Krankheit und Gesundheit


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Krankheit und Gesundheit bei Nick Cave

Matthias Surall

Nick Cave ist ein australischer singer/songwriter and performing artist, also Sänger, Musiker, Texter/Komponist und Dichter, außerdem noch Schriftsteller und Schauspieler. Er wurde am 22. September 1957 in Warracknabeal, Australien geboren. Sein Vater war Lehrer für englische Literatur und starb bei einem Autounfall, als Nick Cave 20 war. Das Vater-Sohn-Thema taucht seitdem beständig in seinem Werk auf. Seine Mutter war Bibliothekarin. Er wurde anglikanisch erzogen und wuchs mit Literatur auf.

Auf der High-School lernte er Mick Harvey kennen, seinen langjährigen musikalischen Weggefährten. Gemeinsam gründeten sie ihre erste Band: The Boys Next Door, deren musikalische Richtung sich als Post-Punk mit anfänglichem New Wave-Einschlag bezeichnen lässt. 1980 siedelte sich die Band in London an und benannte sich in The Birthday Party um. Die musikalische Richtung entwickelte sich nun zum Post-Punk mit neu ekstatischem Blues-Einschlag. The Birthday Party erwarben sich einen wachsenden Fankreis vor allem durch ihre legendären Live Performances.

1983 zog Nick Cave nach West-Berlin um und The Birthday Party lösten sich auf. Aus einem ursprünglich geplanten Soloprojekt entwickelte sich die Gründung der neuen Gruppe: Nick Cave and The Bad Seeds, die bis heute Bestand hat und stärker als die Band vorher auf Nick Cave konzentriert ist sowie eine größere musikalische Bandbreite von anfänglichem Post-Punk und Blues über Rock bis hin zu Balladen, Rhythm’n‘Blues, Rock’n‘Roll und auch Gospel aufweist.

1989 publizierte Nick Cave seinen ersten, mit biblischen Bezügen randvollen Roman „And The Ass Saw The Angel“, deutsch als Piper Taschenbuch unter dem Titel: „Und die Eselin sah den Engel“ erhältlich. 1990 erfolgte amoris causa ein Umzug nach Sao Paulo. 1993 dann die Rückkehr nach London. 1999 heiratete er Susie Bicks und siedelte sich bald darauf an Englands Südküste, in Brighton an, wo er mit seiner Familie bis heute lebt.

Im Jahr 2006 gründete er mit einer Rumpftruppe seiner Bad Seeds Stammformation die ‚Zweitband‘ Grinderman und veröffentlichte 2007 ein erstes Album. 2009 wurde sein zweiter Roman „The Death Of Bunny Munroe”, deutsch: „Der Tod des Bunny Munroe“, in 30 Sprachen gleichzeitig publiziert. Sein letzter Output stammt von September 2010. Es handelt sich um das zweite Album seiner ‚Zweitband‘ mit dem schlichten Titel: „Grinderman 2“.[1]

Seit den Tagen der Post-Punk-Ära mit The Birthday Party bis hin zu seinem 1996er Megaseller-Album „Murder Ballads“, das seinen bekanntesten Song, die im Duett mit Kylie Minogue gesungene Ballade „Where the Wild Roses Grow“ enthält, galt Nick Cave vorwiegend als ‚The thin white duke of Gothic Rock‘, wie einer seiner zahlreichen ‚Titel‘ lautet. Dazu trug maßgeblich seine langjährige Drogenkrankheit, die Heroinabhängigkeit, bei. Aber auch das in seinen Songs evidente, besondere Interesse an den im weitesten Sinne negativen Aspekten und Bedingungen der conditio humana inklusive Leiden, Gewalt und Tod bis hin zum Mord („Murder Ballads“!), aber auch an Wahnsinn und anderen Beeinträchtigungen. Gleichzeitig gibt es bei diesem Künstler fast durchgängig eine spezielle Affinität zu biblischen Themen. Er arbeitet sehr viel mit biblischen Bezügen und Versatzstücken und widmet sich teils implizit, teils explizit auch theologischen Themen und Fragestellungen.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Nick Cave als zeitgenössischer Künstler nicht nur, aber besonders im Hinblick auf die Frühphase seines Werkes, also auf seinen Output in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, geradezu dafür prädestiniert zu sein scheint, Gegenstand einer popkulturell-analytischen Untersuchung unter der Fragestellung zu werden, was er zum Themenkomplex „Krankheit und Gesundheit“ beizusteuern hat. Dafür habe ich zwei seiner Songs ausgesucht, die jeweils exemplarisch zu den beiden Polen des Themas passen. Im Folgenden geht es somit um eine entsprechend fokussierte Analyse und Interpretation der beiden ausgesuchten Songs.

