50 Jahre danach: Kunst und Kirche


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Autonome Kunst im Raum der Kirche

Das vorläufige Ende einer Debatte

Andreas Mertin

Wer heute das geradezu sprachlose Einverständnis beobachtet, mit dem viele Gemeinden auf abstrakte Kunstwerke in ihren Kirchen reagieren, kann kaum ermessen, wie erregt die Debatte über abstrakte Malerei seit den 20er-Jahren bis in die Mitte der 60er-Jahre noch war. Hans Sedlmayr konnte problemlos das Schwarze Quadrat von Malewitsch als nicht mehr zur Kunst gehörig beschreiben, ja er konnte die Kunst der Zeit untermenschlich nennen.[1] Erst seit der Wende zum 21. Jahrhunderts finden sich im (pseudo-)theologischen Diskurs über Kunst vereinzelt wieder derartige abwertende Argumente, wenn etwa Kardinal Brandmüller unter Bezug auf die hier vorzustellende Arbeit angesichts der gegenstandsfreien Kunst behauptet, dass diese Kunst, „die sich der Religion und somit der Wahrheit und Wirklichkeit verschließt, im Sumpf der Subjektivität und a-rationalen Mythologie versinkt“.[2] Damals aber waren derartig absurde Vorstellungen sozusagen Normalität.

Die Theologen, die sich mit der Verurteilung der Kunst nicht einverstanden erklärten, waren zunächst in einer Art apologetischen Situation. Sie mussten zeigen, dass mit substantiellen theologischen Gründen die diffamierte moderne und die gegenstandslose Kunst im Raum der Kirche Platz finden könnte. Im Prinzip erfolgte diese Annäherung an die autonome Kunst in zwei Schritten. Zum einen musste gezeigt werden, dass das Festhalten an der überlieferten religiösen Figuration eine Sackgasse und nicht mehr zeitgemäß war. Das erledigten von kunsthistorischer Seite Wolfgang Schöne und von theologischer Seite Kurt Marti und Kurt Lüthi. In einem zweiten Schritt musste ein Modell gefunden werden, sich der autonomen Kunst im Raum der Kirche zu nähern. Das machten dann Paul Tillich (im Rekurs auf den Expressionismus und die expressive Geste), Hans-Eckehard Bahr (im Rekurs auf den künstlerischen Ethos), Rainer Volp (im Rekurs auf das Kunstwerk als Symbol) und Horst Schwebel (im Rekurs auf die gegenstandsfreie Kunst). Mit Horst Schwebels Dissertation „Autonome Kunst im Raum der Kirche“[3] war die Diskussion dann erst einmal beendet, denn er konnte quasi bereits zusammenfassend zeigen, dass die gegenstandsfreie Kunst die aktuelle Kunst war und zugleich theologisch so erfasst werden konnte, dass sie auch in der Kirche Platz finden konnte.

Zunächst einmal galt es das Neue der gegenstandsfreien Kunst zu beschreiben: „Es geht dieser Kunst nicht um die Veranschaulichung irgendeines Inhalts. Sie überschreitet alles, was sich in Worten noch sagen lässt. Sprachlos weist sie ein in den ungegenständlichen Bildkosmos, möchte sich von allem Welthaften lösen und inmitten unseres Lebens ein ‚optisches Paradies’ errichten“ (10). Mit dem Stichwort „überschreiten“ und dem „optischen Paradies“ war so die Richtung angegeben, in die es gehen sollte. Klar war, dass die der Gemeinde vertraute Bilderwelt am Ende war. Anders als figurative Kunst und diese damit aufhebend, ist die gegenstandsfreie Kunst keine Kunst der Illustration:

„Abstrakte Malerei kann zu diesem Fragekomplex nichts beitragen. In ihr wird bildende Kunst autonom, verzichtet auf alle Auslegungsversuche der biblischen Geschichte, ja sogar jeder Wirklichkeit. Entfernt allem Sagbaren erschafft sie den autonomen bildnerischen Kosmos, der eschatologisch auslegbar ist“ (82).

Das hat Gemeinden (und Künstler) natürlich nicht daran gehindert, auch im Abstrakten religiöse Geschichten wie Auferstehung, Pfingsten oder Weihnachten zu entdecken und bis heute macht diese Form die Zu-Schreibung (im wörtlichen Sinne) des Abstrakten einen Teil der Attraktivität gegenstandsfreier Kunst im Raum der Kirche aus. Schwebel aber ging es um viel mehr:

„Man kann daher nicht von christlicher oder unchristlicher Malerei reden, geschweige denn von sakraler oder profaner ... In der gegenstandsfreien Kunst ist die Zeit der Knechtschaft unter der Wirklichkeit endgültig vorbei“ (84).

