Videoclips XXVIII

Besprechungen ausgewählter Musikclips

Andreas Mertin

Es ist mehr als fünf Jahre her, dass die letzte Ausgabe dieser Kolumne erschien. Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts schien die Kultur der Videoclips an ihr Ende gekommen zu sein, zu sehr kaprizierte sich das Genre auf die Selbstdarstellung der Künstler und ihren neu erworbenen Reichtum, statt Geschichten zu erzählen und innovativ umzusetzen. Sicher gab es zwischendurch einzelne Perlen, deren Besprechung gelohnt hätte, aber es stellte lange Zeit keine Herausforderung dar, sich mit Videoclips auseinanderzusetzen. Das änderte sich erst vor drei bis vier Jahren als Youtube an Stelle von MTV oder VIVA als effizienter Distributionskanal erkannt und auch angenommen wurde. Nun kann jeder jeden Clip sofort anschauen und vor allem kann man anhand von Abrufzahlen feststellen, was ankommt und was nicht. Man kann zudem eigene Programmfolgen zusammenstellen und sein eigenes Musikfernsehen je nach Stimmungslage produzieren.

Vor allem aber ist der Anteil qualitativ guter oder wenigstens doch zur Stellungnahme und Analyse herausfordernder Videoclips größer geworden. Das ist auch ein Ergebnis von wirkungsästhetisch ausgerichteten Phänomenen wie Lady Gaga, der ein Effekt alle Mal wichtiger ist als ein wirklich gutes Produkt. Weil sie aber auf das „Spektakuläre“ zielt, zieht sie ihre KonkurrentInnen mit. Es ist deshalb nahe liegen, nun die Kolumne über Videoclips fortzusetzen, zumal ja auch schon in den Heften 68, 71 und 72 entsprechende Artikel erschienen waren. Ab dieser Ausgabe sollen nun wieder regelmäßig Videoclips vorgestellt werden. Einen größeren Überblick finden Sie in dem mit diesem Magazin assoziierten Videoclipblog.

Charlotte Gainsbourg: Heaven can wait (2009)

Ja, der Himmel kann warten und die Hölle ist hoffentlich schön weit weg. Keith Schofield, der Regisseur des Clips, visualisiert Charlotte Gainsbourgs düsteres Musikstück mit surrealistischen Bildern der Konsumwelt, jedes Einzelne eine bedenkenswerte Metapher – aber sie rauschen so schnell und dicht an einem vorbei, dass man den Fluss der Bilder schon still stellen muss, um den  einzelnen Metaphern nachzudenken. Aber das sollte man auch, denn jenseits der leicht zu dechiffrierenden Bilder gibt es eine Fülle von Bildrätseln, die studiert werden wollen. Manchmal ist das Grauen oder das Surrealistische so normal geworden, dass es auf den ersten Blick schon nicht mehr auffällt. Und auch der Liedtext ist voller poetischer Anspielungen:

Heaven can wait

Sie rutscht, sie gleitet ab
hinunter zum Bodensatz der Welt
Sie bekämpft, sie kämpft
gegen das Bedürfnis an, Perlen zu Sand zu machen

Der Himmel kann warten
und die Hölle ist zu weit weg
irgendwo in der Mitte von dem, was du brauchst
und dem, was du kennst
Und sie versuchen
die Rolltreppe in den Untergrund zu nehmen

Sie versteckt sich, sie verbirgt sich
auf einem Schlachtschiff von Gepäck und Knochen
Da ist Donner, da ist Blitz
Und eine Lawine aus bekannten Gesichtern

Der Himmel kann warten
und die Hölle ist zu weit weg
irgendwo in der Mitte von dem, was du brauchst
und dem, was du kennst
Und sie versuchen
die Rolltreppe in den Untergrund zu nehmen

Und du hast deine Papiere
in einer Greyhound Station gelassen
mit einem Sanitätskoffer und einer Taschenlampe
als du in eine unbekannte Wüste aufbrachst

Der Himmel kann warten
und die Hölle ist zu weit weg
irgendwo in der Mitte von dem, was du brauchst
und dem, was du kennst
Und sie versuchen
die Rolltreppe in den Untergrund zu nehmen

Charlotte Gainsbourg, Tochter der legendären Serge Gainsbourg und Jane Birkin, ist Schauspielerin und Popsängern. Das Stück Heaven can wait stammt von ihrem Album IRM, das sie zusammen mit dem amerikanischen Musiker Beck Hansen produzierte. Musikalisch kommt das Stück so extrem leicht daher, dass Gainsbourg auf ihrer eigenen Webseite explizit darauf hinweisen muss, man solle sich schon den Liedtext genau zu Gemüte führen, um der dunklen Seite des Stücks auf die Spur zu kommen. Der Videoclip ist da schon direkter, denn er lässt unmissverständlich wissen, dass es um Grenzphänomene geht.