Der erste Song „Mutiny in Heaven“, der – so meine Ausgangsthese – zum Thema Krankheit bei Nick Cave passt, entstammt dem letzten Album seiner ersten Band The Birthday Party aus dem Jahr 1983 mit dem Titel: „Mutiny“. „Mutiny in Heaven“ ist der zweite Song des ursprünglich als EP, ein Format zwischen LP und Single, erschienenen Albums.

Ich zitiere zunächst den von Nick Cave geschriebenen Songtext in seiner offiziell veröffentlichten Fassung[2], wobei ich in Klammern Zeilenangaben ergänze:

„Well ah jumpt! and fled this fucken heap on doctored wings

Mah flailin pinions, with splints and rags and crutches!

(Damn things nearly hardly flap)

Canker upon canker upon one million tiny punctures

[5]

That look like...

Long thin red ribbons draped across the arms of a lil mortal

girl

(Like a ground -plan of Hell)

Curse these smartin strings! These fucken ruptures!

[10]

Enough! Enough is enough!

(If this is Heaven ah'm bailin out)

If this is Heaven ah'm bailin out

Ah caint tolerate this ol tin-tub

So fulla trash and rats! Felt one crawl across mah soul

[15]

For a seckon there, ah thought ah wassa back down in the

ghetto!

(Rats in Paradise! Rats in Paradise!)

Ah'm bailin out! There's a mutiny in Heaven!

Ah wassa born...

[20]

And Lord shakin, even then was dumpt into some icy font

like some great stinky unclean!

From slum-church to slum-church, ah spilt mah heart

To some fat cunt behind a screen...

Evil poppin eye presst up to the opening

[25]

He'd slide shut the lil perforated hatch...at night mah body

blusht

To the whistle of the birch

With a lil practice ah soon learnt to use it on mahself

Punishment?! Reward!! Punishment?! Reward!!

[30]

Well, ah tied on...percht on mah bed ah was...

sticken a needle in mah arm...

Ah tied off! Fucken wings burst out mah back

(Like ah was cuttin teeth!!)

Ah took off!!!

[35]

(Rats in Paradise! Rats in Paradise!)

There's a mutiny in Heaven!

Oh Lord, ah git down on mah knees

(Ah git down on mah knees and start to pray)

Wrapped in mah mongrel wings, ah nearly freeze

[40]

In the howlin wind and drivin rain

(All the trash blowin round 'n' round)

From slum-heaven into town

Ah take mah tiny pain and rollin back mah sleeve

(Roll anna roll anna roll anna roll)

[45]

Ah yank the drip outa mah vein! UTOPIATE! Ah'm bailin

out!

UTOPIATE!

If this is Heaven ah'm bailin out!

Mah threadbare soul teems with vermin and louse

[50]

Thought come like a plague to the head...in God's house!

Mutiny in Heaven!

(Ars infectio forco Dio)

To the plank!

(Rats in Paradise! Rats in Paradise!)

 [55]

Ah'm bailin out!

(Hail Hypuss Dermio Vita Rex!)

Hole inna ghetto! Hole inna ghetto!

(Scabio Murem per Sanctum ... Dio, Dio, Dio)”[3]

Meine folgende deutsche Übersetzung dieses Songtextes stützt sich weitgehend auf die Übersetzung von Werner Schmitz[4]:

 

Ich bin gesprungen! und diesem verdammten Haufen auf zusammengeflickten Flügeln entflohen
Meine wild um sich schlagenden Schwingen mit Schienen und Lumpen und Krücken!
(Die verdammten Dinger flattern kaum)
Geschwür auf Geschwür auf einer Million winziger Stiche.