Damit schließt sich Schwebel dem Stand der damaligen Debatte an, wie er von Lüthi, Marti, Ledergerber und Bahr ausgearbeitet und in dieser Ausgabe des Magazins für Theologie und Ästhetik noch einmal nachgezeichnet wurde. Die akzentuierte Gegenübersetzung von Sakralität und Profanität macht keinen Sinn mehr.

Was aber bleibt, wenn man sich nicht ganz von der theologischen Deutung der Kunst zurückziehen will? Hier sieht Schwebel gerade in der gegenstandsfreien Kunst neue Anknüpfungspunkte:

„Das Neue Sein, diese fundamentale christliche Hoffnung, findet gerade dort ihren höchsten Ausdruck, wo alles Wirkliche verschwindet. Das Erleben vorweggenommener Eschatologie kommt in visueller Ekstasis zu seiner Klimax“ (85).

Gerade das, was wenige Jahre zuvor noch der zentrale Kritikpunkt an der zeitgenössischen Kunst war – dass sie nicht mehr Gott diene -, kann nun zur Tugend werden:

„Gegenstandsfreie Kunst lässt es sich nicht gefallen, als Mittel für irgendwelche Zwecke eingesetzt zu werden. Solche Kunst ist zwecklos, aber gerade in ihrer immanenten Zwecklosigkeit wird ihr Hinweischarakter offenbar. Sie weist über die Wirklichkeit hinaus auf ein Jenseitiges, Noch-Ausstehendes hin. In visueller Ekstasis gewährt sie Erfüllungsmomente, die im Jetzt das Eschaton erahnen lassen. Sie birgt in sich neues Sein als Vor-Gestalt, Vor-Schau, Vorwegnahme, Chiffre. — ‚Denn überraschend, wo wir es nicht erwarten, kann uns Gott begegnen’ (Rudolf Bultmann)“ (87).

Man wird in heutiger Sicht darüber streiten müssen, ob dieser eschatologische Charakter nicht im strengen Sinne nur der religiösen Deutung entspringt oder ob er wirklich der Kunst inhärent ist. In einem gewissen Sinne knüpft Schwebel – ohne dies expressiv verbis getan zu haben – an Überlegungen von Schiller an, die im ästhetischen Spiel einen außerästhetischen Mehrwert konstatieren. Was Schiller für die Erziehung gelten machen möchte, reklamiert Schwebel füre die ästhetische Erfahrung. Im Durchgang durch die ästhetische Erfahrung gegenstandsloser Kunst machen wir eine weitergehende Erfahrung, die wir religiös qualifizieren können.

Herbert Schade hat dann in seinem Buch „Gestaltloses Christentum?“[4] auf die implizite Problematik dieser Überlegungen aufmerksam gemacht, nämlich ihre Abhängigkeit von einer konkreten Kunstbewegung:

„Das Buch erscheint gerade in dem Augenblick, in dem die abstrakte Malerei von neuen Wellen künstlerischen Schaffens - der sogenannten Pop-Art u. ä. - weithin überrollt wird. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass Kirche und Theologie, nachdem sie zunächst die moderne Kunst prinzipiell weithin abgelehnt hatten, in den letzten beiden Jahrzehnten Massen von akademischen kubistischen und abstrakten Bildern in den Kirchenraum einschleusten. Beim Rücktritt dieser Repräsentantin moderner Geistigkeit erhalten wir - sozusagen posthum - eine programmatische Theologie der abstrakten Malerei.“

Aber nicht nur die Zeitgebundenheit findet Schade problematisch, das drängendere Problem sieht er, den Apostel Paulus zitierend, in der Gefahr der Glossolalie:

„Nun, meine lieben Brüder, was würde es euch nützen, wenn ich zu euch käme und in Sprachen reden wollte, wofern ich nicht zugleich zu euch auch reden würde in Offenbarung oder Erkenntnis, in Prophezeiung oder Lehre? Wenn unbeseelte Instrumente, wie Flöte oder Laute, nur klingen, aber keine Töne unterscheiden ließen, wie soll man da erkennen, was auf der Flöte oder der Laute gespielt wird? Wenn die Trompete nur undeutlich klingt, wer wird sich zum Kampfe rüsten? So ist's auch mit der Sprachengabe: Ist eure Rede, die ihr vorbringt, nicht verständlich, wie sollte man dann verstehen, was gesprochen wird? Ihr würdet ja in den Wind reden! Es gibt, wer weiß, wie viele Sprachen in der Welt; nichts ist ja ohne Sprache; doch kenne ich den Sinn der Sprache nicht, so bleibe ich für den ein Fremdling, welcher redet, und mir erscheint der Sprechende gleichfalls als Fremdling. So sollt auch ihr, die ihr so sehr euch Gnadengaben wünscht, doch danach trachten, in reicher Fülle solche zu besitzen, die zur Erbauung der Gemeinde dienen! So möge denn, wer in der Sprache redet, auch um das Auslegen der Sprache bitten! . . . Wenn die Gemeinde sich versammelt und alle in Sprachen reden, und es kommen dann Ungläubige oder Unkundige herein, werden diese dann nicht sagen: ‚Ihr seid verrückt!’ ... So trachtet denn, meine Brüder, nach der Prophetengabe; doch hindert nicht das Sprachenreden! Jedoch mit Anstand und in Ordnung möge all dies geschehen!» (1 Kor 14, 6-13 und 23)

