Krankheit und Gesundheit


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Darf man heute überhaupt noch krank sein?

Die Bedeutung der Rechtfertigung für die Werbung

Denise Groth

Fernsehwerbung früher

Zu sehen ist eine Frau in einer Küche. Sie hat kurzes gewelltes Haar und trägt eine grün-weiß-karierte Schürze. Die Frau packt ihre Einkäufe aus, brät ein Ei, schält Kartoffeln, kocht Tee, macht das Bett…kurz: Sie kümmert sich um den Haushalt. Dann eine Stimme aus dem Off, die sagt: „Kopfschmerzen? - kennt sie nicht. Sie weiß, Aspirin hilft ihr. Aspirin in der neuen Solo-Siegel-Packung. Aspirin von Bayer.“[1]

Bei diesem Szenario handelt es sich um einen Werbespot eines bekannten Pharmakonzerns aus den 1950er Jahren. Das Bild der Frau, welches hier dargestellt wird, ist das einer Hausfrau, die allen ihren Pflichten im Haushalt gewissenhaft nachkommt. Nach dem Einkauf beginnt sie sofort mit dem Kochen und nebenbei kümmert sie sich auch noch um das Aufschütteln der Betten und den Tee. Dabei hat sie stets ein Lächeln auf den Lippen und macht keine Pause. Diesen stressigen Alltag zu bewältigen ist ihr möglich, weil sie eine Tablette gegen Kopfschmerzen einnimmt. Sie ist klug genug zu wissen, dass diese Tablette ihr helfen wird. So suggeriert es der Werbespot.

Diese Frau entspricht dem Stereotyp der „Hausfrau“, das heute nicht mehr existiert. Inzwischen sind Frauen auch in Führungsebenen zu finden, wenn auch deutlich seltener als Männer. In der Privatwirtschaft werden Führungspositionen immerhin fast zu einem Viertel von Frauen besetzt. Im öffentlichen Dienst ist es ein Drittel.[2] Frauen machen also Karriere und kümmern sich nicht mehr gezwungenermaßen um den Haushalt. Demnach ist uns die vielbeschäftigte Frau, wie sie in der Werbung von damals dargestellt wird, heute gar nicht fremd. Die Anforderungen sind jedoch andere. So schreibt Helga Kuhlmann, dass Frauen, die sich um Führungspositionen bewerben, der Erwartung begegneten, besser sein zu müssen als ihre männlichen Kollegen. Wenn sie Kinder und Karriere wollen, stünden Frauen oft an der Grenze zur Überforderung. [3] Die Meisterung des Alltags bedeutet dann einen großen Kraftaufwand. Kuhlmann schreibt außerdem „Karrierefrauen“ seien häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, ihre weibliche Rolle im Haushalt und als Mutter nicht adäquat zu erfüllen. Für die Unannehmlichkeiten, die die Rollenabweichung mit sich bringt, würden sie dann selbst verantwortlich gemacht.[4]

Das Wort „Karrierefrau“ hat, meiner Meinung nach, leider auch heute noch einen bitteren Beigeschmack. Eine Karrierefrau scheint eine Frau zu sein, die sich nur um ihre Karriere und ihr Ansehen kümmert und der die Familie nicht wirklich wichtig ist. Dass gerade Frauen, die Karriere und Kinder unter einen Hut bringen wollen, nicht nur besondere Anerkennung, sondern vor allem auch besondere Unterstützung verdienen, wird leider nur schleppend realisiert. Auch sie greifen vermutlich zu Kopfschmerztabletten. Demnach betrifft die Werbung von vor 60 Jahren trotz der erfolgten Emanzipation auch gegenwärtig noch die Situation erfolgreicher Frauen.