Die aussehen wie...
Lange dünne rote Bänder, gewickelt um die Arme eines kleinen sterblichen Mädchens
(Wie ein Grundriss der Hölle)
Diese verfluchten brennenden Schnüre! Diese verdammten Risse!
Genug! Genug ist genug!
(Wenn das der Himmel ist, dann will ich aussteigen)
Wenn das der Himmel ist, will ich hier raus!
Ich kann diese alte Blechtonne nicht ertragen
So voller Müll und Ratten! Eine ist mir über die Seele gekrochen
Für 'ne Sekunde hab ich gedacht, ich wär wieder zurück im Ghetto!
(Ratten im Paradies! Ratten im Paradies!)
Ich will hier weg! Es gibt eine Meuterei im Himmel!

Ich wurde geboren...
Und zitternd wurde ich direkt danach in ein eisiges Becken getaucht,

als wär ich ein stinkiges Dreckschwein!
Von einer Slumkirche zur anderen hab ich irgendeinem fetten Arschloch
Hinter 'nem Wandschirm mein Herz ausgeschüttet...
Ein böses vorquellendes Auge an das Gitter gepresst
Hat er das kleine Gitterfenster zugeschoben... nachts bin ich ganz rot geworden
Unterm Sausen der Rute
Mit etwas Übung hab ich bald gelernt, mich selbst damit zu bearbeiten
Strafe?! Belohnung!! Strafe?! Belohnung!!
Ich hab abgebunden... auf meinem Bett gehockt... mir eine Nadel in den Arm gesteckt...
Ich hab losgebunden! Und verdammte Flügel sind mir aus dem Rücken gewachsen

(Als hätt ich Zähne gekriegt!!)
Ich bin abgehoben!!!
(Ratten im Paradies! Ratten im Paradies!)
Im Himmel ist Meuterei ausgebrochen!
O Gott, ich komme herunter auf meine Knie
(Ich knie vor dir nieder und fang an zu beten)

Gewickelt in meine Bastardflügel erfrier ich fast
Im heulenden Wind und peitschenden Regen
(Der ganze Müll wirbelt um mich rum)
Aus dem Slumhimmel in die Stadt
Ich nehm meinen winzigen Schmerz, krempel mir den Ärmel hoch
(und krempel und krempel und krempel)
Und reiß mir den Tropfen aus der Vene! UTOPIAT! Ich will hier weg!

UTOPIAT!
Wenn das der Himmel ist, will ich hier raus!
Meine abgetragene Seele wimmelt vor Ungeziefer und Läusen
Gedanken dringen mir ins Hirn wie die Pest... in Gottes Haus!
Meuterei im Himmel!
(Ars infectio forco Dio)
Auf die Planke!
(Ratten im Paradies! Ratten im Paradies!)
Ich will hier weg!
(Heil Hypuss Dermio Vita Rex!)
Ein Loch ins Ghetto! Ein Loch ins Ghetto!
(Scabio Murem per Sanctum... Dio, Dio, Dio))

Formal wie inhaltlich stellt dieser Song ein sehr eigenes bis eigentümliches Werk aus der Feder Nick Caves dar. Der Song beginnt mit einem Schrei und entwickelt sodann eine kakophonisch anmutende musikalische Dynamik, die dem aus diversen Versatzstücken zusammengesetzten und partiell kryptischen Songtext mit seiner Verzweiflung und seinem Schmerz korrespondiert. Auch wenn eine lineare, durchgängige und einhellige Interpretation des Songs kaum möglich scheint, so lassen sich doch einige Spuren und Linien, Relationen und Zusammenhänge erkennen und ausmachen, die deutlich machen, dass der Song mehr ist als ein expressionistisches Herausschreien von Schmerz und Wut in Anbetracht der Krankheit, die schlicht Leben heißt.

