Krankheit und Gesundheit |
Von einem, der auszog, das Fürchten zu lehrenOder: Was passiert, wenn man Islamkritiker wörtlich nimmtAndreas Mertin Kurz bevor der Massenmörder von Oslo und Utøya zu seinen Taten aufbrach, sandte er an Tausende von Leuten ein „Manifest“ mit dem er seine Handlungen weniger zu rechtfertigen, als vielmehr zu dokumentieren und propagandistisch auszuweiten suchte. Dieses 1518 Seiten umfassende Patchwork ist eine Achterbahnfahrt diverser Argumentationsstränge. Vom Niveau steht es deutlich über einer durchschnittlichen geisteswissenschaftlichen Seminararbeit, man könnte es stellenweise gut mit einer Magisterarbeit vergleichen, einer Magisterarbeit freilich mit einem extremen Anteil an Fremd-Zitaten. An anderen Stellen passt es mehr zu den Rollenspielanweisungen beliebter Online-Games, die komplexe Charaktere und Rangordnungen entwickeln. Und man liest dieses Werk mit Entsetzen, denn es enthält auch eine klare Botschaft an den liberalen Leser: Wir werden Dich einsperren, wir werden Dich umerziehen, wir werden Dich töten, je nachdem ob wir Dich als Verräter der Kategorie A, B oder C einsortieren. In einem gewissen Sinne ist das Konvolut aber auch eine Theory of everything (TOE), gleich ob es sich um die Genese der kritischen Theorie, die Gedanken von Bernhard von Clairvaux, die Ästhetik der Liturgie oder den Anbau von Zuckerüben handelt. Trotzdem gibt es bestimmte Schwerpunkte: Das ist zum einen die Abrechnung mit dem, was der Autor den Kulturmarxismus nennt; dann der Kampf gegen jede Form von Islam in Europa; und schließlich die Darstellung eines Heiligen Römischen Reiches, einer europäischen Einheitsgesellschaft am Ende des 21. und beginnenden 22. Jahrhunderts. Und dann ist es eine Liquidationsankündigung an alle, die Kulturrelativisten, Individualisten, Protestanten, Liberale, Feministen, Multikulturalisten mit anderen Worten: Verräter an Europa sind. Es ist ein Vernichtungsprogramm für einen guten Teil der europäischen Bevölkerung sofern sie sich nicht umerziehen lassen. Insofern ist es durchaus Erbe der totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Mich interessieren im Folgenden drei Aspekte des Manifests: zum einen die Kontextualisierung in die Auseinandersetzung um die „politische Korrektheit“ respektive den Kulturmarxismus, also das Erbe, das der Autor in einem gewissen Sinne vom Unabomber übernimmt; zum zweiten die religiöse Gedankenwelt und die religiöse Selbstverortung des Manifests, also die Bevorzugung eines politischen Katholizismus gegenüber einem liberalen Protestantismus; zum dritten die auffällige Medienreflexion des Ganzen, seine selbstreflexive Mediatisierung. 1 KulturmarxismusEs beginnt mit einer Abrechnung mit dem kulturellen Marxismus, also der Frankfurter kritischen Theorie, die für den Niedergang Europas in den letzten 50 Jahren verantwortlich gemacht wird. Es erinnert an bürgerliche Abrechnungen der 70er- und 80er-Jahre mit dem Neomarxismus, die man längst schon überwunden glaubte. Der Verfasser des Manifests ist 1979 geboren, dass heißt, er hat nichts, aber auch gar nichts von den beschriebenen Veränderungen mitbekommen. Die von der kritischen Theorie bewirkte und in Gang gesetzte „Political Correctness“ ist für ihn eine Meme der rechten und neokonservativen Meinungszirkel. Wahrgenommen haben kann er anders als etwa der Unabomber diese angebliche Entwicklung nicht. Interessant ist, wer in seiner Abrechnung