem Verhältnis von Bild und Wort in den Kulträumen einer Institution, die sich „Kirche des Wortes“ nennt? Liegt es wirklich an der kirchlichen „Abwehr modernen anschaulichen Denkens, moderner Wahrnehmung und einer visuellen Zusammenhangbildung, die unsere Realität zur Kenntnis nimmt“?[6] Wenn das so wäre, müsste dann die Kirche bei den zeitgenössischen Künstlern nicht in die Schule gehen? Also keine Predigtkompetenz-Zentren, sondern erst einmal anschauliches Denken, moderne Wahrnehmung und visuellen Zusammenhangbildung lernen?

Manuela K. Knaut in der Brüdernkirche St. Ulrici: Nimmt die Kirche das selbst noch ernst, wenn sie von Hölle und Fegefeuer spricht? Und in welcher Relation steht das zu unserem heutigen Verhältnis zum Feuer?

Elisabeth Howey in St. Aegidien: Welche Kultur der eindrücklichen Gesten wird im Kontext dieses Raumes gepflegt und wie viel Spiel ist darin?

Herwig Gillerke in St. Martini: Wie steht es um die religiösen Sedimentierungen in der populären Kultur, sind es nur frei floatierende Elemente oder sind sie noch wahrnehmbar an das religiöse Ursprungsgeschehen rückbindbar (re-ligio)? Und was passiert, wenn man das im Raum der Kirche visuell vor Augen führt?

Volker Veit in St. Katharinen: Ist der ausgegrenzte Raum, den man Kirche nennt, ein Schutzraum, ein Rückzugsraum von der Hektik des Alltags und verschließt er sich vor dem Draußen? Und was ist, wenn der Alltag, das Draußen in die Kirche getragen wird, der Schutzraum symbolisch durchlöchert wird? Was ist, wenn der Alltag die Andacht stört?

Kerstin Schulz in St. Michaelis: Wie viel Warencharakter ist dem Raum der Kirche immer schon eingeschrieben? Geht es hier nicht in Wahrheit in einem mehrfachen Sinne um Ökonomie – sei es der Kirche, des Heils, der Freizeit, der Werte? Und welche Werte bilden diese Bereiche?

HAEL YXX in St. Andreas: Wie stellt sich das Verhältnis von Natur, Kultur und Zivilisation heute dar, mit welcher Verzögerung nehmen wir Ereignisse war und wie wahr ist diese Wahrnehmung?

Ute Hartwig-Schulz an der Bartholomäuskapelle: Wie lässt sich baugeschichtlich Vergangenes aktuell wieder fruchtbar machen? Wie lässt sich zumindest symbolisch die Kirche dem Licht öffnen?

Sabina Kaluza in St. Petri: Wie steht es mit der Erinnerungskultur für all die, derer nicht gedacht wird? Wie steht es mit dem Gedächtnis an die, von denen nichts mehr bleibt?

Jürgen Neumann in St. Magni: Wie viel Subtext, wie viel subversive Symbolik enthalten die Texte und Bilder der religiösen Tradition, welche Traumzeiten[7] werden durch welche Bilder initiiert?

Alle diese Fragen werden von den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern bei ihren Rauminterventionen angegangen. Es ist viel Spiel in dem, was die Beteiligten in das Projekt einbringen, aber das muss auch so sein, denn nur, wenn das Spiel der Kunst zustande kommt, zeigt sich, wie viel Freiraum und damit auch, wie viel Freiheit in der Kirche möglich ist.

Anmerkungen

[1]    Lüdke, Eberhard (Hg.) (1993): Gegenbilder. [Ausstellung] Münster 22. August - 31. Oktober 1993. Münster.

[2]    Franz, Erich (1993): Eröffnung GEGENBILDER. In: Eberhard Lüdke (Hg.): Gegenbilder, S. 7–13.

[3]    Norbert Radermacher hatte zahlreiche (Wander-) Stäbe in den einzelnen Kirchen ausgestellt, die man auf der Reise durch die verschiedenen Kirchen als solche nutzen konnte.

[4]    Dietz, Madeleine (1993): Kirchgänge. Kunst der Gegenwart in Landauer Kirchen: 25.9. - 31.10.1993. Landau.

[5]    Rein, Ulrike (1993): KIRCHGÄNGE. In: Madeleine Dietz (Hg.): Kirchgänge, S. 5–10.

[6]    Franz, Erich (1993), S. 8.

[7]    Duerr, Hans Peter (1978): Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Syndikat Autoren- u. Verl.-Ges.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/71/am354.htm
© Andreas Mertin, 2011