Interessanterweise wird „Mutiny in Heaven“ sehr unterschiedlich interpretiert: Maximilian Dax versteht den Song primär als einen Exorzismus der Drogensucht des Sängers[5]. Robert Eaglestone hingegen spricht in seinem Essay “From Mutiny to Calling upon the author: Cave’s Religion” zunächst davon, dieser spezielle Song sei “a rejection of the God of puke and bile couched in those same terms“[6] – also davon, dass dieser Song übersetzt dies sei „eine Zurückweisung des Gottes der Kotze und Galle abgefasst in eben diesen Ausdrücken”, bevor er zusätzlich konzediert, dass es hier auch um Heroin gehe und es weithin unklar bleibe, worauf sich der Song jeweils beziehe. Amy Hanson schließlich ordnet den Song in die Rubrik “a numbing, grimly fascinating horror story“[7] ein und bezeichnet ihn als komplette Antithese zu Cave’s späterem Werk mit religiöser Thematik und mit einem höchst blasphemischen Text ausgestattet.

Schon formal betrachtet ist der Song in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Cave kreiert und benutzt hier eine Art Kunstsprache, die zum einen „wie eine Slangvariante der Bibelsprache und des alten Shakespeare-Englisch daherkommt“[8]. Zum anderen benutzt er am Ende des Songs eine Art individuell veränderte bis verfremdete Variante des Lateinischen wie er es im Jahr darauf zu Beginn des Prosatextes “Black Pearl“ im Rahmen der Liner Notes zum Album “From Her To Eternity“ wieder tun wird. Beides zusammen sorgt für eine Verfremdung, einen eigenen Stil und eine Distanz zwischen der Person des Sängers einerseits und dem Sujet andererseits bei gleichzeitiger Identifizierung des einen mit dem anderen. Letzteres wird – wie Maximilian Dax zutreffend analysiert[9] - vor allem durch die religiös anmutende Ausdrucksweise erreicht.

Inhaltlich gesehen verstehe ich diesen Song mit Dax schwerpunktmäßig so, dass der Sänger hier vor allem seine Drogensucht exorziert. Nick Cave war zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Songs selber schon seit geraumer Zeit heroinabhängig. Die Art und Weise, wie das Thema Drogensucht in diesem Song angegangen wird, legt den Schluss nahe, dass Nick Cave seine eigene Heroinabhängigkeit als Krankheit versteht, für die er sozusagen ein Therapeutikum sucht. Allerdings sehe ich die titelgebende „Meuterei im Himmel“ nicht als weiteren, mit dem Exorzismus der eigenen Drogensucht nur lose verbundenen Punkt, sondern als direkt damit verbunden. Denn offensichtlich ist der Himmel, um den es hier geht, nichts anderes als der Drogenhimmel, also der Himmel, der allen Junkies vorgegaukelt wird, wenn sie nur kräftig ‚drücken’! Das zeigt die in Z. 11f. des Songtextes auf die bildhafte Beschreibung der Heroinsucht in den Zeilen 4 – 9 unmittelbar folgende Aussage: If this is heaven ah’m bailin’ out. Wenn das (this), diese Pein der höllischen (vgl. Z. 8!) Sucht, der Himmel sein soll, dann kann die aktuelle Devise nur „Meuterei“ lauten, dann ist (Fahnen)Flucht angesagt! Ein weiterer Hinweis zur Stärkung dieser These vom Drogenhimmel findet sich in Z. 31f, wo berichtet wird, dass dem Sänger direkt nachdem er sich eine ‚Ration’ gespritzt hat, Flügel wachsen, als ob ihm also die Droge Flügel verliehe, ihm Anteil am Himmel verschaffe wie es bei Engelswesen vorausgesetzt wird. Zu dieser These vom Drogenhimmel passt zudem die Ausdrucksweise in Z. 16, 34 und 54, wo jeweils von “Rats in paradise“ die Rede ist. Dieses himmlische Paradies ist somit keineswegs klinisch rein sowie moralisch sauber und integer, sondern vielmehr so, dass hier der Drogenwurm drin ist, dass hier Verwesung, Plagen und Schmerzen (vgl. pars pro toto nur Z. 41 und 48f.) angesagt sind, so dass die Ratten angezogen werden, bevor sie all das Elend erkennen und das sinkende Schiff verlassen wollen.

