50 Jahre danach: Kunst und Kirche


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"Christliche Möglichkeiten der glaubenslosen Künstler"

Die französischen Reformprojekte

Horst Schwebel

Die Spaltung in eine spirituell anspruchsvolle Kunst außerhalb der Kirchen und eine davon getrennt existierende Kirchenkunst war in den dreißiger Jahren eine feststehende Tatsache. Daraus erklärt sich etwa die Zeitschriftengründung des Dominikanerpaters Alain Couturier und seines Gefährten Pie Régamey im Jahr 1935. Couturier richtete in „L'Art Sacre“ einen „appel aux grands”, indem er die „großen Künstler“ seiner Zeit aufforderte, an der Ausgestaltung von Kirchen mitzuwirken. Der Zweite Weltkrieg verhinderte die breite Realisierung dieser Idee. Doch 1950 gelang es, in Assy unterhalb des Mont-Blanc-Massivs international bedeutende Künstler an der Ausgestaltung einer Kirche zu beteiligen.[1] Die Anziehungskraft dieser Kirche, deren Ausgestaltung das Ehepaar Dominique und John de Menil mitfinanzierte, ist auch heute noch ungebrochen.

Fernand Léger schuf das Eingangsmosaik mit Motiven der Mariensymbolik der Lauretanischen Litanei. Marc Chagalls Kacheln des Taufraums haben den „Durchzug durchs Rote Meer“ zum Thema. Für die Apsis schuf Jean Lurçat einen farbintensiven Wandteppich mit dem Sonnenweib und dem Drachen aus der Offenbarung des Johannes. Der Fisch des Tabernakels stammt von Georges Braque. Ein Bild des hl. Franz von Sales schuf Pierre Bonnard, ein hl. Dominikus stammt von Henri Matisse. Die Glasfenster waren von Georges Rouault, Jean Bazaine und von Couturier selbst. Das Kruzifix der Bildhauerin Germaine Richier, das an eine Baumwurzel erinnert, wurde entfernt. Es entstand ein öffentlicher Streit, an dem sich zahlreiche französische Intellektuelle beteiligten. Schließlich kam das Kruzifix wieder in die Kirche, aber in die Krypta. Den Ausschlag gegeben hatte die Petition der Patienten des Lungensanatoriums von Assy an den Bischof von Besançon: „Es war unser Christus, bejammernswert und barmherzig. Wir hoffen, dass Sie uns den Christus wiedergeben.“[2]

Die Rosenkranzkapelle in Vence von Henri Matisse verdanken wir einem Glücksfall. Der schwerkranke Matisse wohnte gegenüber dem Kloster des Rosenkranzordens und wurde von Marie Jacques, einer Ordensschwester, gepflegt, die ihm, bevor sie ins Kloster ging, Modell gestanden hatte. Er versprach Marie Jacques, für ihren Orden eine Kapelle zu gestalten, die er als Geschenk und Vermächtnis verstand. Auch Pater Couturier, mit dem Matisse eine Freundschaft verband, wurde beigezogen. Jedes Detail dieser Kirche, der Altar, das Kruzifix, die Glasfenster und die bemalten Kacheln, sind vom Künstler selbst entworfen und durchgeführt. Beeindruckend ist sein auf die weißen Kacheln skizzierter Kreuzweg, der eine für Matisse ungewöhnliche Formreduktion und Brechung in der Strichführung zeigt. Picasso, mit dem Matisse Freundschaft und lebenslange Konkurrenz verband, sprach abfällig vom „Boudoir unserer lieben Frau“, wohl in Erinnerung daran, welche Rolle das Boudoir, die Frauen und Odalisken für Matisse in früheren Jahren als Motiv gespielt hatten. Matisse sah dies anders. „Diese Kapelle war für mich das letzte Ziel eines arbeitsamen Lebens und der Gipfelpunkt eines großen, aufrichtigen und schwierigen Strebens.“[3]

Ein weiteres Reformprojekt der Dominikaner war die Ausgestaltung der Kirche Sacre Coeur in Audincourt nahe Belfort (Departement Haut Saône). Jean Bazaine schuf das abstrakte Eingangsmosaik und den in Gelb, Orange und Violett aufstrahlenden Taufraum. Sowohl der Zugang als auch die gesamte Fläche des zylindrischen Raums sind aus Betonglas. Der Besucher der Kapelle wird von diesem Farbraum vollständig umschlossen; er ist ein betretbares abstraktes Bild. Der längsgerichtete und zur Stirnseite hin abgerundete Kirchenraum erhält sein Licht durch ein Glasfensterband von Fernand Leger, der für das Thema der „Marterwerkzeuge Christi“ starke Farbkontraste wählte. Für die deutschen Glaskünstler wurde Audincourt zu einer Art Wallfahrtsort. Obgleich es die Technik, mit etwa drei Zentimeter dicken Glasstücken Betonfenster zu gestalten, bereits seit der Jahrhundertwende gegeben hatte, ist es Leger und Bazaine in Audincourt zu verdanken, dass man ihre einzigartigen Möglichkeiten real erfahren konnte und sich nun auch an anderen Orten dieser Technik bediente.

