50 Jahre danach: Kunst und Kirche


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Kunst als Entlarvung der Wirklichkeit

Hans-Eckehard Bahrs "Poiesis"

Horst Schwebel

Als typisch für die römisch–katholische Theologie lehnt der 1928 geborene evangelische Theologe Hans - Eckehard Bahr in seinem Buch „Poiesis. Theologische Untersuchung der Kunst“ aus dem Jahr 1961 den von Couturier praktizierten Umgang mit Künstlern ab.[1] „Die Apostrophierung des Künstlers als homo creator stellt das Schaffen respective das Schöpferische als einen Gott und Mensch gemeinsamen Grundcharakter heraus.“ Und: „In der Hervorhebung des Schöpferischen als der spezifischen Analogie von Mensch und Geschöpf wird der fundamentale Unterschied von Gottes Schaffen und der menschlichen Kunstfertigkeit de facto verdunkelt.“ Bahrs Vorwurf gegen Couturier lautet, dass dieser den ‚großen Künstler’ als ‚Genie’ aus der Geschöpflichkeit heraushebe und ihn Kraft des Kreatorischen auf die Seite Gottes stelle. Bahr hingegen postuliert: „Alle künstlerische Figuration ist also sub specie Dei nicht ein Vollenden der Schöpfung, sondern ein Nach-bilden, das schöpferisch zu nennen, unangemessen wäre.“ (S. 90) Bei Couturier wittert Bahr Genieästhetik, einen trotz aller Brüche übrig gebliebenen Idealismus.

Bahr will verhindern, dass man die Schöpfung metaphysisch deute. Der Durchstoß der Kunst sprengt die metaphysischen, ideologischen Vorverständnisse. Schöpfung wird als Prozess verstanden, als ein Unabgeschlossenes, Nach–vorne-Drängendes, auf ein Telos zu. Er fürchtet sich vor einer mythischen Überhöhung des Gegebenen, lehnt das Zwei-Stufen-Schema ab, das der gefallenen Welt eine „heile Schöpfungsganzheit“ gegenüberstellt (S. 181). Wenn Bahr sagt, die moderne Kunst bewirke eine neuartige Schöpfungserfahrung, so meint er eben dies: Die moderne Kunst desillusioniert und entmythisiert die Welt. Sie zeigt nicht deren essentielle Heilheit und Ganzheit, sondern sie zeigt den „Riss“, der durch alles Geschöpf liehe hindurchgeht. Bahr stellt sich damit in Gegensatz zur idealistischen Kunsttheorie. Betonte der Idealismus den Ewigkeitscharakter der Kunst, so betont Bahr die „Diesseitigkeit“ und „Immanenz“ (S. 183). Nach Bahr ist die moderne Kunst diesseitig und weltlich; sie verzichtet auf das Transzendieren und gibt sich mit der „Immanenz“ zufrieden. Das heißt, Funktion der Kunst ist es, das Unabgeschlossene der Schöpfung, den „Riss“ in allem Leben aufzuzeigen. Hintergrund dieser Anschauung ist die Expressionismusrenaissance der fünfziger Jahre. Charakteristisch für diese Zeit ist, dass ein heiles Menschenbild nicht mehr vorhanden ist. Man entdeckt den Menschen in seiner Schwäche, seinen Zusammenbrüchen, seinem Scheitern, seiner unvollkommenen Endlichkeit. Insofern steht Bahrs Anti-Idealismus mitten im Bewusstsein der späten fünfziger Jahre. Die Ablehnung einer wie auch immer gearteten Metaphysik lenkt Bahrs Blick lediglich auf die destruktive Leistung der Kunst, ihr Sprengen und Aufbrechen. Bahrs Angriff ist folgerichtig auf die Ästhetik des Idealismus gerichtet.

Im Idealismus sieht Bahr die umgekehrte Bewegung. Die idealistische Kunstkonzeption versucht zu zeigen, dass im Kunstwerk eine „heile Schöpfungsganzheit“ aufleuchtet. Das heißt, sie stellt die Vollkommenheit der Kunst der unvollkommenen kreatürlichen Lage des Menschen gegenüber. Das Schöne soll dazu dienen, die Idee einer „heilen Schöpfung“ trotz des Widerstreits der Wirklichkeit aufrechtzuerhalten. Das Schöne ist somit der Ausdruck eines zutiefst empfundenen Schöpfungsglaubens. Zum zweiten bemüht sich die idealistische Kunsttheorie, „die Zeit des Kunstwerks als die erfüllte Gegenwart“ (S. 178) zu bestimmen. Das Ergriffenwerden vom Schönen entlässt den Menschen aus seiner Zeitlichkeit und schenkt ihm Augenblicke zeitlosen Glücks. „So dicht und erfüllt kann die Gegenwart der Kunst dem Ergriffenen vorkommen, dass sie eine ‘Ahnung des Zukünftigem aufkommen lässt. Unter dem Gesichtspunkt der Zeit wäre also das Kunstwerk ‘Hinweis auf die zukünftige Vollendung’“(S. 179). Das Schöne könnte als Vorwegnahme der zukünftigen Vollendung begriffen werden. — Vom Idealismus her läßt sich Kunst nach Bahr in doppelter Weise bestimmen:

a)     Kunst als Aufleuchten einer heilen Schöpfung,

b)     Kunst als Vorwegnahme zukünftiger Eschatologie.