vorkommt und wer nicht. So gibt es keine Auseinandersetzung mit dem französischen Existentialismus, keine Beschäftigung mit Sartre oder Camus, wohl aber mit dem Dekonstruktivismus von Jacques Derrida. Es macht dabei nicht den Eindruck, als ob der Autor die primären Texte von Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse wirklich selbst gelesen hätte, selbst die erwähnte Sekundärliteratur von Martin Jay und Rolf Wiggershaus scheint er wiederum nur aus Sekundärquellen bzw. Wikipedia-Artikeln zu kennen. In seiner Vorstellungswelt aber kann eine Handvoll vom Nationalsozialismus verfolgter europäischer Intellektueller dennoch durch ihre Ansichten und Theorien Europa in den Abgrund stürzen, weil sie eine Theorie bereitstellen, die das Fremde als Fremdes akzeptabel sein lässt und Nationalismus als überholte Kategorie des 19. Jahrhunderts brandmarkt. Das klingt nicht unvertraut, speist es sich doch aus dem Abwehrvokabular des Bürgertums gegen die Kritische Theorie. Manch ein bürgerlicher Neo-Konservativer wird seine Invektiven gegen den Neomarxismus im Einleitungskapitel des Manifests gespiegelt finden. Das müssen sich auch diejenigen sagen lassen, die es gewohnt waren, das Wort „Gutmensch“ bzw. seine Übersetzung „Politisch korrekt“ als Schimpfwort zu gebrauchen. Sie haben das Fundament geliefert, auf dem Ideologie wie die des norwegischen Attentäters aufbauen konnten und sie haben dessen Hoffnung stimuliert, mit seiner Wahnsinnsaktion auf positive Resonanzen in einer größeren Öffentlichkeit rechnen zu können. Da hilft es auch nicht, wenn man nun Gipfel der Dreistigkeit nachschiebt, die Mittel des Massenmörders seien natürlich abzulehnen, in der Sache aber habe er Recht um dann all den Quark des Einleitungskapitels zu wiederholen. Nein, es gibt eine ideologische Verbindung zwischen dem Denken, das Europa unter dem muslimischen Sturm untergehen sieht, jenem, das die neomarxistische Theorie dafür verantwortlich macht und den Handlungen des Massenmörders. Und diese Verbindung ist nicht neu. Sie tauchte schon mit anderen Feindbildern im Manifest des Una-Bombers auf. Nur hieß der Feind dort neben der politischen Korrektheit technische Zivilisation und die Helfershelfer waren die Leftism, also die amerikanischen Erben der kritischen Theorie. Das erklärt auch, warum der norwegische Attentäter sich so ausgiebig bei der Schrift seines Vorgängers bedient hat. Brisant wird das Ganze aber erst, wenn man der Geschichte des Begriffs „Politische Korrektheit“ nachgeht:
Berücksichtigt man zugleich, dass der Begriff des „Gutmenschen“ seit Mitte der 1990er-Jahre mit dem der „politischen Korrektheit“ verbunden wurde, und im Gegenzug die Verletzung der politischen Korrektheit und der Gutmenschen-Ideologie als emanzipatorischer Freiheitsakt dargestellt wurde, wird die Beziehung zur bundesrepublikanischen Diskussion deutlich. „Das wird man ja noch sagen dürfen“ wurde so zum scheinliberalen Argument für die Rechtfertigung für herabsetzende und diskriminierende Worte über Andersartige oder Andersdenkende. Reaktionäre Blogs wie „Political incorrect“ zelebrieren das seit Jahren. Und um das an dieser Stelle gleich hinzuzufügen sie gehören zwar nicht zu den Verursachern der Morde in Norwegen, aber sie gehören zum gleichen ideologischen Lager. Ironisch gesprochen: Sie konnten ja nicht ahnen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die das, was sie schreiben, auch noch Ernst nehmen, es zuspitzen, zu Ende denken und ihre eigenen menschenverachtenden Konsequenzen daraus ziehen. Wer ahnt schon, dass dem Aufruf zu den Waffen jemand folgt? 