Depeche Mode: Wrong (2009)

Die Metapher des Autos, das eigenwillig oder manchmal auch menschlich gesteuert seinen eigenen unberechenbaren Weg nimmt, ist eine beliebte in der populärkulturellen Visualisierungswelt.

Am berühmtesten ist vielleicht noch Steven Spielbergs erster Spielfim „Duell“ aus dem Jahr 1971, bei der ein Truck einen Autofahrer verfolgt und bedrängt. Dieser Film war inspirierend für viele Nachahmer, die das Szenario aufgriffen, etwa im Jahr 2000 von den Guano Apes im Videoclip zu „No speech“ unter der Regie von Oliver Sommer.

Das drei Jahre vorher erschienene Video von Jonathan Glazer zu dem Stück „Karma Police“ von Radiohead ist ein Kultvideo geworden und zählt zu den besten des Genres. Hier verfolgt ein Auto einen Menschen, bevor dieser dann das Auto in Flammen aufgehen lässt.

Der Videoclip zu „My favorite Game“ von den Cardigans fällt aus dieser Reihe schon etwas heraus, ist es doch hier die Sängerin der Band, die das Auto zum (selbst-)mörderischen Instrument macht mit dem sie über die Road 66 brettert und alles, was ihr und ihrem Auto in den Weg kommt, umnietet, bevor es dann zur finalen Begegnung (mit den restlichen Bandmitgliedern im Transit) kommt.

Soweit zur Vorgeschichte der Visualisierung des eigenwilligen Autos, der natürlich noch viele weitere Beispiele hinzuzufügen wären. Depeche Mode hat diesen Variationen nun eine weitere hinzugefügt, dieses Mal eine, in der die Richtung gewechselt wird.

Das Video zu Wrong unter der Regie von Patrick Daughters zeigt einen Ford Crown Victoria, der rückwärts durch Los Angelos rollt. Scheinbar ist er führerlos, aber dann zeigt die Kamera einen bewusstlosen und durch eine Latexmaske anonymisierten Mann vorne im Wagen. Als der Wagen einen anderen touchiert, erwacht der Mann. Verzweifelt versucht er den Wagen zum Halten zu bringen, aber er ist gefesselt und handlungsunfähig. Dann passiert der Wagen die Mitglieder der Band auf dem Bürgersteig, überfährt einen Fußgänger und stößt mit allem zusammen, was ihm in den Weg kommt. Als sich der Man schließlich befreien kann, kracht ein weißer Pickup-Truck in seinen Wagen hinein und bringt den Wagen zum Halten, während der Mann zur Seite wegkippt.

Der Liedtext enthält in jeder Zeile das Wort „WRONG“. Die einzige Ausnahme ist die Doppelzeile „With the wrong tune played / till it sounded right, yeah“. Aber zu früh gefreut: Danach fängt alles wieder von vorne an.

Wrong

I was born with the wrong sign
In the wrong house
With the wrong ascendancy
I took the wrong road
That led to the wrong tendencies
I was in the wrong place
At the wrong time
For the wrong reason
And the wrong rhyme
On the wrong day
Of the wrong week
I used the wrong method
With the wrong technique

Wrong / Wrong

There's something wrong with me chemically
Something wrong with me inherently
The wrong mix
In the wrong genes
I reached the wrong ends
By the wrong means
It was the wrong plan
In the wrong hands

The wrong theory
for the wrong man
The wrong eyes
On the wrong prize
The wrong questions
with the wrong replies

Wrong / Wrong

I was marching to the wrong drum
With the wrong scum
Pissing out the wrong energy
Using all the wrong lines
And the wrong signs
With the wrong intensity
I was on the wrong page
Of the wrong book
With the wrong rendition
Of the wrong look
With the wrong moon
Every wrong night
With the wrong tune played
till it sounded right, yeah

Wrong / Wrong / Too long. ..
-> Wiederholung Strophe 1

Es ist eben alles falsch, was nur falsch sein kann. In einem gewissen Sinne ergeht es dem Protagonisten wie Buster Keaton, von dem Siegfried Kracauer schreibt: Er ist ein Gestoßener. Die vielen Gegenstände: Apparate, Baumstämme, Trambahnwände und Menschenkörper veranstalten ein Kesseltreiben gegen ihn, er kennt sich nicht mehr aus, er ist unter dem sinnlosen Druck der zufälligen Dinge apathisch geworden. Nur dass es heute eben PKWs und Trucks sind und die Protagonisten nicht nur nicht freiwillig, sondern gewaltsam in ihre ausweglose Situation geraten.