Die Farbklänge der abstrakten Glasfenster Alfred Manessiers für Les Breseux, Le Pouldu im französischen Jura vermochten auch einfache Menschen davon zu überzeugen, dass der Verzicht auf Heiligendarstellungen der Ausdrucksmächtigkeit der Fenster keinerlei Abbruch tat. Manessier, der während des Kriegs einige Zeit in einem belgischen Trappistenkloster zugebracht hatte, übertrug das Gebot des Schweigens der Trappisten auf das Feld der Malerei. Ohne benennbare Gegenstände darzustellen, ging es Manessier darum, in kirchlichen, aber auch in freien Arbeiten eine visuelle Gestimmtheit zu vermitteln, die er im christlichen Sinn interpretierte. So schuf er beispielsweise 1948 den abstrakten Lithographie-Zyklus „Pâques“, in dem er von „Gethsemane“ bis zur „Auferstehung“ den jeweiligen climat du texte einzufangen suchte.[4]

Was im Frankreich der fünfziger Jahren auf Anregung von Couturier und den Dominikanern bei Reformprojekten an kirchlicher Kunst verwirklicht wurde, war eine erste Blüte nach einer langen unfruchtbaren Phase. Die große Kunst der Zeit hatte wieder in den Kirchenraum Eingang gefunden. Mit Le Corbusier zählte auch ein Avantgarde-Architekt dazu. Er, der Erfinder der „Wohnmaschinen“, baute in Ronchamp (1954/55) im französischen Jura (Departement Haute Saône) eine Kirche, die ganz der Poesie entsprungen zu sein scheint und keinen Bezug zum historischen Kirchenbau aufweist. In Deutschland hat man für den Wiederaufbau nach dem Krieg auf das französische Modell zurückgegriffen und renommierte Künstler und Architekten für die Kirche arbeiten lassen.

Obgleich das französische Reformmodell in der Praxis recht erfolgreich war, gab es Probleme bei der theologischen Rechtfertigung dieser Praxis. Pater Couturier hatte als junger Mann dem von Maurice Denis gegründeten „Ateliers d'Art Sacre“ angehört. Für Denis war es selbstverständlich, dass ein Künstler mit kirchlichem Auftrag ein gläubiger Christ sein müsse, der am geistlichen Leben der Kirche Anteil nehme. Dies traf im strengen Sinn einzig auf Georges Rouault und Alfred Manessier zu. Die meisten - darunter Matisse, Braque, Germaine Richier - gehörten keiner Kirche an, Chagall war Jude, und Le Corbusier hatte einen protestantisch-waldensischen Hintergrund. Leger, der nach den Betonglasfenstern von Audincourt zum Aushängeschild dieses Reformvorhabens wurde, war sogar aktives Mitglied der Kommunistischen Partei, für die der Atheismus damals eine Grunddoktrin war. Wie sollte man mit dem Faktum der «glaubenslosen Künstler» umgehen, denen man doch so viel für die Erneuerung der Kunst in der Kirche verdankte?

Die Legitimation, die Pie Regamey in seinem Buch „Kirche und Kunst im 20. Jahrhundert“[5] versuchte, ist insofern nicht einfach, als der von Denis oft zitierte Satz Fra Angelicos „Um die Dinge Christi zu malen, muss man mit Christus leben“ auch bei Couturier noch mitschwang und er nach katholischem Verständnis den Glauben als infusio des Übernatürlichen in die Natur begriff. Nach solchem Verständnis wäre allein der christliche Künstler in der Lage, ein christliches Werk zu schaffen. Aber in Wirklichkeit war es gerade umgekehrt: Die nichtchristlichen Künstler hatten die aufsehenerregenden und auch für den liturgischen Gebrauch angemessenen Werke geschaffen, während die Werke christlicher Künstler – „blutleer“, „akademisch“, „frömmelnd“ – „oft einen recht jämmerlichen Begriff von diesem Glauben vermitteln“. Regamey: „Man muss zugeben, dass in bestimmten Fällen bestimmte ‚Glaubenslose’ einen richtigeren, tieferen und wirksameren Sinn für den Gegenstand und die Funktionen eines Werkes zeigen als bestimmte ‚gläubige’ Künstler.“ In diesem Argumentationsstrang wird von den Werken auf die schaffenden Personen rückgeschlossen. Couturier und Regamey entschieden sich eindeutig für die sogenannten glaubenslosen Künstler. „In dieser Schau ist ‚jedes gute Gemälde in sich edel und fromm’ und daher geeignet, Gott zu ehren, ohne dass dazu der übernatürliche Glaube nötig sei.“[6]

