Geschichten von Herrn Tur Tur

Konfessionsnarreteien

Andreas Mertin

Anekdote 1

Wer einmal wissen will, welcher Tonfall gegenüber (nicht nur religiösen) Protestanten angeschlagen wird, wenn bestimmte Kreise der katholischen Kirche einmal Macht und Einfluss in Deutschland bekommen sollten, der braucht nur die Tagespost zu lesen, also die „katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur“. Wagt man es, gegen den Papst in Rom Bedenken zu äußern, der ja selbst nicht zimperlich ist in der Verwerfung relativistischer Positionen und der Nichtanerkennung anderer Kirchen, und das bürgerlich freiheitliche Recht auf Demonstrationen in Anspruch zu nehmen, dann wird man so qualifiziert: „Es ist eben keine Masse, sondern eine laute Minderheit, die clever Aufmerksamkeit auf sich zieht. Intellektuelle Zwerge, politische Ideologen und die Untoten professioneller Kirchenkritik bitten zum Narrentanz.“ (Markus Reder) Danke schön! Leider ganz unironisch fährt der Autor fort: „Was müssen sie zittern, diese Zwergentänzer, vor dem Geistesgiganten aus Rom, der doch stets bescheiden auftritt.“ Glaubt er das wirklich, was er da schreibt? Der Geistesgigant aus Rom, vor dem die deutschen Zwergentänzer zittern müssen? Nun gut, es gibt die biblische Geschichte von David und Goliath, die das Verhältnis von Kleinen und Großen schnell relativiert. Mir gefällt an dieser Stelle aber die Geschichte von Herrn Tur Tur aus „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ besser: „Herr Tur Tur ist ein so genannter Scheinriese; je weiter man sich von ihm entfernt, desto größer scheint er. Nur wer sich ganz nah an ihn heran wagt, erkennt, dass er genauso groß ist wie jeder normale Mensch. Weil sich das aber niemand traut, ist Herr Tur Tur sehr einsam.“ (wikipedia)

So ist das nämlich mit den scheinbaren Riesen aus der Welt jenseits der Alpen (ultra montes), beim Licht der Aufklärung betrachtet, gehören auch sie nur zum Priestertum aller Getauften – nicht mehr, nicht weniger. Beängstigend ist das nicht. Nur wenn jemand als Geistesgigant droht, die Zwerge hinter den sieben Bergen niederzutrampeln, ihnen das Protestieren zu verbieten, dann hört der Spaß auf. Aber wie wir aus der Geschichte von Jim Knopf lernen, kann er es gar nicht. Von Nahe betrachtet, ist es doch nur ein einfacher Mensch. Sicher, von Ferne betrachtet, kann er als Leuchtturm dienen und ist darin sicher ganz nützlich. Und dieses Vergnügen sollten wir ihm lassen. Wie bei Herrn Tur Tur in der Geschichte von Jim Knopf.

P.S.: Umberto Eco hat vor kurzem gesprächsweise gesagt, er glaube nicht "dass Ratzinger ein großer Philosoph und Theologe ist - auch wenn das im Allgemeinen oft so dargestellt wird. Seine Polemiken, sein Kampf gegen den so genannten Relativismus sind, wie ich finde, einfach nur sehr grob. Nicht mal ein Grundschullehrer würde es so formulieren wie er. Seine philosophische Ausbildung ist sehr schwach. Man könnte also sagen, ich betrachte Papst Benedikt als guten Kollegen (lacht)."

Anekdote 2

Darf man in diesem Land inzwischen öffentlich erzählen, was für eine (religiöse) Biographie man hat, wie man als junger Mensch andere Einstellungen, andere Bekenntnisse, andere Bindungen hatte als heute? Und wie man von der einen zur anderen Einstellung gekommen ist? Was einem an der alten Haltung nicht mehr einleuchtete und warum man die jetzige für plausibler hält?

Ist die Rede über die religiöse Biographie als Bekenntnis seit dem Kirchenvater Augustin konstitutiv nicht auch theologische Rede? Sind Biographie, Subjektsein und konfessorisches (nicht notwendig konfessionelles) Denken nicht seit der Reformation, spätestens aber seit der Aufklärung eng miteinander verknüpft?