Was aber irritiert neben dem Frauenbild an dieser Werbung? Ich frage mich, warum diese Frau keine Pause macht? Wieso kennt diese Frau keine Kopfschmerzen? Warum nimmt sie, schon bevor der Kopfschmerz da ist, eine Tablette? Darf sie keine Pause machen? Warum muss alles perfekt und nach Plan laufen? Sind ihre Kopfschmerzen nicht auch ein Zeichen der Überforderung, ein Hinweis darauf, dass ein Ausspannen notwendig ist? Was wäre, wenn die Protagonistin aus der Werbung ausruhte? Gibt es jemanden, vor dem sie sich rechtfertigen muss? Halten wir diese Frage nun fest und betrachten wir eine Werbung aktuelleren Datums.

Fernsehwerbung heute

Szene 1: Marktplatz. Draußen. Es regnet: Ein Verkäufer auf einem Markt gibt seinem Kunden eine Kräutertopf und legt sich anschließend seine Hand an seinen Hals. Eine Stimme sagt: „Wer befreit mich von Halsschmerzen?“

Szene 2: Ein Wohnzimmer. Zwei Kinder, die mit einem Modellflugzeug spielen und durch das Wohnzimmer laufen. Eine Frau in einer Wolljacke, Schweiß auf der Stirn, erschöpft aussehend, lehnt an der Wand und atmet tief. Eine Stimme sagt: „ Wer befreit mich von Fieber?“

Szene 3: Ein Mann steht am Küchenfenster, draußen regnet es. Er hält eine rote Rose in der einen Hand. In der anderen Hand hält er ein Taschentuch. Er niest. Eine Stimme sagt: „Wer befreit mich von Schnupfen?“

Szene 4: Der Mann schüttet ein Pulver aus einem Beutel in ein Glas Wasser, trinkt die Mischung. Eine Stimme sagt: „Aspirin Complex.“ Es befreit die Nase, löst den Erkältungsstau auf und öffnet den Weg für den Selbstheilungsprozess.“

Szene 5: Am Flughafen. Der Zuschauer guckt über die Schulter einer Frau und sieht den Mann mit der Rose in der Hand auf sich zukommen. Änderung der Perspektive. Wir sehen wie der Mann die Frau umarmt. Eine Stimme sagt: „Trotz Erkältung voll im Leben! Aspirin Complex.“[5]

Diese Werbung stammt aus dem Jahr 2008 und gibt Aufschluss darüber, worauf es aktuell ankommt. Da die Werbung drei verschiedene Beispiele zeigt, möchte ich diese auch kurz nacheinander in den Blick nehmen:

Den Mann, der in der oben beschriebenen Werbung an einem regnerischen Tag auf dem Markt steht, quälen Halsschmerzen. Für den Zuschauer ist nicht erkennbar, ob die Halsschmerzen schon seit Tagesanfang da waren, oder ob sie im Laufe des Tages aufgekommen sind. Was aber deutlich wird, ist, dass der Mann befreit werden möchte. Es wird suggeriert, dass die Stimme aus dem Off, die danach fragt wer ihn von den Halsschmerzen befreit, seine eigene Stimme ist. Die Möglichkeit den Marktstand zu schließen um nach Hause zu gehen und die Krankheit dort auszukurieren, scheint nicht zur Debatte zu stehen. Es muss, möglichst schnell, eine Befreiung her. Der Mann muss „trotz Erkältung voll im Leben“ sein.

Die Frau, in der zweiten Szene der oben beschriebenen Werbung scheint die Mutter zweier Kinder zu sein. Sie ist krank, hat Fieber, liegt mit dieser Krankheit aber nicht im Bett, sondern steht erschöpft im Wohnzimmer, wo sie sich um ihre beiden Kinder kümmert. Auch sie scheint eine schnelle Befreiung zu brauchen, damit es ihr wieder besser geht. Schließlich wird hier die Frage gestellt: „Wer befreit mich von Fieber?“ Es scheint so, als gäbe es keine andere Möglichkeit als dass sie selbst ihre Kinder beaufsichtigt. Um „trotz Erkältung voll im Leben“ zu sein, fragt sie nach Befreiung.