2 Die Christenheit oder EuropaKnapp acht Seiten widmet der Attentäter und Massenmörder von Oslo in seinem Manifest 2083 auch konfessionellen Fragen. An sich würde man das kaum mit Aufmerksamkeit würdigen, aber der Autor artikuliert Meinungen, die sich aus dem ideologischen Mainstream der Gesellschaft speisen. Man ist überrascht, wie viele Sätze, die Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sind, sich im Manifest spiegeln. So gehört etwa der ganz banale und auch von Vertretern der EKD immer wiederholte Satz, die liberale Theologie führe zur Selbstsäkularisierung des Christentums, zur tragenden Argumentationsfigur des religiös-konfessionellen Teils des Manifests. In diesem sich diagnostisch gerierenden Teil ergeben sich zudem zum Teil schockierende Übereinstimmungen mit den religionsästhetischen Debatten der letzten Jahre, wenn etwa über die Notwendigkeit symbolischer Aufladung von Religion philosophiert wird. Volker Weiß kontextualisiert in seinem Debattenbeitrag in Spiegel Online das Manifest in eine bundesrepublikanische Diskussion, wie sie etwa in der Zeitschrift „Junge Freiheit“ zu finden ist:
Das glaube ich auch. Was aber führt jemanden wie den Massenmörder aus Norwegen dazu, zu meinen, dass sein Programm mit einem politischen Katholizismus konservativer Prägung kompatibel sei? Wieso meint jemand, der wenige Seiten später Massenmord als Marketingmethode rechtfertigen wird, die katholische Hochliturgie sei für das Christentum essentiell? Deshalb weil gilt „that symbolism is inescable“? Und in symbolischen Akten kennt der Autor sich aus. Aufgewachsen ist der Autor zwar in einer lutherisch geprägten Welt, aber es ist eine Welt, die er zutiefst verachtet. Noch mehr verachtet er die evangelische Tradition, die aus Gotteshäusern Auditorien mache, statt sie als Orte der göttlichen Präsenz auszuweisen.
Auch wenn der Autor von sich als Protestanten spricht, sehe ich nicht, wie man bei dieser Argumentationsweise dies anders als institutionell auffassen kann. Die theologischen Argumente, die der Autor im Manifest vorbringt, sind nun eher gegenreformatorischer Natur, sie beziehen sich zum Teil direkt auf das Konzil von Trient, etwa in der Bewertung von Schrift und Kirche.
Geht man den hier ausgelegten Zitat-Spuren nach, dann stößt man darauf, das die Argumente gar nicht vom Autoren selber stammen, sondern im Cut & Paste-Verfahren übernommen wurden und zwar wie ich vermute, von einem Aufsatz von David Hagopian, in dem dieser sich mit den Gründen für Übertritte von Protestanten zum Katholizismus kritisch auseinandersetzt. Ich schließe daraus, dass der Autor sich selbst einmal mit dem Gedanken eines Übertritts zum Katholizismus intensiver beschäftigt hat. Dass er seine Argumente für einen Übertritt zur katholischen Kirche nun ausgerechnet aus einem Online-Text einer Kirche der reformierten Tradition zusammenstoppelt, hat nun seine eigene Ironie, denn der Text versammelt gleichzeitig alle Gegenargumente, die aber im Argumentationsgang keine Rolle spielen. Sich selbst charakterisiert der Autor konsequenter Weise eher als eine Art kulturellen Christen, als jemanden, der keine persönliche Beziehung zu Jesus Christus oder Gott habe, dem aber das Christentum als kulturelle und institutionelle Größe wichtig sei.