Röyksopp: The Drug (2010)

Auch zu diesem Clip könnte man eine lange Vorgeschichte erzählen, von cineastischen Vorbildern und solchen aus dem Genre der Videoclips.

Spontan erinnerte ich mich an den legendären Clip zu „Come to daddy“ von Aphex Twin unter der Regie von Chris Cunningham. Auch hier stoßen wir auf verirrte Menschen in zerfallenden Betonsilos der Großstädte, auch hier werden die Grenzen der Normalität zur Surrealität überschritten. Es gibt aber noch andere Bezüge.

Der unter der Regie von „that go“ (Noel Paul & Stefan Moore) entstandene Clip zu „The Drug“ eröffnet vor einem grauen Wolkenhimmel mit der eingeblendeten Zeile „Etter Opprøret“ bzw. „After the Upheaval“, also „Nach dem Aufstand“.

In der nächsten Szene laufen drei Mädchen durch die Gegend, stoßen auf einen enthäuteten Rinderkopf, das brennende Logo „Röyksopp“ und ein Graffiti mit dem Liedtitel. Es folgen Bilder einer zerstörten Stadt (Downtown Detroit), zerfetzter Stahlbeton allenthalben. Die Mädchen laufen, einen Radiorekorder in der Hand, durch dieses postapokalyptische Szenario inmitten einer zerstörten Hochhaussiedlung.

Eingeblendet werden metaphorische Elemente, ein glotzender Alter und ein Hund, der an einem Totenschädel knabbert (während gleichzeitig eine Tonfolge im Stil von „Kein Anschluss unter dieser Nummer“ gespielt wird). Die Mädchen betreten eines der zerstörten Häuser und treffen auf einen jungen Soldaten, die auf sie zugeht, worauf sie panisch das Gebäude verlassen. Eine Atmosphäre absoluter Trostlosigkeit entsteht in die mitten hinein eine Rückblende einer Gewaltsituation gegenüber den Mädchen eingeblendet wird.

Die Mädchen flüchten und wieder werden wir mit metaphorischen Bildern konfrontiert: der kleine Junge mit Verletzungen im Gesicht, der weiße Wolf inmitten der Trümmer, die blinde Frau im Müllhaufen mit dem Totenschädel in der Hand, die junge Frau mit dem verlorenen Auge und dem zerschundenen Gesicht, der kleine nackte Junge im Betonschrott, die Graffiti-Aufschrift „Sing’n Now this will Be the day that I Die“.

Plötzlich hat eines der Mädchen ein Maschinengewehr in der Hand (während wieder die Tonfolge „Kein Anschluss unter dieser Nummer“ gespielt wird). Durch den nächtlichen Himmel fliegt ein Kreuz. Am Ende sitzen die Mädchen an einem nächtlichen Feuer und schlafen dann ein, während am Himmel der Vollmond steht.

Wenn ich die verschiedenen Zeichen richtig lese, könnte man die Video-Inszenierung dieses Clips als Palimpsest zu dem legendären Stück „American Pie“ von Don McLean aus dem Jahr 1971 begreifen, das seinerzeit eine Reaktion auf den Flugzeugabsturz von Buddy Holy („That’ll Be the day“) darstellte. Zumindest der abgebildete Graffiti-Spruch aus dem Clip zitiert unmittelbar aus dem Liedtext von American Pie und vieles von der Symbolik lässt sich ohne Probleme auf diesen Text beziehen, der selbst wiederum ein geradezu religiöses Palimpsest der Musikgeschichte des Rock’N’Roll ist, ein musikalischer Rückblick auf eine Epoche des Aufbruchs und der Veränderungen.

Ein Rückblick ist „The Drug“ in einem gewissen Sinne auch, nur wir die in Betracht genommene Epoche nicht besungen (Röyksopps Stück ist tatsächlich wortlos: „But not a word was spoken“), und sie ist auch keine musikalische Epoche. Vielmehr geht es um die Hinterlassenschaften einer durch und durch industriell bestimmten Zeit, einer Zeit, die den Fortschritt gepachtet zu haben schien und die es deshalb auch nicht gewohnt ist, zurück zu blicken. Ihre Hinterlassenschaften werden jetzt von den Randgängern, den Zombies der Gesellschaft bevölkert, den Depravierten, den Verletzten, den ausgestoßenen, den weißen Wölfen.

Wer diese Lesart des postapokalyptischen Szenarios für übertrieben hält, sei auf eine höchst interessante Internetseite verwiesen, die den Drehort des Clips, Downtown Detroit, fotografisch dokumentiert.

Das geht sogar noch über die ästhetischen Qualitäten des Clips weit hinaus: The Ruins of Detroit.