Der inhaltliche Höhepunkt des Songs findet sich in Z. 36f, wo der Sänger sich wie ein Beter im alttestamentlichen Psalter direkt und demütig an Gott wendet und vor ihm niederkniend zu ihm betet. Die eigene Aktivität, den Drogenhimmel zu verlassen und damit den Weg weg von der Krankheit der Drogenabhängigkeit, macht also nur Sinn, kann nur gelingen, wenn gleichzeitig Gott sich des Sängers erbarmt! Auf der Basis dieses Verständnisses kann ich im Hinblick auf diesen Song unmöglich von Blasphemie sprechen, auch wenn Nick Cave in Z. 22 – 27 eine polemische Breitseite gegen die kirchliche Beichtpraxis schießt – aber dabei geht es ja eben um eine kirchliche Praxis und nicht um einen Glaubenssatz oder gar um Gott selber! Vielmehr interpretiere ich den Schwerpunkt und Tenor des Songs so, dass hier mit dem Exorzismus der eigenen Drogensucht des Sängers eine kritische Breitseite gegen menschliche Himmelsbasteleien geschossen wird. Will sagen: Nicht der vermeintliche Drogenhimmel, der durch den Einsatz von Drogen angeblich erreichbare Himmel, ist der wirkliche Himmel, denn der Himmel kann per definitionem nicht menschlicherseits erreicht, zusammengebastelt oder zurechtgezimmert werden, sondern ist einzig und allein Gottes unverfügbares Revier und Reich. Eine wirklich hilfreiche Perspektive eröffnet somit nicht der Drogenkonsum, sondern einzig das demütige Gebet zu Gott, das um die wahren Relationen zwischen Gott und Mensch weiß und diese beachtet und wahrt. All das eine bemerkenswerte Erkenntnis und Aussage für einen schwer heroinabhängigen Künstler, der erst 6 Jahre später mittels einer Entziehungskur von der Droge wegkommen sollte.

Die „Meuterei im Himmel“ ist also letztlich nichts anderes als die Meuterei gegen das Heroin, der Aufstand gegen die krank und abhängig machende Droge, der Versuch, von ihr, von ihrer Macht wegzukommen, sich den mit ihr verbundenen vermeintlichen Heilsversprechen zu entziehen. Der Widerstand gegen die eigene Drogenabhängigkeit ist gemeint, nicht der Widerstand, der Aufstand gegen Gott.

Und die Überwindung der Drogensucht als Krankheit, mithin eine Gesundung, kann nur unter zwei Prämissen gelingen:

  1. Die Anerkennung im Sinne des Eingeständnisses, also die Benennung und Beschreibung sowie dann auch die Bekämpfung der eigenen Abhängigkeit und Krankheit.
  2. Die Hilfe Gottes, die erbeten werden kann und will: „Ah git down on my knees“.

So gesehen ist der Weg aus der Abhängigkeit und Krankheit nur quasi synergetisch im Zusammenspiel von menschlichem Eingeständnis der Krankheit und göttlichem Zugeständnis von Hilfe möglich.


Der zweite Song „God’s Hotel“, der meines Erachtens zum Thema Gesundheit bei Nick Cave passt, geht auf das Jahr 1986 zurück, weshalb er in den „Complete Lyrics“ den Texten des Albums „Your Funeral, My Trial“ aus eben diesem Jahr zugeordnet wird. Die einzig zugängliche Aufnahme dieses Songs von Nick Cave and the Bad Seeds, eine live eingespielte Fassung für eine Radiosendung, datiert jedoch aus dem Jahr 1992 und findet sich auf der 2005 erschienenen 3-CD-Kompilation „B-Sides and Rarities“.

Da der Text der von Nick Cave and the Bad Seeds aufgenommenen und veröffentlichten Version dieses Songs stark von der in den „Complete Lyrics“ abgedruckten Fassung[10] abweicht, aber gleichwohl als Basis für diese Analyse des eingespielten Songs und damit abrufbaren Kunstwerks dient, führe ich ihn im Folgenden an:

Everybody's got a room

Everybody's got a room

Everybody's got a room

In God's Hotel.

Everybody's got a room.

Well you'll never see a sign hanging on the door

Sayin ‘There ain’t no rooms available in here anymore’.

Everybody’s got wings

Everybody’s got wings

10 

Everybody’s got wings

In God's Hotel.

Everybody's got wings.

You'll never see a sign hanging on the door

Sayin ‘At no time may both feet leave the floor in this hotel anymore’

15

Everybody’s got a harp

Everybody's got a harp

Everybody’s got a harp

In God's Hotel.

Everybody got a harp.