Ironischerweise könnte man ihn als einen Vertreter einer funktionalen Religionstheorie bezeichnen. Religion ist sinnvoll, wenn und insoweit sie Menschen zu Verteidigern eines reinen Europas und zu besseren Kämpfern macht. Detailliert erörtert der Autor, ob nicht auch Atheisten für die Sache kämpfen könnten, aber der Atheismus sei perspektivlos, während religiös motivierte Kämpfer über eine bessere Kampfmoral verfügten. Beispiel dafür sind ihm die Kreuzzügler und Tempelritter. Im folgenden entwirft er dann ein Kirchenprogramm, das in Deutschland in etwa dem der Deutschen Christen entspricht, nur dass eine nationale und selbstbewusste katholische Kirche (mit einem Papst als ultimativem Ritter der Christenheit) die tragende Rolle spielt und das Judentum durch den Islam ersetzt wird. Den Satz der Deutschen Christen, das Christentum müsse wieder als „Volks- und Kampfsreligion“ verstanden werden, würde der Autor des Manifests sofort unterschreiben.
Das Individuum hat ausgedient, es spielt keine Rolle mehr: „Scripture, however, informs us that God is no respecter of persons.“ Wie der Autor selbst betont, hat das mit den Realitäten der verfassten Kirche des Protestantismus wie des Katholizismus in der Welt der Gegenwart nichts zu tun. Trotzdem gibt es dieses Denken im breiten Spektrum beider Konfessionen, man denke an den Prediger, der symbolisch den Koran verbrennen wollte, oder an die täglichen und unsäglichen Ergüsse auf Kreuznet. In den Phantasien der Attentäter, das wurde schon beim Manifest des Unabombers deutlich („Es wäre also von Nutzen, die Rebellion gegen die Technologie mit einem religiösen Element zu versehen“), spielt Religion immer eine gewisse Rolle, vor allem eine funktionale Rolle. Was ihnen vorschwebt, ist vor allem im Blick auf die Institution Kirche immer eine politische Theologie im Sinne Carl Schmitts. 3 MedienreflexionEs ist auffallend, dass die öffentliche Diskussion, die doch sonst bei Amokläufern und Massenmördern gerne auf die Medien und die Computerspiele als Ursache verweist, in diesem Falle kaum auf die Mediennutzung des Täters eingegangen ist. Warum eigentlich nicht? Denn dieser Fall ist der einzige, der nachweisbar einen Zusammenhang von Mediengebrauch und Gewalteinsatz darstellt. Das gesamte Manifest durchzieht eine permanente Selbstreflexion des Mediengebrauchs, aber er ist anders geartet als es sich mancher vermutlich vorgestellt hat. Zum einen greift der Täter vor allem auf die Mainstream-Medien zurück, zum anderen kehrt er das in der öffentlichen Diskussion unterstellte Verhältnis zu den Medien (im Sinne von Ursache und Wirkung) um. An ihm wird exemplarisch deutlich, was Medienwissenschaftler schon lange vertreten, dass nämlich weniger die Medien die Gewalt bewirken, sondern vielmehr gewaltbereite Menschen sich entsprechende Medien suchen, die ihnen ermöglichen, ihre Gewaltdispositionen auszuagieren. Wikipedia Der Autor ist ein Kind der Wikipedia-Generation, er ist ein Eingeborener dieser Mediensphäre, er ist geradezu fixiert auf mediale Phänomene. Aber nicht im Sinne der konventionellen konservativen Medienkritik, die Menschen als Opfer von Medienstrategien sieht, sondern eher im Sinne der Goebbelschen Propaganda, die Medien als Mittel des Kampfes ansieht. Medien inspirieren und Medien können Ideologie distributieren, auch die Ideologien jener, die sonst keine Aufmerksamkeit finden das dokumentiert das Manifest. Es beginnt damit, dass der Autor ganz im Sinne der Autorenhinweise der Wikipedia aus der er sich ja auch ausgiebig bedient zunächst Nutzungs- und Verbreitungshinweise zu