Dem Mann in der dritten Szene der Werbung geht es offensichtlich nicht viel besser. Er will seine Partnerin - dass es sich um seine Partnerin handelt, schließe ich daraus, dass er eine rote Rose in der Hand hält, die üblicherweise für Liebe steht – vom Flughafen abholen. Er muss also hinaus in den Regen und das, obwohl er Schnupfen hat. Auch er muss „trotz Erkältung voll im Leben“ sein.

Was all diese Personen gemeinsam haben, ist, dass sie Anforderungen erfüllen müssen. Der Mann auf dem Markt kann nicht einfach zuhause bleiben oder seinen Stand dicht machen und im Bett bleiben. Wahrscheinlich verdient er mit seinem Stand auf dem Markt seinen Lebensunterhalt und kann sich einen Umsatzausfall nicht leisten. Die Frau muss der Anforderung genügen, ihre Kinder zu beaufsichtigen. Sie kann ihre Kinder nicht einfach sich selbst überlassen. Was würden denn die Nachbarn sagen, wenn sie mitbekämen, dass die Mutter im Bett liegt, während ihre Kinder sich womöglich selbst um ihr Abendessen kümmern müssen? Dann wäre sie womöglich eine Rabenmutter. Der Mann mit der Rose hat seiner Partnerin vermutlich versprochen, sie vom Flughafen abzuholen. Entweder hat sie die Anforderung an ihn gestellt oder er selbst hat die Anforderung an sich selbst gestellt. Vermutlich wollen alle drei Protagonisten ihren Anforderungen auch tatsächlich entsprechen. Der Mann auf dem Markt verkauft ja vielleicht gerne sein selbst angebautes Gemüse. Die Mutter verbringt vermutlich gerne Zeit mit ihren Kindern. Der Mann hat sich doch wahrscheinlich schon darauf gefreut, seine Partnerin endlich wiederzusehen und sie abzuholen. Nur kommt all diesen Personen eben die Erkältung dazwischen. An diesem Punkt kommt dann das Medikament ins Spiel. Um den Anforderungen gerecht zu werden, gibt es tatsächlich einen Befreier und zwar Aspirin Complex. Das Arzneimittel verspricht die Befreiung. Um der Fragen nachzugehen, ob auch diese Personen sich rechtfertigen müssen, soll nun zunächst dargestellt werden, was Rechtfertigung heute eigentlich bedeutet.

Rechtfertigung heute?

Rechtfertigung - Was bedeutet das heute eigentlich? Diese Frage hat sich auch Wilfried Härle gestellt: „ Wie kann Rechtfertigung – als das Zentrum der reformatorischen, genauer der lutherischen Frömmigkeit, Verkündigung und Theologie - heute verstanden, verkündigt und geglaubt werden, und zwar so, dass darin das Wesentliche, ja letztlich das Ganze des christlichen Glaubens verstehbar, erfahrbar und erlebbar wird?“[6] Für Härle ist klar, dass „rechtfertigen“ heute vor allem so gebraucht wird, dass man sich selbst rechtfertigt, beweist, dass man im Recht ist und begründet, warum man etwas auf eine bestimmte Art und Weise gemacht hat. Fremd hingegen sei uns die Vorstellung, einen anderen Menschen zu rechtfertigen, der gar nicht im Recht ist, so Härle.[7] Für Härle gibt es allerdings nicht nur diesen einen sprachlichen Einwand. Auch die Begriffe „Gerechtigkeit“ und „Glaube“ seien, so Härle, in Bezug auf die heutige Bedeutung von Rechtfertigung von großer Bedeutung.[8]

