Krankheit und Gesundheit


Heft 72 | Home | Heft 1-71 | Newsletter | Impressum und Datenschutz

Ganz Altes

Eine Glosse

Andreas Mertin

Wen soll man mehr verachten: das Passionstheater in Oberammergau, das in seinem Presseblatt zur neuesten Aufführung des Josef-Stoffes nach Thomas Mann von der „alttestamentarischen Geschichte“ schrieb, oder die bundesdeutsche Journaille, die dies landauf landab besinnungslos übernahm?

Merkur-online

Grundlage der Textfassung, die Stückl inszenierte, ist Thomas Manns mehr als 1000 Seiten umfassende Romantetralogie. Dieser veröffentlichte seine Bearbeitung der alttestamentarischen Geschichte von Jaakobs Lieblingssohn, der von den eifersüchtigen Brüdern als Sklave verkauft wird und in Ägypten als Traumdeuter des Pharaos Karriere macht (1. Mose, 37-50) zwischen den Jahren 1933 und 1943.

Taz

nach der alttestamentarischen Erzählung um Hochmut, Bruderzwist, Sozialneid und Gottvertrauen

Deutsch-landradio

Wer die Oberammergauer Passion im vergangenen Jahr gesehen hat, oder eines der alttestamentarischen Spiele in den Jahren davor über den König David (2005) oder den Propheten Jeremias (2007), war überrascht …
Statt 2000 Mitwirkenden (wie in der Passion) bzw. 500 Darstellern bei den alttestamentarischen Spielen über König David (2005) oder den Propheten Jeremias (2007) sind es diesmal inklusive Chor und Orchester nur 200 Aktive.


Nicht alle Journalisten sind der Vorlage gefolgt, die Frankfurter Rundschau schreibt von der „alttestamentlichen Geschichte“. Aber der Regelfall ist ein anderer. Das ist der Vorteil heutiger Pressemappen: wenn einmal Unsinn in der Mappe ist, verbreitet er sich rasend schnell, weil niemand in den Redaktionsstuben noch den Inhalt überprüft. Ist ja auch so bequem: einfach Cut & Paste und schon ist es im eigenen Text.

Man möchte verzweifeln bei so viel Dummheit. Den Gipfel der Unbildung aber erklimmt unbestritten DIE WELT mit dem Artikel von Eckhard Fuhr unter der Überschrift „Jesus Christus Prototyp“. Dort heißt es doch wirklich:

Welt

Wer sich die Ausstellung und das Theaterspiel anschaut, dem ist ein selten gelesenes Hauptwerk der Weltliteratur doch ein gutes Stück näher gekommen. Das hilft nicht nur bei Bewerbungsgesprächen. Indem sie sich in alttestamentarische Stoffe vertiefen, befördern die Oberammergauer Passionsspieler auch religiöse Elementarbildung. Wer nicht weiß, was vor Jesus war, versteht gar nichts.


Ja, dafür brauchen wir die Hochkultur, damit jemand sich nicht nur „bei Bewerbungsgesprächen“ profilieren kann. Indem er „religiöse Elementarbildung“ besitzt und weiß, was ein „alttestamentarischer Stoff“ ist. Das ist ein Stoff, der vor Jesus war. Wie gut, dass wenigstens die Autoren der WELT über eine religiöse Elementarbildung verfügen.

Wie heißt es doch in Johannes 8, 56ff.: «Euer Vater Abraham jubelte, dass er meinen Tag sehen würde; und er sah ihn und freute sich.» Die anderen jüdischen Menschen nun sagten zu ihm: «Du bist noch nicht 50 Jahre alt und hast Abraham gesehen?!?» Jesus sagte ihnen: «Amen, amen, ich sage euch: Bevor Abraham geboren wurde, bin ich.»

Was vor Jesus war, weiß also auch Eckehard Fuhr nicht. Aber er versteht es auch gar nicht. Und das zeigt er gerne. Darin ist er ein Prototyp für die bundesrepublikanische Gesellschaft des Jahres 2011.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/72/am361.htm
© Andreas Mertin, 2011