20

You'll never see a sign hanging on the wall

Sayin ‘There ain’t no harp-playing allowed in here anymore’

Everybody holds a hand

Everybody holds a hand

Everybody holds a hand

25 

In God's Hotel.

Everybody holds a hand.

You'll never see a sign hanging on the door

Sayin ‘There is absolutely no hold-handing in this house allowed anymore’

Everybody is blind

30

Everybody is dumb

Everybody’s (be)coming blind

In God's Hotel.

Everybody is blind.

You'll never see a sign hanging on the door

35

Cause blind people can’t see anyway in that hotel anymore.

Everybody is deaf

Everybody is deaf

Everybody is deaf

In God’s Hotel

40

Everybody is deaf

You'll never see a sign hanging on the bathroom-wall

Sayin ‘There ain’t no deaf people allowed in here anymore’

Everybody plays piano

Everybody plays piano

45

 Everybody plays piano

In God’s Hotel

Everybody plays piano

You'll never see a sign hanging on the door

. . .

50

Everybody got Heaven

Everybody got Heaven

Everybody got Heaven

In God's Hotel.

Everybody got Heaven.

55

You'll never see a sign scribbled on the toilet door

Sayin ’Let Rosy get your Heaven,

Dial 666-84!’

Und meine deutsche Übersetzung dazu:

 

Jeder hat ein Zimmer
Jeder hat ein Zimmer
Jeder hat ein Zimmer
In Gottes Hotel
Jeder hat ein Zimmer
Du wirst nie ein Schild an der Tür hängen sehen,
auf dem steht: „Hier sind keine Zimmer mehr frei“

Jeder hat Flügel
Jeder hat Flügel
Jeder hat Flügel
In Gottes Hotel
Jeder hat Flügel
Du wirst nie ein Schild an der Tür hängen sehen,
auf dem steht: „Zu keiner Zeit dürfen nun noch beide Füße den Boden in diesem Hotel verlassen“

Jeder hat eine Harfe
Jeder hat eine Harfe
Jeder hat eine Harfe
In Gottes Hotel
Jeder hat eine Harfe
Du wirst nie ein Schild an der Wand hängen sehen,
auf dem steht: „Hier ist das Harfe spielen nicht mehr erlaubt“

Jeder hält eine Hand
Jeder hält eine Hand
Jeder hält eine Hand
In Gottes Hotel
Jeder hält eine Hand
Du wirst nie ein Schild an der Tür hängen sehen,
auf dem steht: „In diesem Haus ist das Händchenhalten ab sofort strikt verboten.“

Jeder ist blind
Jeder ist stumm
Jeder wird blind
In Gottes Hotel
Jeder ist blind
Du wirst nie ein Schild an der Tür hängen sehen
Denn die blinden Leute in diesem Hotel können ja sowieso nichts sehen.

Jeder ist taub
Jeder ist taub
Jeder ist taub
In Gottes Hotel
Jeder ist taub
Du wirst nie ein Schild an der Badezimmerwand hängen sehen,
auf dem steht: “Hier drin sind keine tauben Leute mehr erwünscht!“

Jeder spielt Piano
Jeder spielt Piano
Jeder spielt Piano
In Gottes Hotel
Jeder spielt Piano
Du wirst nie ein Schild an der Tür hängen sehen
. . .

Jeder hat seinen Himmel
Jeder hat Anteil am Himmel
Jeder ist im Himmel
In Gottes Hotel
Jeder hat Himmel
Du wirst nie Gekritzel auf der Toilettentür sehen
des Inhalts: „Lass Rosy dich in den Himmel befördern,
ruf 666-84 an!“

Bei diesem Song handelt es sich in musikalischer Hinsicht um einen hastig heruntergespielten, Pianolastigen Blues mit deutlichen Gospelelementen. Inhaltlich gesehen repräsentiert der Song ein klares Exempel für die explizite Theologie im Werk von Nick Cave. Das beginnt beim Titel, erstreckt sich über die biblischen Bezüge bis hin zum Inhalt der einzelnen Strophen und der Gesamtaussage des Songs.