Couturier verschärft seine Argumentation noch, indem er für die „großen Künstler“ auf die Genie-Ästhetik zurückgreift. „Der große Künstler ist immer-intuitiv. Und das genügt beinah für alles ... Das Genie gibt nicht den Glauben, es besteht aber eine zu tiefe Analogie zwischen der mystischen Inspiration und der der Helden und großen Künstler, als dass man nicht von Anfang an auf ihrer Seite wäre. ‚Man muss immer auf das Genie setzen’, sagte Delacroix.“ Der große Künstler ist nach Couturier sozusagen der natürlichen Ordnung enthoben. Er ist auf eine andere Weise als der Alltagsmensch ein Gefäß des göttlichen Geistes. „Jeder wahre Künstler ist inspiriert. Schon durch seine Natur und durch sein Temperament ist er für geistige Intuitionen vorbereitet, prädisponiert: weshalb sollte er nicht auch für die Niederkunft jenes Geistes empfänglich sein, der ausschließlich ‚weht, wo er will? Und du hörst seine Stimme... aber du weißt nicht, wohin er geht und von wannen er kommt’.“[7]

Die Schwäche dieser Argumentation liegt darin, dass für den „großen Künstler“ andere Maßstäbe gelten als für jede andere Person. Bei Couturier wird der Künstler aus der Position des unter der Sünde Stehenden und auf die Gnade Angewiesenen herausgehoben und als homo creator an einem anderen Maßstab als die übrigen Menschen gemessen. Im schöpferischen Akt kommt es zu einer geheimnisvollen Teilhabe am schöpferischen göttlichen Handeln. Aus reformatorischer Sicht ist diese Position der Genie-Ästhetik nicht haltbar. Diese würde weder Leger noch Matisse, Leonardo da Vinci, Raffael oder Michelangelo einen anthropologischen Sonderstatus einräumen. Übrigens betont Michelangelo in seinen späten Sonetten den aus reformatorischer Sicht so wichtigen Tatbestand der „leeren Hände“. Der Vorzug des dominikanischen Denkmodells lag darin, endlich Kunstwerke von hoher Qualität unabhängig von der Kirchlichkeit ihrer Urheber in die Kirchen bringen zu können. Picasso übrigens lehnte diese Argumentation ab und war nicht bereit, für die Kirche zu arbeiten. Sein Argument lautete: „Ich finde es widersinnig, dass eine Frau, die keine Pfeife raucht, eine malt.“[8]

Trotz der im Geniebegriff gründenden Schwäche der theologischen Argumentation war den Dominikanern in der Praxis ein großer Schritt gelungen. Man hatte gewagt, unabhängig von Glaubensbekenntnis und Konfessionszugehörigkeit mit Künstlern zusammenzuarbeiten, denen man qualitativ anspruchsvolle Werke zutraute. Dabei ging man - wie die Beispiele zeigen - en detail sehr überlegt vor: „Welcher Künstler scheint für ein bestimmtes Thema besonders ‚empfänglich’, wer ist für ein Werk begabt, das hier oder dort diese oder jene bestimmte Funktion erfüllen soll?“[9] An keiner Stelle wird man den Dominikanern nachweisen können, aufgrund eines großen Namens den liturgischen Aspekt bei der Platzierung eines Kunstwerks im Raum vernachlässigt zu haben. Sie erwogen genau, welchen Künstler sie mit der jeweiligen Aufgabe betrauten.

Anmerkungen

[1]    Rubin, William S. (1961): Modern sacred Art and the church of Assy. New York : Columbia Univ. Pr.

[2]    Schreyer, Lothar (1959): Christliche Kunst des XX. Jahrhunderts in der katholischen und protestantischen Welt. Berlin [u.a.]: Dt. Buchgemeinschaft, S. 148.

[3]    Herbert Read, Henri Matisse, in: Bazin, Germain; Fassmann, Kurt (1985): Kindlers Malerei-Lexikon. Neuausg. München: Dt. Taschenbuch Verl., Band 9, 55-62, 61

[4]    Horst Schwebel, Christliche Kunst im Widerspruch, in: Manessier, Alfred; Schwebel, Horst (1971): Passion. Witten: Von Cansteinsche Bibelanst., 1-XVI, XIV.

[5]    Régamey, Pie (1954): Kirche und Kunst im XX. Jahrhundert. Unter Mitarbeit von Hugo Lang. Graz , Wien, Köln: Styria.

[6]    Ebd., S. 245 f.

[7]    Ebd., S. 247.

[8]    Ebd., S. 243.

[9]    Ebd., S. 306.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/71/hs13.htm
© Horst Schwebel, 2011