Was sagt gegenstandsfreie Kunst aus, wenn sie „im Raum der Kirche“ präsent wird. Unterstellt die Menschen machten die Erfahrung der Ekstasis, wie lässt sich das dann kommunizieren. Ist es nicht so, dass bei gleichen Bildern und Kunstwerken, die einen dies, die anderen jenes erfahren? Während man durchaus bei der gegenstandsfreien Kunst ans Eschaton denken kann, denken andere aber an Karfreitag und nicht an Ostern. Schade verweist auf Hugo Ball, der schon 1927 geschrieben hatte:

"Wenn unsere abstrakten Bilder in einer Kirche hingen: man brauchte sie am Karfreitag nicht zu verhängen. Die Verlassenheit selber ist Bild geworden. Kein Gott, keine Menschen mehr sind zu sehen. Und wir können noch lachen statt vor Bestürzung in den Boden zu versinken? Was bedeutet das alles? Vielleicht nur das eine, dass die Welt im Zeichen der Generalpause steht und am Nullpunkt angelangt ist. Dass ein universaler Karfreitag angebrochen ist, der außerhalb der Kirche in diesem besonderen Fall stärker empfunden wird als in ihr selbst; dass der Kirchenkalender durchbrochen und Gott auch zu Ostern am Kreuze gestorben bleibt. Das bekannte Philosophenwort ‚Gott ist tot’ beginnt ringsum Gestalt anzunehmen. Wo aber Gott tot ist, dort wird der Dämon allmächtig sein. Es wäre denkbar, dass es, so wie ein Kirchenjahr, auch ein Kirchenjahrhundert gibt und dass auf das unsere der Karfreitag und genauer die Todesstunde am Kreuze fällt."[5]

Noch einmal Schade:

„Hier liegt die eigentliche Schwierigkeit einer religiösen abstrakten Malerei: Etwas wie eine gewaltige, gesichtslose Kraft macht sich bemerkbar, die eine Unterscheidung der Geister erschwert. Wir besitzen aber nur wenige Bilder, in denen diese Kraft am Werk ist. Der Großteil der modernen christlichen Abstraktionen reicht nicht in diese Tiefenschichten. Er ist genauso konventionell wie viele der Archaismen oder Deformationen in der modernen Kirchenkunst. Maler Maier und Müller malen bereits abstrakt für die Kirche der Großstadt, weil es modern ist. Pfarrer Schmitz, der als fortschrittlich gelten will, bezahlt den Auftrag. Das Konventionelle in den Werken ist nicht zu übersehen. Es gibt also grundsätzlich die Möglichkeit einer abstrakten Malerei für unsere Kirchen. Aber nur sehr wenige Künstler erreichen hier Qualität. Die geschmackvollen und sentimentalen Arrangements sind in der Überzahl.“

Darin hat Schade Recht behalten, ohne dass die zugrunde liegende Theorie damit hinfällig würde. Denn gerade der Protest, der bis heute von reaktionären Kräften in allen Kirchen gegen Schwebels Rechtfertigung der Abstraktion im Raum der Kirche geltend gemacht wird, zeigt, wie sehr er den Nerv der Zeit getroffen hatte. Letztlich stellte er die über die gegenstandsfreie Kunst hinausweisende Frage: Was ist in der Kirche möglich? Wie viel ästhetisches Spiel ist denkbar in einer Kirche, die sich auf Zwecke festgelegt hat? Was ist, wenn die vertrauten Anknüpfungspunkte des Umgangs mit der Kunst in der Kirche – die da heißen Illustration, Figuration, Ethos, Engagement etc. – verloren gehen und nicht mehr als Basis des gemeinsamen Gesprächs in Anschlag gebracht werden können. Mit anderen Worten: Was ist, wenn die Kirche sich mit der Gegenwart der Kunst beschäftigen muss?