seinem Text gibt. Es setzt sich damit fort, dass er zu jedem Punkt, zu jeder Person oder jedem Ereignis einen Verweis auf die Wikipedia setzt. Es scheint, als sei die Wikipedia eine seiner zentralen Informationsquellen. Er macht sich in einem gewissen Sinne mit dem Mainstream gemein, knüpft an dessen Informationspolitik an, um seine Sache zu propagieren. Blog- und Zeitschriftenkonsum Die wichtigste Quelle im ganzen Manifest ist das Blog-Netzwerk der Anti-Islam-Bewegung, etwa die Gates of Vienna. Hier meint der Autor seine Gesinnungskameraden zu finden und hier bedient er sich bei den dort publizierten Texten zur Unterfütterung seiner kruden Ideologie. Das betrifft insbesondere die Texte des Bloggers mit dem Pseudonym Fjordman, die er seitenlang übernimmt. Aber dass es diese Gesinnungsgenossen auch in Deutschland gibt, die auch die letztlich gewählten Mittel gut heißen, kann man unschwer dem Blog PI entnehmen, in dem Autoren ihren Resonanzraum finden, die Aufrufe an das „Deutsche Volk“ publizieren, sich gewaltsam gegen das Establishment zu erheben:
Nicht zufällig diskutieren diese Islamhasser unter dem Titel Initiative 1683, was der Titelformulierung des norwegischen Manifests ja parallel läuft. Bevor man also kritisch auf Norwegen zeigt, sollte man auch auf Deutschland blicken. Es bedarf nur weniger Recherche im Netz, um auf Seiten zu stoßen, in denen nach Berufen sortierte Listen von Menschen zusammengestellt werden, die vor ein virtuelles Gericht gestellt werden sollen, um sie wegen Förderung der Islamisierung abzuurteilen. Das ist dann nicht mehr vom Denken des norwegischen Attentäters zu unterscheiden. Deutlich wird aber auch, dass die Blog-Kultur, auf die sich das Manifest bezieht, weitgehend eine anonyme Kultur ist, wo Menschen sich verlautbaren, die eben nicht für ihre Meinungen einstehen müssen, sondern sich hinter Pseudonymen verbergen. Musik Ein ganzes Kapitel seines Manifests widmet der Autor der „motivierenden Musik“. Er stellt Listen zusammen, was ein ‚Märtyrer’ wie er hören solle, um sich für den Kampf vorzubereiten bzw. den Kampf (gemeint ist dabei immer die Tötung unschuldiger Menschen) durchzuführen. Und dann kann man sich fragen, ob es „nur“ subjektive Geschmacksvorlieben sind, die ihn bei der Auswahl motivieren, oder tatsächliche Zusammenhänge. Dass als Musikempfehlung der Soundtrack des Computerspiels Age of Conan mit der norwegischen Sängerin Helene Boksle genannt wird, ist vielleicht nahe liegend, ist doch schon die Vorlage menschenverachtend. Deutlich wird an diese Stelle, dass für den Täter der Übergang zwischen Computerspiel und Realität fließend ist. Dieselbe Motivationsmusik wie im Computerspiel soll auch in der Wirklichkeit eingesetzt werden. Ist es ein Zufall, dass der Autor sich auch vom Herrn der Ringe und dessen Backgroundmusik inspirieren lässt? Ist es nicht so, dass hier auch ein Teil der dortigen Ideologie mittransportiert wird, wie es Hannes Stein es im Interview mit der taz formuliert?
Aber es funktioniert offenbar in seiner Komplexitätsreduktion und vereinfacht das Bekenntnis zu einer Haltung, in der der einzelne Mensch nichts mehr zählt. Dass der Mörder nach eigenem Bekunden die Musik Lux aeterna von Clint Mansell mehrere hundert Mal hört und schließlich plant, sie beim Massaker als Stimulation und Mittel der Angstunterdrückung zu verwenden, könnte also einem sachlichen Zusammenhang entsprungen sein:
Leichter ist der Kausalnexus zwischen den Liedern der schwedischen White-Power-Sängerin Saga, die der Attentäter so liebt und empfiehlt, und seinen Handlungen zu diagnostizieren.