Nicht nur die o.g. sprachlichen Probleme versucht Härle zu lösen, auch setzt er den folgenden sachlichen Einwänden etwas entgegen: Ist das Bild eines zornigen Gottes, der seinen eigenen Sohn für die Sünden der Menschen opfert, denn heute überhaupt annehmbar?[9] Ist das Menschenbild, das mit der Rechtfertigungslehre vermittelt wird, nicht zu negativ? [10] Hat Rechtfertigung überhaupt noch eine Bedeutung für die Gegenwart?[11]

Kommen wir nun zu Härles Lösungsvorschlägen, beginnend mit der Gegenwartsbedeutung. Härle schreibt, es seien die gesellschaftlichen Leistungsanforderungen, die das Thema heute aktuell machen. So erhofften sich nicht nur Jugendliche und Erwachsene, sondern auch Kinder Anerkennung und befürchteten Ablehnung.[12] Wichtig dabei sei, so Härle, der Stellenwert der Leistungsanforderungen. „Hängt von ihrer Erfüllung ab, ob ein Mensch die Anerkennung und Daseinsberechtigung zugesprochen bekommt, ohne die er nicht leben kann; oder kann er von dieser Anerkennung schon ausgehen und geht es ´nur noch` um das, was unter dieser Voraussetzung von ihm in seinem Leben gefordert und erwartet wird?“[13] Dass die Beantwortung dieser Frage einen großen Unterschied bedeutet, zeigt Härle damit, dass Menschen, die sich anerkannt und bejaht fühlten, viel eher gute Leistungen erbringen, als Menschen, die das Gefühl haben, durch ihre Leistungen erst die Berechtigung für ihr Dasein erbringen zu müssen.[14] Rechtfertigung ist also auch in der Gegenwart von großer Bedeutung.

Wie aber sieht Härle nun das Menschenbild? Das Bild eines moralisch verkommenen und minderwertigen Menschen lehnt Härle ab.[15] Natürlich gebe es auch solche Menschen, aber aus reformatorischer Sicht liefe vor allem der moralisch hochstehende Mensch, der sich nichts vorzuwerfen hat, Gefahr, nicht zu erkennen, dass er der Rechtfertigung durch Gott bedarf. Der Mensch sei, so Härle, auf das angewiesen, was ihm von Gott gegeben wird. Somit vertrete der Mensch, der behauptet, ihm wäre in seinem Leben nichts geschenkt worden, eine Haltung die falsch sei. Schließlich habe der Mensch ja zunächst sein Leben, wie auch Kraft, Gesundheit und Intelligenz erhalten, die für den Erfolg im weiteren Leben grundlegend sind.[16] Im Sinne der Rechtfertigung kann und muss sich der Mensch sein Lebensrecht also gar nicht verdienen, sondern bekomme von Gott bedingungslos Lebensrecht, Würde und die Bestimmung zum ewigen Leben zugesprochen.[17]

Was bedeutet das nun für das Gottesbild? Das klingt doch so gar nicht nach einem zornigen Gott. Härle schreibt, Gott sei nicht etwa der verletzte, beleidigte, zürnende Herrscher, der durch den Opfertod versöhnt werden will, sondern Gott selbst sei Subjekt der Versöhnung und Rechtfertigung, nicht Objekt. Gott wolle nicht versöhnt werden. Er sei selbst derjenige, der versöhnt. Härle schreibt die Liebe Gottes sei nicht etwa das Resultat des Rechtfertigungsgeschehens, sondern der Beweggrund dafür.[18] Weil Gott die Menschen liebt, gab er seinen Sohn. Das bedeute jedoch nicht, dass Gott nicht zornig ist. Der Zorn Gottes widerspreche nicht seiner Liebe, so Härle, sondern qualifiziere diese Liebe geradezu als brennende heilige Liebe. Liebe, die nicht zornig über die Sünde ist mit der sich der Mensch, also das geliebte Gegenüber, schadet, sei weniger Liebe, als vielmehr Nettigkeit oder Konfliktscheu, so Härle.[19] Dabei stellt Härle den Unterschied zwischen Sünde und Sünde heraus: „Gottes Zorn richtet sich also gegen die menschliche Sünde, seine vergebende, zurechtbringende Liebe gilt hingegen den Sündern.“[20] Härle ist demnach der Meinung, dass nur, wenn Gott über das Schlechte, die Sünde, zornig ist, er den Menschen in höchster Weise liebt. Der Zorn über die Sünde und die Liebe gegenüber den Sündern macht aber deutlich, dass das Gottesbild nicht auf den zornigen Gott reduziert werden kann, sondern der liebende Gott fokussiert werden muss.