„God’s Hotel“, der Titel des Songs, ist offensichtlich ein Bild dafür, wie es bei Gott zugeht, welche Prioritäten und Maßstäbe bei ihm, in seinem Reich, Himmel oder Herrschaftsbereich gelten. Die einzelnen Strophen entfalten und illustrieren dieses Bild, fügen immer wieder neue Aspekte hinzu, legen den Akzent auf unterschiedliche Facetten unter dem einen, einigenden Dach von „Gottes Hotel“.

Der Song enthält keine direkten Bibelzitate, aber dafür drei umso deutlichere biblische Bezüge: Zum einen Joh 14,2: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen“ oder im Sinne Nick Caves modifiziert: In Gottes Hotel gibt es unendlich viele Zimmer und Apartments! Zum anderen Eph 2, 19f: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist.“ Auch hier begegnet das Bild von Gottes Haus mit einem besonderen Akzent auf den Bewohnern dieses Hauses in ihrer Differenz und Zusammengehörigkeit. Der dritte Bezug nimmt Gal 3, 26 - 28 in den Blick: „Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ Denn in „Gottes Hotel“, vor und bei ihm, sind alle Menschen gleich! Das entscheidende Wort des Songs ist neben den beiden Worten des Titels das in jeder Strophe viermal begegnende Wort „Everybody“ = jede/r. Das, was in „Gottes Hotel“ gilt, angesagt ist, das gilt für jede und jeden gleichermaßen. „Gottes Hotel“ ist offen für jede/n. Hier ist jede/r willkommen, gern gesehen. Jede/r hat hier Raum, Anrecht auf ein Zimmer. Jede/r bekommt Asyl, hat hier die Möglichkeit für einen Unterschlupf. Es wird niemand abgewiesen. Das verdeutlicht vor allem die erste Strophe: „Everybody’s got a room in God’s Hotel“.

Ohne hier auf alle Facetten und Details des kompletten Songs eingehen zu können, nehme ich jetzt im Sinne der Fokussierung auf das Thema Gesundheit (und Krankheit) bei Nick Cave im Besonderen die Strophen 4 – 6 und 8 in den Blick: Die 4. Strophe betont die Gemeinschaft der Hotelgäste: Jede/r hält eine Hand, hat Gemeinschaft bzw. hat Teil an ihr, steht in Kontakt, Verbindung mit den Anderen. Im Sinne von Eph 2, 19f geht es bei diesem Kontakt auch und gerade um die Verbindung mit dem „Grund“ und dem „Eckstein“. Damit ist deutlich: In „Gottes Hotel“ gibt es keine Vereinzelung und Vereinsamung. Hier wird jede/r gehalten, sind alle ein Teil der Gemeinschaft.

In der 5. und 6. Strophe sind wir dann ganz nah an unserem speziellen Thema, geht es hier doch mit dem Blind -, Stumm - und Taub sein gleichsam vorder- und hintergründig um Behinderungen oder Beeinträchtigungen, mithin also um spezielle Formen von Krankheit im Sinne der Abweichung von der (angeblichen) Norm(alität) des Gesunden. Hier, in „Gottes Hotel“, ist „Everybody“ = jede/r blind, stumm und taub! Wenn aber – und dies ist die entscheidende, explizit theologische Aussage und Spitze – jede/r krank im Sinne von beeinträchtigt und von der vorgeblichen Norm abweichend ist, dann heißt und bedeutet das nichts anderes, als dass alle gesund sind! Denn vor Gott, bei ihm, in seinem Haus und Hotel sind alle Menschen gleich (siehe Gal 3, 26 – 28). Wenn hier jemand beeinträchtigt, behindert ist, dann sind es alle. Hier, bei Gott, fällt niemand wegen irgendwelcher Defizite auf oder wird darauf festgelegt. Hier ist jede/r willkommen und das bedeutet dann eben auch: hier ist jede/r gesund, auch und gerade die angeblich oder auch wirklich Kranken und Beeinträchtigten, denn diese sind ja ebenfalls alle!