Der Kampf der Guten gegen das Böse ist kein ewiger Kampf, sondern ein gnostischer Mythos und das Verbreiten des Lichts mit der Waffe um das Böse zu Besiegen ist die Fortsetzung der neo-nazistischen Lyrik mit anderen Mitteln. Die White-Power Sängerin Saga beteuert nun auf ihrer Website, das habe sie nicht gewollt. Wer hätte auch denken können, dass jemand die Aufforderung zum letzten Kampf Ernst nimmt? Ihr gehe es nur um friedvolle Auseinandersetzungen und ein Stück Hoffnung für die Depravierten der abendländischen Gesellschaft.
Ja, klar, wer sollte folgende Verse auch falsch verstehen?
so einfach ist das und was könnte man daran auch missverstehen? Man wird Saga und ihre Lieder sicher zu den direkten Inspirationen des Mörders zählen können. Tod der eigenen Rasse oder finaler Kampf gegen die anderen und ihre Unterstützer lautet ihre Devise. Über sie wird aber auch der rechtsradikale und antisemitische Background des Ganzen überaus deutlich. Für Saga sind die Juden die Herrscher der kapitalistischen Welt, die es zu bekämpfen gilt. Der Verfasser des Manifests spricht sich dagegen für Israel aus, das aber nur insoweit, als dieses als ein Bollwerk gegen das Vordringen des Islam begriffen wird. Ansonsten teilt er alle antisemitischen Stereotypen mit Saga. In seinem Europa haben Juden keinen Platz. Weitere Medien Es lohnt sich auch, einem etwas versteckten Hinweis nachzugehen, der vielleicht sehr viel Aussagekraft hat und den die rechte Szene nun ungerechtfertigter Weise zu ihrer Entschuldigung verwendet. In einer Notiz aus der Zeit von Oktober/November 2010 heißt es im Manifest (die Verlinkungen sind nachträglich eingefügt):
Das ist schon ein interessantes Medienkonglomerat. Die Faszination am Töten und Morden wird hier überdeutlich. Während er die Computerspiele als „Training“ nutzt, wie er selber schreibt, ist die Faszination gegenüber dem Linksterrorismus erklärungsbedürftig. Vor allem aber ist der Verweis auf die Fernsehserie Dexter interessant. Die Handlungsfigur des Serienkillers Dexter Morgan, der nach seiner Ansicht schuldig gewordene Menschen tötet, könnte nicht zuletzt der Selbstlegitimation gedient haben. Unsinnig ist die Anmutung der rechten Szene, Dexter erkläre etwas von der Tat in Oslo und Utøya. Nein, das tut es nicht. Aber es könnte zeigen, dass der Täter sich über das grundsätzliche Unrecht, das auszuüben er im Begriff war, im Klaren war, dass er sich der Verwerflichkeit seiner Tat bewusst war. Die Ähnlichkeit einer bürgerlichen Doppelexistenz, die im alltäglichen Leben als normal erscheint und die im Verborgenen dem Verlangen nach tödlicher Bestrafung der vermeintlich Bösen nachgeht, ist jedenfalls auffällig. Das würde zugleich deutlich machen, dass er voll verantwortlich für seine Taten ist und kein Schlupfloch einer Geistesgestörtheit bleibt. Die Faszination, die er gegenüber der Fernsehserie artikuliert, ist seine Faszination des Bösen an sich. Zu wissen, dass das, was man tut, böse ist, dass es zugleich Folgen zeitigt, die noch katastrophaler sind, und dass man dennoch nicht davon ablässt. Er wollte nicht Böses tun, um noch Schlimmeres zu verhindern, wie er im Manifest behauptet. Er war fasziniert vom Bösen an sich, von den Killern und politischen Mördern des 20. Jahrhunderts, die religiöse, politische, rassistische Ideologien verwenden, um ihrer Mordlust nachzugehen. Das ist der ganz banale Kern. Darum herum hat er dann 1500 Seiten Ideologie gestrickt bzw. von anderen sich stricken