Wie sind nach der Bestimmung von Gegenwartsbedeutung, Menschen- und Gottesbild denn nun die sprachlichen Stolpersteine „Glaube“, „Gerechtigkeit“ und „Rechtfertigung“ zu verstehen? Härle setzt Glauben mit Vertrauen gleich. Dieses Vertrauen sei, so Härle, die Antwort auf Gottes Rechtfertigung am Menschen.[21] In diesem Sinne versteht Härle auch Gerechtigkeit. Gerechtigkeit sei das, „ […]was die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch schafft und erhält.“[22] Gottes Gerechtigkeit definiert Härle als dessen Treue. Gott sei den Menschen treu und darauf setze der Mensch sein Vertrauen. Rechtfertigung ist für Härle demnach das, was damals wie heute in der Treue Gottes und dem Vertrauen der Menschen geschieht.[23]

Werbung als Spiegel der Gesellschaft?

Hat die Werbung aus den 1950er Jahren doch deutliche Irritationen und Fragen bei mir hervorgerufen, so ist sie auch ein Bild der damaligen Zeit. Ist die zuletzt beschriebene Werbung ebenfalls charakteristisch für den Umgang mit Anforderungen und Krankheit in der heutigen Zeit? Nicht nur Härle macht deutlich, dass die Anforderungen der Gesellschaft sehr hoch sind, auch eine Umfrage der Bertelsmannstiftung aus dem Jahr 2007 zeigt, dass die Arbeit über der eigenen Gesundheit steht. So gaben 71% der Befragten an, dass sie innerhalb der letzten zwölf Monate mindestens einmal zur Arbeit gegangen sind, obwohl sie sich krank fühlten. 30% taten dies sogar gegen die Empfehlung ihres Arztes.[24]

Diese Ergebnisse zeigen, dass es einem Großteil der Menschen wichtiger ist zur Arbeit zu gehen, als auf die eigene Gesundheit zu achten. Die Gründe für diese Entscheidung lagen bei der Umfrage mehrheitlich im Pflichtgefühl im Allgemeinen oder in der Rücksicht auf Kollegen. Aber auch die Angst vor beruflichen Nachteilen oder Arbeitsplatzverlust wurden genannt.[25]Den Anforderungen im Beruf nachzukommen, scheint für die Menschen demnach von großer Bedeutung zu sein. Um Anerkennung zu erlangen, macht es eventuell auch keinen guten Eindruck nicht bei der Arbeit zu sein.

Beide Werbespots spiegeln also tatsächlich die Gesellschaft wider und die Anforderungen, die an die in ihr lebenden Menschen gestellt werden.

Rechtfertigung heute und die Werbung

Welche Bedeutung haben Härles Ausführungen jetzt aber für die Protagonisten der Werbung und somit auch für die Gesellschaft, die sie repräsentieren? Ändert die Rechtfertigung etwas an ihrer Situation? Ja, das tut sie.