Diese Frage ist innerhalb der verfassten Kirche nicht beantwortet worden. Ihre Ausstellungspraxis war nun – von wenigen Ausnahmen abgesehen – gerade keine Begegnung mit der Gegenwart der Kunst. Nirgends ist das treffender beschrieben als 1990 von Peter Funken in der Fachzeitschrift „Kunstforum“ zur Ausstellung „GegenwartEwigkeit“:

„Erklärtes Ziel der Ausstellung war es, den „Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit“ nachzugehen. Hätte man dies nicht gewusst, so wäre man nicht darauf gekommen ... Die ‚Zeichen’, die ein Kunstwerk aufweisen muss, um in ‚GegenwartEwigkeit’ einen Platz zu finden, (sind) folgendermaßen zu charakterisieren: Das Werk muss am besten die Form des Kreuzes oder der Stele besitzen oder im Titel darauf anspielen möglichst mit Goldfarbe bemalt sein, um ein Erhabenes und lichte Transparenz zu benennen, viele dunkle und schwarze Farben besitzen, um symbolisch Schmerz, Leid und Trauer zu bezeichnen auf Sackleinen gemalt oder mit ‚armen Materialien’ hergestellt sein oder in Farbe und Form stilisiert und abstrahiert sein, damit es zur Meditation anregt. Wenn mehrere dieser Kriterien erfüllt sind, bestehen relativ gute Aussichten, ein Künstler des Transzendenten zu werden.“[6]

Kritischer kann die Besprechung einer Ausstellung kaum sein. Aber man kann ihr kaum vorwerfen, unzutreffend zu sein. Was der Rezensent moniert, ist einerseits die Beliebigkeit der Einordnung von Kunstwerken unter das vorgegebene Thema ‚Transzendenz’, andererseits, dass die Unterordnung säkularer Kunst unter religiöse Fragestellungen eher durch vorgängige Legitimation als durch ästhetische Erfahrung gelungen ist. Dieser Herausforderung muss sich die theologische Theorie der Kunst weiter stellen.

Anmerkungen

[1] Sedlmayr, Hans (1964): Der Tod des Lichtes. Übergangene Perspektiven zur modernen Kunst. Salzburg: Müller.

[2] Brandmüller, Walter: Kunst – Kult – Kirche. Online verfügbar unter http://www.zenit.org/article-19130?l=german, zuletzt geprüft am 29.03. 2011. Brandmüllers 2009 (!)publizierter Text bezieht sich unmittelbar auf Horst Schwebels Dissertation, wie unschwer aus der Wortwahl geschlossen werden kann (Kursivierungen von mir, A.M.): „Das alles hat mit einer Krise der religiösen Inhalte, der Inhalte der Kunst überhaupt zu tun. In Kreisen moderner Kunstkritik geht darum auch die Rede von dem rein formalen Ästhetizismus, zu dem die Kunst der Gegenwart gelangt sei. So könne nicht von christlicher oder unchristlicher Kunst die Rede sein, geschweige denn von sakraler oder profaner. Gegenstandsfreie Kunst wird unter dem Deckmantel der Befreiung von der Knechtschaft durch die Wirklichkeit gepriesen. Ist es aber nicht vielmehr so, dass eine religionsfreie Kunst und eine Kunst, die sich der Religion und somit der Wahrheit und Wirklichkeit verschließt, im Sumpf der Subjektivität und a-rationalen Mythologie versinkt, wo alles möglich und alles von wert erscheint?“ Man merkt noch 43 Jahre nach dem Erscheinen der Dissertation von Schwebel, wie sehr manche fromme Geister davon verstört wurden. Gerade Brandmüllers Text, geschrieben immerhin vom Präsidenten des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften, macht deutlich, dass der kritische Punkt der Auseinandersetzung im Verhältnis zwischen Kunst und Kirche in der Zeit zwischen 1958 und 1968 gesucht werden muss.

[3] Schwebel, Horst (1968): Autonome Kunst im Raum der Kirche. Hamburg: Furche-Verl.

[4] Schade, Herbert (1971): Gestaltloses Christentum? Perspektiven zum Thema Kirche und Kunst. Aschaffenburg: Pattloch (Der Christ in der Welt. Eine Enzyklopädie, Reihe 15. Band 1).

[5] Ball, Hugo (1927): Die Flucht aus der Zeit. München: Duncker Humblot, S. 171

[6] P. Funken, "GegenwartEwigkeit", Kunstforum 108, Juni/Juli 1990, S. 292-294.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/71/am358.htm
© Andreas Mertin, 2011