Dieser Anschauung gegenüber betont er die „Diesseitigkeit der Kunst“ in der Moderne (S. 180). Das Aufleuchten einer heilen Schöpfung wird als Täuschung verdächtigt. Es „macht ja die eigentliche kreatürliche Lage des Menschen um so schmerzlicher fühlbar“ (S. 181). Man wird Bahr zustimmen müssen. Der Versuch des Idealismus, Spannungen und Risse zu übertünchen und die Wirklichkeit nicht von ihrem So-Sein, sondern von der Idee her zu begreifen, führt zu schmerzlicher geistiger Schizophrenie. Dort, wo Risse sind, wird möglicherweise eine Ideallandschaft mit Sonnenuntergang hingezaubert. Die idealistische Kunsttheorie erscheint somit als Versuch, die Geschichte hinter sich zu lassen, um auf dem Wege der Kunst ein Stück Ewigkeit in der Zeit zu erfahren. Dieser „soteriologischen Mächtigkeit“ (S. 193) der Kunst kann nach Bahr der Glaube nur mit einem Nein begegnen. Denn „stünde es in der Kraft der Kunst, den Menschen nicht nur der subjektiven Einbildung nach, sondern faktisch und realiter von seiner Hinfälligkeit und Schuld zu befreien, dann wäre Gott ein Narr und Christus umsonst gestorben“, (ebd.) Wenn Bahr also von einer „neuartigen Erfahrung der Schöpfung“ redet, so meint er eben dies, dass die moderne Kunst „irdisch“ geworden sei. Nur eine „irdische, diesseitige“ Kunst kann nach Bahr mit dem christlichen Glauben harmonieren. Alles andere wäre Selbsterlösung. Das Spezifische der neuen Kunst sieht er auf Grund seiner antiidealistisch-theologischen Prämisse in ihrer „Diesseitigkeit“. Schöpfung bedeutet bei Bahr dasselbe wie Immanenz und Diesseitigkeit, wobei dem Begriff der „Profanität“ ein Primat zukommt. Die Funktion des Kunstwerks besteht also darin, die Wirklichkeit aufzudecken und in ihrer ganzen Bedrohung sichtbar werden zu lassen. Die Sphäre des Alltäglichen wird durchstoßen, und das Selbstverständliche erscheint nunmehr in einem neuen Licht (S. 191).

Damit hat Bahr eine Grundlage geschaffen, auf der es zur Begegnung zwischen moderner Kunst und Glauben kommen kann: „Die von uns allen erlebte und erlittene Wirklichkeit ist der Gegenstand heutiger Kunst. Damit zieht es den künstlerischen Eros in die gleiche Richtung, in die der Glaube treibt: Beiden, dem Künstler und dem Christen, ist zur Stunde alles gelegen an der Annahme der Wirklichkeit, so, wie sie nun einmal ist“ (S. 231). Das stimmt für Dix, Barlach, Käthe Kollwitz und andere. Ebenfalls trifft diese Erfahrung zu für die Literatur der fünfziger Jahre mit der hohen Einschätzung von Benn und Camus. Aber stimmt das auch für die gegenstandsfreie Kunst, eine Kunst, bei der man auch das Moment einer visuellen Ekstasis, einem mystischen Auswandern aus der Wirklichkeit beobachten kann? In der Folgezeit, also nach Bahrs und anderer Entdeckung der Profanität in der Kunst, legte man dann besonderen Wert auf das Ekstatische, das Rauschhafte, auf die visuelle Gegenwelt als Gegensatz zur Alltagswirklichkeit. Ja, gerade dieses Hinaus und Hinüber, verstanden als Primat des Unmöglichen oder als „Geist der Utopie“ im Sinne von Bloch, sollte bestimmend werden. In der 68er Bewegung wurde schließlich der Phantasie ein höheres Recht als der Wirklichkeit zugesprochen.

Doch bleiben wir bei Hans – Eckehard Bahr aus dem Jahr 1961. Weil die moderne Kunst die Intentio hat, die Illusion zu zerstören und den Menschen in die Bedrohung durch die Wirklichkeit zu stellen, kann sie vom christlichen Glauben aus bejaht werden. Aufgabe des Kunstwerks wäre die Demaskierung des Verlogenen und Unwahrhaftigen. Überall dort, wo das Kunstwerk die Wirklichkeit in ihrem falschen Schein aufdeckt, würde der Glaube dem Werk der Kunst zustimmen. Aber auch der Glaube müsste es sich gefallen lassen, von der Kunst entlarvt zu werden. Mit „billigen Tröstungen“ versucht er oft, der Wirklichkeit zu entfliehen. Die moderne Kunst mahne ihn jedoch, „in der Gottesfinsternis zu warten“ (S. 238). Die Kunst weist den Glauben somit an den Ort „Wirklichkeit“, an dem er standzuhalten hat.

Anmerkungen

[1]    Bahr, Hans-Eckehard (1961): Poiesis. Theologische Untersuchung der Kunst. Stuttgart: Ev. Verlagswerk.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/71/hs14.htm
© Horst Schwebel, 2011