Krankheit und Gesundheit


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Grasbüschel

Benita Joswig

Transit jenseits von Krankheit und Gesundheit

„Krankheit ist die Nachtseite des Lebens, eine eher lästige Staatsbürgerschaft. Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken. Und wenn wir alle auch vorziehen, nur den guten Ruf zu benutzen, früher oder später ist doch jeder von uns gezwungen, wenigstens für eine Weile, sich als Bürger jenes anderen Ortes auszuweisen.“[1]

Passkontrolle

Wer erkrankt, hat es mit einem Wust von Papieren zu tun und das sich „Ausweisen“ findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Unentwegt wird der Name, die Unterschrift verlangt, das Geburtsdatum, die Wohnadresse. Biografische Eckpfeiler, die ins Wanken gekommen sind. Auf einem Fuß ergänzt man die Zugehörigkeit der Krankenkasse und in Stichworten wird die Erkrankung mit Worten zusammen gefasst, als lege man eine Schlinge um sie, führe sie an der Leine - nein, sie mich - und bringt mich an die Grenze, ins andere Land, an den Ort, wo sie mit dem Tod ins Geschäft kommt. Der alte Schnitter, der alle Grenzen sprengt und auf Papiere verzichtet, macht sich warm und redet mit.

Tageslicht

Es ist genau genommen nicht nur eine Staatsbürgerschaft, die einem zu Teil wird, sondern man sitzt zu zweit im Wartesaal. Nun wird es deutlich, die Geburt könnte Erbe werden. Dazwischen liegt bzw. sitzt die Krankheit. Wir reden also zu dritt. Es ist mitten am Tag. Die Diagnose „unheilbar“ verbindet uns. Wir flüstern als sei es in der Nacht, wenn die Kinder schlafen. Wir werden zusammen bleiben und den Pass fälschen, den Ort jenseits dieser zwei Staatsbürgerschaften suchen. Es ist Spätnachmittag. Willst du leben? fragt der Tod. Und in dieser Frage steckt das andere Land. Jede gesunde Zelle packt ihren Koffer.

Infusionen

Das Gift tropft in den Körper. Es wird Nacht. Der Tod durchsucht das Gepäck. Der Tod hält sein Versprechen nicht ganz. Wir streiten. Die Zellen atmen um die Wette. Meine Lungenflügel, Mantas, Reisegefährten mit Geschwüren, denen das Gift gilt. Sie schweben - lautlos.

Eine Gesunde kommt in den Raum und sagt, dass ich ja gut aussehe. Das ist der Tod, der schminkt sich immer wieder, er ist mit auf der Reise. Sie sei aber von weit her gekommen, sag ich.

Mein Kumpel kommt. Hier, jetzt zeichnen wir. Ich fang an und du zeichnest hinein – abgemacht. Abgemacht. Medikamente - Dokumente des Überlebens.

Ein Benediktiner legt mir seine Pfingststola um.

Vertraute nähen das Segel.

Das Boot wartet.

Ausstieg

Wir steigen in das Boot, die Grenzmitte ist im Fluss. Wir passieren mit den falschen Pässen – eine Handvoll Grasbüschel. Die Landkarte ist der Körper. Um einen guten Ruf geht es nicht. Der Tod hat die Krankheit im Arm und verabschiedet sich. Du wolltest leben, sagt er.


[1]    Susan Sonntag, Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern, Fischer 2/2005, S. 9




Barbara Bux und Benita Joswig: Zeichnungen 2010/11, Bleistift

Barbara Bux und Benita Joswig arbeiten als Künstlerinnen in den letzten 20 Jahren immer wieder zusammen. Herausragende Projekte (Grünen Ohren (1997), Parament (1998), Schlafboote (2009); www.buxwerke.de / www.benita-joswig.de

29.01.2011 Bux

29.01.2011 Bux / 04.02.2011 Joswig

 

01.02.2011 Bux

01.02.2011 Bux / 04.02.2011 Joswig

 

05.2011 Joswig

05.2011 Joswig/06. 2011 Bux

 

23.04.2011 Joswig

23.04.2011 Joswig/06.2011 Bux

 

06.2011 Joswig/Bux

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/72/bj2.htm
© Benita Joswig, Barbara Bux, 2011