Dass Anerkennung den Menschen in der Regel von außen zu Teil wird, dass sie sich Anerkennung von anderen Menschen wünschen, ist insofern schwierig, als dass sie diese Anerkennung nicht immer erhalten. Anerkennung bekommt der Mensch aber durch Gott. Helga Kuhlmann schreibt:

„Wenn einer Person die Anerkennung und die Liebe anderer versagt bleiben, wenn sie sich selbst nicht mehr anerkennen kann, auch aufgrund moralischer oder rechtlicher Schuld, lädt Gottes Rechtfertigung sie ein, noch einmal neu anzufangen, weil er sie noch immer und wieder neu schätzt.“[26]

Somit könne die Erfahrung von Gott gerechtfertigt zu sein, ein Gefühl der Sicherheit und Zuversicht hervorrufen, so dass der Mensch frei werde um unangemessene Erwartungen anderer zu erkennen und diese dann zurückzuweisen.[27] Was nun unangemessene Erwartungen sind, liegt wohl im Auge des Betrachters. Es ist in den meisten Fällen keine unangemessene Erwartung seiner Arbeit nachzukommen. Es ist in den meisten Fällen auch keine unangemessene Erwartung sich um die eigenen Kinder zu kümmern, so wie es in den meisten Fällen auch keine unangemessene Erwartung ist, den Partner oder die Partnerin vom Flughafen abzuholen. Auch in der „Hausfrauen-Werbung“ ist es nicht unbedingt eine unangemessene Erwartung, etwas im Haushalt zu machen. Dies bezieht sich allerdings auf die meisten Fälle. In besonderen Situationen können all diese Erwartungen, die in der Regel als selbstverständlich empfunden werden, tatsächlich unangemessen sein. Eine dieser besonderen Situationen ist die Krankheit bzw. der Kopfschmerz. Sie verändert die Bedingungen und kann dazu führen, dass eine natürliche Erwartung zu einer unangemessenen Erwartung werden kann. Dann ist das Auge des Betrachters, welches relevant sein sollte, das eigene Auge. Wenn ich mich nicht dazu in der Lage fühle, die an mich gestellte Anforderung zu erfüllen, dann muss ich das auch nicht. Ich muss mich vor niemandem rechtfertigen. Das ist so, weil ich durch Gott gerechtfertigt bin. Nun könnte man dagegen einwenden, dass es sehr wohl eine christliche Pflicht zur Rechtfertigung auch vor anderen Menschen gibt. Zum ersten Teil des Glaubensbekenntnis, den Glauben an Gott den Schöpfergott, schrieb Martin Luther: „Ich glaube, daß Gott mich geschaffen hat samt allen Kreaturen […][28] Dies beschreibt die Beziehungshaftigkeit des Menschen zu seinen Mitmenschen und auch den Tieren. Insofern der Mensch immer in ein Beziehungsgefüge integriert ist, betreffen seine Handlungen auch immer andere Menschen. Aus diesem Grund kann eine Rechtfertigung gegenüber der Mitschöpfung in vielen Fällen durchaus erwartet werden. Ich bin allerdings der Meinung, dass es Situationen (Krankheitssituationen) gibt, in denen der Mensch sich an die Rechtfertigung durch Gott erinnern sollte, daran, dass er nichts leisten, niemandem etwas beweisen muss, um anerkannt zu sein, weil er bereits von Gott angenommen ist. Jeder Mensch sollte für sich selbst erkennen, wann er an die Grenze seiner eigenen Leistungsfähigkeit gekommen ist. Krankheit führt unweigerlich dazu, dass diese Grenze schneller erreicht ist. Dies zu akzeptieren, ist nicht immer einfach, aber notwendig, um die eigene Gesundheit zu erhalten. Eine Rechtfertigung an den Gegenüber kann dann so lauten: „Ich bin krank und schaffe es deshalb leider nicht.“ Aus christlicher Sicht sollte diese Aussage dann auch respektiert werden und keine negativen Konsequenzen nach sich ziehen. Ist dies der Fall, so fällt es der kranken Person vermutlich viel leichter, die temporale Unfähigkeit eine bestimmte Leistung zu erbringen sich selbst und Anderen gegenüber einzugestehen.