lassen. EpilogSoll man den Äußerungen des Massenmörders überhaupt Beachtung schenken und ihm damit jene Aufmerksamkeit zukommen lassen, nach der er so giert? Tabuisierung und Verschweigen ist aber keine Antwort. Meines Erachtens ist die beste Antwort die, die der Autor so fürchtet und die er zu bekämpfen und zu liquidieren sucht: die kulturhermeneutische Analyse seines Textes, das Dekonstruieren seiner Handlung, die psychologische Untersuchung seiner Taten. Die Entscheidung, ob man sich mit diesem Elaborat beschäftigt, muss unabhängig von den behaupteten Medienstrategien seines Verfassers getroffen werden, sonst macht man sich von ihm abhängig. Die bleibenden Fragen Warum kann der Wille der Menschen, gegenüber Benachteiligten etwas Gutes in dieser Gesellschaft zu bewirken, so viel Feindschaft und Böses hervorrufen? Warum kann der Ruf nach Gerechtigkeit mit Bomben beantwortet werden? Was meinen manche zu verlieren, wenn sie anderen das Recht auf das eigene Leben, die eigene Meinung und den eigenen Glauben einräumen müssten? Wie kann mit anderen Worten „Gutmenschen“ in der Stimmungslage einer Gesellschaft zu einer negativen Kategorie werden? Warum gibt es im Christentum Strukturen, die es manchen Idioten (im klassischen Sinne) plausibel erscheinen lassen, sie könnten sich zur Rechtfertigung von Gewalt und Unterdrückung darauf berufen? Ist das nur ein Missverständnis oder liegt es nicht auch daran, dass die verfassten Kirchen diese Form der Bezugnahme nicht ausreichend geächtet haben? Gibt es eine fast übermächtige Tradition politisch motivierter Ingebrauchnahme des Christentums zum Machterhalt, der gegenüber die demokratischen und befriedenden Traditionen des Christentums in der Defensive sind? Wo endet Toleranz und wo beginnt die Notwendigkeit zur Abwehr von Intoleranz? Ist nicht der Aufruf zum bewaffneten Kampf gegen die offene Gesellschaft etwas, was um der Freiheit aller willen eben nicht toleriert werden kann? Wann muss man das „Das wird man ja noch mal sagen dürfen“ mit einem „Nein!“ beantworten? Der Linksterrorismus hat immer vom Rand der Gesellschaft agiert. Niemals konnte er darauf rechnen, dass es eine positive Resonanz seiner mörderischen Aktionen in der Gesellschaft gibt. Beim Rechtsterrorismus bin ich mir dagegen nicht so sicher. Die Argumentationsschemata am rechten Rand und in der Mitte unserer Gesellschaft, dass wir uns gegenüber einem sich verbreitenden Islam in einer Notwehrsituation befänden, die eine ausgrenzende Gewalt erlauben, sind zu ähnlich geworden. Hier gilt es, aktiv zu werden. Den Feinden der offenen Gesellschaft aber kann man nur mit Freiheit und den Argumenten einer offenen Gesellschaft begegnen. Liberalität ist das Gebot der Stunde. Darin ist Norwegen zur Zeit vorbildlich. In Norwegen entsteht allen hoffnungsvollen Beschwörungen bundesdeutscher Rechter zum Trotz gerade kein Bürgerkrieg. Sondern Norwegen betont seine Identität als politisch aufgeklärte und an Freiheit und Humanität orientierte Kultur. Darin ist Norwegen tatsächlich „kulturmarxistisch“, politisch korrekt und humanistisch zugleich. Wenn es das Ziel des Fanatikers von Oslo und Utøya war, uns das Fürchten zu lehren, dann ist ihm das nicht gelungen. Er hat uns nur deutlich gemacht, wohin die menschenverachtende Logik der Islam-Hasser und der Feinde der offenen Gesellschaftlich letztlich führt. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/72/am362.htm
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