Die damit in den Fokus gerückte Gesundheit ist eine dem Menschen von Gott zugesprochene Qualität. Denn gesund ist der Mensch hier nicht von sich aus, sondern als Gast dieses Hoteliers! Als Gast in „Gottes Hotel“ ist aber dann jede/r willkommen und gesund, gerade weil hier jede/r seine/ihre eigene Beeinträchtigung oder neutraler formuliert: Eigenheit hat. Die Gesundheit ist damit kein anthropologischer (Ur)Zustand, sondern eine dem Menschen von Gott her zugesprochene und zukommende Qualität. Die Gesundheit kommt damit in den Rang der Rechtfertigung des Kranken und, wenn jeder Mensch krank ist, also des Menschen im Sinne der Rechtfertigung des Sünders oder Gottlosen durch Gott selber!

In dieser theologisch-anthropologischen Spur und Konsequenz lässt sich dann auch die finale Strophe des Songs verstehen und interpretieren. Hier sind die diversen deutschen Übersetzungsmöglichkeiten der englischen Originalzeile „Everybody got Heaven“ sehr sprechend: 1. Jede/r hat Himmel oder hat seinen/ihren Himmel. 2. Jede/r hat Anteil am Himmel und 3. Jede/r ist im Himmel. Gottes Hotel scheint damit weniger im sichtbaren (ecclesia visibilis) als vielmehr im spirituell unsichtbaren Bereich (ecclesia invisibilis oder ecclesia spiritualis) verortbar zu sein. Die finale Strophe antwortet dabei auch auf die Frage nach dem Wo von Gottes Hotel: Sein Haus, sein Hotel oder ekklesiologisch gesehen: seine Gemeinde, seine Kirche, ist dort zu finden, wo jede/r Himmel hat, wo jede/r Anteil am Himmel hat oder den Himmel auf Erden. Da, wo niemand etwas anderes braucht, was ihm/ihr den Himmel auf Erden ggf. auch im Sinne der Gesundung des/der Kranken, des/der Beeinträchtigten, verspricht oder vorgaukelt, da ist „Gottes Hotel“, da ist der Himmel, der von diesem Hotelier her auf die Erde herabreicht.

Bei und vor Gott, in seinem Hotel und Haus und Reich, sind offensichtlich alle Menschen gleich und willkommen – unabhängig von ihren (Prä-)Dispositionen, Angewohnheiten, Beeinträchtigungen und Vorlieben! Gott hat und ist Raum und Himmel für alle.

Zusammengefasst lässt sich auf der Basis der beiden besprochenen Songs festhalten: So wenig die Krankheit bei Nick Cave ein Zustand ist, den der Mensch allein von sich aus, auf sich allein gestellt überwinden, hinter sich lassen könnte, so wenig ist die Gesundheit bei ihm eine anthropologische Qualität, so sehr ist sie vielmehr nichts anderes als das Theologoumenon von der Rechtfertigung des Sünders allein durch Gottes Gnade, der allein von Gott herrührenden Gesundung des Gottlosen.


Notiz: Dieser Beitrag verdankt sich in weiten Teilen meinen Vorarbeiten für einen Workshop im Rahmen der Tagung „Krankheit und Gesundheit in populären Medien“, die in Zusammenarbeit mit dem „Arbeitskreis populäre Kultur und Religion“ vom 25.-27.02.2011 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar stattgefunden hat. Diese Vorarbeiten habe ich ausgeweitet und für diesen Beitrag abschließend ‚in Form gegossen‘.

Anmerkungen

[1] In Anlehnung an den Art. Nick Cave (wikipedia)

[2] Nick Cave , The Complete Lyrics 1978-2007, London 2007 (Im Folgenden: Cave, Complete Lyrics), 73f.

[3] Ebd.

[4] Siehe die bilinguale Edition: Nick Cave, King Ink, aus dem Englischen von Werner Schmitz, Ravensburg 1991, 79 und 81.

[5] Siehe Maximilian Dax, The Life and Music of Nick Cave: an illustrated biography, Berlin 1999, 72.

[6] Robert Eaglestone, From Mutiny to Calling upon the author, in: Karen Welberry and Tanya Dalziell, Cultural Seeds – Essays on the Work of Nick Cave, Farnham – Surrey 2009, 146.

[7] Amy Hanson, Kicking Against The Pricks – An Armchair Guide To Nick Cave , London 2005, 51.

[8] Dax, ebd.

[9] Ebd.

[10] Vgl. Cave , Complete Lyrics, 132 – 134.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/72/ms2.htm
© Matthias Surall, 2011