Fazit

Bedeutet das nun, dass Medikamente, die schnelle Schmerzlinderung bewirken, grundsätzlich negativ zu beurteilen sind? Nein, natürlich nicht. Es gibt Situationen, in denen es sehr wichtig ist, dass jemand die Leistung erbringt, die von ihm oder ihr erwartet wird. Das ist besonders in Berufen mit besonderer Verantwortung der Fall. Wenn es sich dann um Kopfschmerzen handelt, die durch eine Tablette schnell wieder verschwinden, dann ist das aus meiner Sicht kein Problem, sondern sogar eine tolle Erfindung. Wenn die Einnahme von Schmerzmittel allerdings zum Regelfall wird, damit Leistung erbracht werden kann, sehe ich das ein Stück weit kritischer. Eine vorübergehende Schmerzbefreiung täuscht dann vielleicht darüber hinweg, dass eigentlich eine Pause vom stressigen Alltag notwendig wäre. Im schlimmeren Fall ist sie verantwortlich dafür, dass eine Krankheit nicht ernst genommen und die eigene Gesundheit somit auf Dauer gefährdet wird. Das Problem, welches ich in der Werbung sehe, ist demnach, dass suggeriert wird, dass die Frau das Medikament regelmäßig einnimmt. Das Problem, welches ich bei beiden Werbespots erkenne, ist, dass die Folgen einer Nichterfüllung der erwarteten Leistung meiner Meinung keine tragischen Folgen haben bzw. haben sollten. Dass sie eventuell negative Konsequenzen haben, ist meiner Meinung ein Problem der Gesellschaft, wenn sie primär die Leistung betrachtet, aber den Menschen dahinter vergisst. Ich halte es für wichtig, den Menschen auch in Krankheit nicht aus den Augen zu verlieren. Ist dies der Fall, so kann der Mensch im Vertrauen auf Gott und der Gewissheit seiner Treue vielleicht auch ein bisschen mehr auf sich selbst achten, um seine Gesundheit nicht aus den Augen zu verlieren.

Anmerkungen

[3]    Vgl. Vgl. Helga Kuhlmann. Abschied von der Perfektion. Überlegungen zu einer „frauengerechten“ Rechtfertigungstheologie. In: Irene Dingel (Hg.): Feministische Theologie und Gender-Forschung. Bilanz. Perspektiven. Akzente. 2003. S. 97-122. S. 102.

[4]    Vgl. ebd.

[6]    Härle, Wilfried. Rechtfertigung heute. In: Friedrich Hauschildt und Udo Hahn (Hg.). Rechtfertigung heute. Warum die zentrale Einsicht Martin Luthers zeitlos aktuell ist. 2. Auflage. Hannover. 2008. S. 65-85. S. 65-66.

[7]    Vgl. ebd. S. 66.

[8]    Vgl. ebd.. S. 67-68.

[9]    Vgl. ebd. S. 68-69.

[10]   Vgl. ebd. S. 69.

[11]   Vgl. ebd. S. 69-70.

[12]   Vgl. ebd. S. 74-75.

[13]   Ebd.. S. 75.

[14]   Vgl. ebd.

[15]   Vgl. ebd. S. 77-78.

[16]   Vgl. ebd. S.78.

[17]   Vgl. ebd. S.79.

[18]   Vgl. ebd.

[19]   Vgl. ebd.. S. 80.

[20]   Ebd.

[21]   Vgl. ebd. S. 80.

[22]   ebd. S. 81.

[23]   Vgl. ebd.

[24]   Vgl. http://www.welt.de/wirtschaft/article995037/Die_meisten_Deutschen_arbeiten_trotz_Krankheit.html 03.07.2011.

[26]   Kuhlmann. S. 111f.

[27]   Vgl. Kuhlmann. S. 110.

[28]   Luther, Martin. Der kleine Katechismus. 25. Auflage. Gütersloh. Gütersloher Verlagshaus. 1991. S.8.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/72/deg01.htm
© Denise Groth, 2011