PINK: Raise your Glass (2010)

Muss man in Deutschland wissen, wer „Rosie the Riveter“ ist? Folgt man der deutschsprachigen Wikipedia, dann wohl eher nicht. Anders als in der spanischen, französischen, italienischen, israelischen, portugiesischen oder auch polnischen Ausgabe der Wikipedia, wird „Rosie the Riveter“ in der deutschen nicht erläutert.

Zumindest die englischsprachige Wikipedia informiert uns aber darüber, dass „Rosie the Riveter“ eine „kulturelle Ikone“ der Vereinigten Staaten von Amerika ist, ein Symbol für die amerikanischen Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs in den Fabriken arbeiteten und die in den Krieg gegen den Nationalsozialismus ziehenden Männer ersetzten. Erstmals erwähnt wird „Rosie the Riveter“ im Jahr 1942 im gleichnamigen Song geschrieben von Redd Evans und John Jacob Loeb. Inzwischen ist sie aber noch mehr als das: „Rosie the Riveter is commonly used as symbol of feminism and women's economic power“ (wikipedia).

We can do it – das singt auch Pink in ihrem 2010 veröffentlichten Lied „Raise your glass“, das durchaus als Hommage an „Rosie the Riveter“ gelesen werden kann und das deren emanzipatorische Bestrebungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen fortzuschreiben sucht. Entstanden ist es aufgrund persönlicher Erfahrungen von Pink, wie sie in einem Interview sagte. Sie richtete eine Hochzeit für eine lesbische Freundin aus, an deren Ende die Mutter der Freundin weinend sagte: „Warum kann das keine legale Hochzeit sein?“

Und so setzt sich Pink in dem unter der Regie von Dave Meyers entstandenen Video für die individuellen Rechte der Ausgeschlossenen ein, seien diese benachteiligt wegen ihres Geschlechts, ihres Aussehens, ihrer Rasse, ihrer sozialen Herkunft, sexuellen Neigungen oder religiösen Überzeugungen. Darüber hinaus geht es auch um die Ausbeutung von Tieren bzw. um die Tierrechte. Das alles wird aber nicht bierernst vorgetragen, sondern mit einem Höchstmaß an Ironie und Augenzwinkern, wenn etwa Pink mit Vertretern aller Religionen nach und nach ins Bett geht oder mit einem Matador eine Stierkampf ausficht.

Katy Perry: Firework (2010)

Zum Video des Jahres 2011 wurde Katy Perrys Clip zum Dance-Pop-Stück „Firework“ gewählt – eine berechtigte Wahl wie ich finde. Die simple Botschaft: Mach was aus Deinem Leben - Du kannst es! Das aber wird mitreißend umgesetzt. Mehrere Dinge sind an diesem Video bemerkenswert. Der Regisseur ist der gleiche wie der beim Video von PINK, nämlich Dave Meyers. Realisiert wurde das Video in Zusammenarbeit mit der Deutschen Telekom, die Fans suchte, die bei dem Video als Schauspieler mitspielen wollten. Im September 2010 wurde das Video dann in Budapest gedreht, was man im Video auch gut erkennen kann, weil die Stadtkulisse als Hintergrund verwendet wurde.

Am Anfang des Videos schaut Katy Perry vom Balkon ihres Hotels herunter auf die Straßen der Stadt. Während sie singt, explodiert plötzlich ein Feuerwerk von ihrem Körper aus und scheint in der Folge einige junge Leute zu motivieren, ihre Ängste und Unsicherheiten zu überwinden und aktiv zu werden, was wiederum bei diesen jungen Leuten ein Feuerwerk in Gang setzt, das wieder auf andere wirken kann.

So sehen wir ein übergewichtiges Mädchen, dass sich nicht traut, an einer Poolparty teilzunehmen und ins Schwimmbecken zu springen.

Ein in sich zurück gezogenes Leukämie krankes Kind traut sich die Klinik zu verlassen und trotz seines geschorenen Kopfes die Welt zu erkunden.

Ein junger Mann wird motiviert, einen drohenden Überfall durch eine spontane Zauber-Show abzuwehren.

Ein kleiner Junge interveniert bei seinen Eltern, weil ihr Geschrei seine kleine Schwester erschreckt.

Und ein junger Mann traut sich den Mann, in den er verliebt ist, zu küssen.

Nach und nach inspiriert Katy Perry eine große Menge junger Menschen, die abschließend im Innenhof der Budaer Burg tanzen und das Feuerwerk zelebrieren.

Man könnte das Ganze als Frohe Botschaft interpretieren, als Nachfolgegeschichte, als Teil der paulinischen Charismenlehre, als Priestertum aller an sich Glaubenden – aber ich denke, diese oder andere Schlussfolgerungen kann jeder für sich selbst ziehen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/73/am366.htm
© Andreas Mertin, 2011