Arnd Brummer, Chefredakteur des evangelischen Blattes „Chrismon“ hat sich jedenfalls die Freiheit genommen, über seine religiöse Sozialisation und seine heutige und seine frühere konfessorische Bindung nachzudenken. Und er hat dies, wie man es als Journalist und Publizist so macht, in der Öffentlichkeit getan. Das tut man aber anscheinend nicht in einem weiterhin konfessionell gespaltenen Deutschland, zumindest dann nicht, wenn der ranghöchste irdische Vertreter der früheren Konfession gerade seinen Staatsbesuch im Land der Reformation angekündigt hat. Warum man dies nicht tun sollte, erschließt sich zwar nicht. Wir leben doch in einem Land, in dem gerade durch die Reformation, also dadurch, dass sehr viele Deutsche eine neue Konfession gefunden haben, die Grundbedingung pluralistischer Wahrheitssuche aufgrund freier Meinungsäußerung ausformuliert wurde. In Deutschland konnte und musste man lernen, dass es nicht die eine religiöse Wahrheit gibt, sondern begründet unterschiedliche Akzentuierungen von Wahrheit(en). Dass es Menschen gibt, die aufgrund bestimmter Erfahrungen von der einen Bindung zur anderen wechseln und öffentlich darüber kommunizieren. Und das ist auch gut so.

Offenkundig ist es das aber dann nicht, wenn man Chefredakteur einer evangelischen Zeitschrift ist, die von einigen Kirchenfunktionären mit herausgegeben wird. Da muss man auf Linie bleiben, gute Atmosphäre erzeugen und alles Störende ausblenden. Statt dass die Kritiker aber den Chefradakteur kritisch befragen, mit ihm die sachliche Auseinandersetzung führen, fordern sie die Kirchenfunktionäre auf, ihn im Zaum zu halten. Ich erspare mir die Ironie zu sagen, das funktioniert nur im katholischen Ordo. Im Grund aber verlangt man nicht weniger, als dass die Evangelischen einen Grundbestand ihrer religiösen Existenz aufgeben: die religiöse Souveränität des Einzelnen, der über sein Bekenntnis Rechenschaft ablegt.

Noch lustiger aber finde ich den Kommentar in der bereits erwähnten katholischen Zeitung Tagespost, in der ein „Buch- und Radioautor, Fernsehmoderator und einer der Pioniere in Deutschland, der neue Medien für die Seelsorge nutzt“ (sic!) unter der Überschrift „Unter Privathermeneutikern“ dem Chefredakteur genau dieses vorhält – eine Privathermeneutik zu pflegen. Das aber ist der Vorwurf der katholischen Kirche seit dem Tridentinum, das gegen Luthers subjektive Hermeneutik die objektive Lesart der Schrift setzte, welche letztlich und unfehlbar das Amt des Papstes voraussetzt. Wollte sich Arnd Brummer als Subjekt darauf einlassen, wäre er wieder geworden, was er doch durch Konversion gerade hinter sich lassen wollte: katholisch.

Da lobe ich mir die protestantische Freiheit, auch wenn sie leider schon lange mehr Begriffshülse als wirklich gelebtes Leben ist. Wenn protestantische Freiheit ernst genommen würde, hätte keiner der evangelischen Kirchenfunktionäre sagen müssen, Arnd Brummers Äußerungen wären für die Ökumene nicht hilfreich. Sie hätten sagen können, es gibt noch andere protestantische Sichten des Katholizismus, die uns wichtig erscheinen. Aber zur Pluralität protestantischer Existenz gehört eben auch das, was Arnd Brummer artikuliert hat, dass er sich „Unter Ketzern“ wohl fühlt und seinen Schritt bis heute für plausibel und nachvollziehbar hält. Das finde ich auch.

Anekdote 3

Während des Papstbesuches in Deutschland befinde ich mich auf einem Kongress, der aktuellen Fragen der Liturgie und der Predigt nachgeht. Versammelt sind Interessierte aus vielen Ländern Europas, aus Finnland, aus Polen, aus Ungarn, aus Italien und aus Deutschland natürlich. Und es sind Angehörige unterschiedlicher Konfessionen versammelt: Lutheraner, Reformierte, Katholiken. Am Freitag höre ich über das Radio, dass Benedict XVI. in Erfurt verkündet hat, er sei nicht gekommen, um irgendwelche Geschenke in Sachen Ökumene zu verteilen. Und da bin ich ehrlich erleichtert. Zum einen hätte niemand etwas anders von ihm erwarten können, zum anderen hätte jede noch so kleine Geste von Benedict XVI. die Illusion genährt, Ökumene finde auf der Ebene der Kirchenleitungen und nicht vor Ort und in der Kommunikation zwischen Christen unterschiedlicher Konfessionen statt. Das Symposium, auf dem ich mich befand, war so ein Ort der realen Ökumene, denn man tauschte seine Perspektiven aus und sicher waren die innerprotestantischen Varianzen oftmals größer als die zwischen den großen Konfessionen. Aber dieses Symposium spiegelte die Normalität, man redet miteinander, man verzichtet auf die großen Gesten und symbolischen Handlungen, man betreibt Ökumene ganz praktisch. Die Realität der Ökumene in Deutschland wird vom Papstbesuch nicht tangiert.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/73/am369.htm
© Andreas Mertin, 2011