Timarchos in der Höhle des Trophonius

Richard Volkmann

Volkmann, Richard (1869): Philosophie des Plutarch von Chaeronea. Berlin (Leben, Schriften und Philosophie des Plutarch von Chaeronea, / von Richard Volkmann ; Theil 2). S. 318-320


Merkwürdig sei indes die Rede des Timarchos aus Chäronea über diesen Gegenstand, die sie aber wohl für eine blose Fabel halten würden. Dieser wollte genaueres über das Dämonium des Sokrates erfahren und beschloss deshalb in der Stille das Orakel des Trophonius zu befragen. Er stieg auch wirklich in die Höhle allein hinunter, verweilte daselbst zwei Nächte und einen Tag, so dass seine Verwandten ihn schon für todt hielten und beweinten, kehrte aber am zweiten Morgen heiter zurück und erzählte darauf seinen Freunden gar wunderbare Dinge, die er gesehen und gehört hatte.

Als er in das Orakel hinabgestiegen sei, sei er Anfangs in dichtes Dunkel gerathen, er habe gebetet und lange Zeit in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen dagelegen. Dann sei es ihm so vorgekommen, als würde sein Kopf von einem dröhnenden Schlage getroffen und aus dem gelockerten Gefüge der Kopfnähte sei seine Seele herausgegangen. Sie kam zunächst in reine, glänzende Luft, die sie in vollen Zügen einathmete, so dass sie sich ausdehnte wie ein angeschwelltes Segel. Dann habe er undeutlich ein Geräusch über seinem Haupte vernommen, von dem eine liebliche Stimme ausging. Als er aufblickte, habe er nirgend mehr die Erde gesehen, wohl aber in buntem Farbenspiel von sanftem Feuer leuchtende Inseln von grosser Zahl, verschiedener Grösse, aber alle kreisrund. Sie bewegten sich im Kreise durch den Aether, und aus ihrer Bewegung entstand jenes harmonische Geräusch. Zwischen diesen Inseln lag ein gleichfalls bunt gefärbtes Meer. Unter sich aber sah er eine tiefe, runde Schlucht wie eine ausgeschnittene Kugel voll auf und ab wogender Finsterniss, aus dem er unzähliges Klagen und Stöhnen lebender Wesen vernahm.

Nach einiger Zeit redete ihn eine unsichtbare Stimme an, und ertheilte ihm Aufschluss über alles, was er sah. Es war eben das ganze Universum, das sich hier dem Auge seiner Seele in Symbolen erschloss. Ueber die Seele aber erfuhr er von der Stimme, dass eine jede Theil habe am Geist (voüc). Ein Theil derselben aber ist bei der einen mehr, bei der andern weniger mit dem Fleisch und den Leidenschaften vermischt und geht in die unvernünftige Natur über. Einige Seelen sind nun ganz in das Leibliche versunken, ihr ganzes Leben ist eine Beute der Leidenschaften. Bei andern aber bleibt ein Theil wenigstens von dem Leiblichen unberührt und versinkt nicht. Was nun im Menschen versunken ist, das nennt man Seele, was nicht versunken ist, das nennen die Meisten Geist, und glauben, dass es sich in ihnen befinde, wie als ob die Dinge im Spiegel wären, deren Bild von seiner Oberfläche zurückgestrahlt wird, Leute dagegen von richtiger Einsicht betrachten es als etwas ausserhalb befindliches und nennen es Dämon.

Und diese Dämonen sah Timarch als Sterne. Die Sterne, die zu erlöschen schienen, das waren die ganz in das Leibliche versunkenen Seelen. Andere leuchteten wieder auf und wurden heller, indem sie Nebel und Finsterniss wie Schmutz von sich abschüttelten. Es waren die Seelen, die nach dem Tode aus der Leiblichkeit zurückkehrten. Andere Sterne endlich schwebten in der Höhe, es waren die Dämonen weiser Menschen. Sie waren durch ein Band mit der Seele verknüpft, denn als Timarch schärfer hinsah, bemerkte er, dass diese Sterne mehr oder weniger schwankten wie auf der Oberfläche des Meeres die Korken, welche die Netze anzeigen, andre wurden wie die Spindeln hin und her bewegt und konnten nicht in gerader Richtung sich bewegen.

Diejenigen, sagte die Stimme, welche eine gerade, regelmässige Bewegung haben, die hätten eine in Folge ihrer Bildung und Nahrung leicht zu regierende Seele, deren unvernünftiger Theil nicht allzu hart und wild sei. Gerade das umgekehrte sei bei denen der Fall, welche unregelmässig auf und niederschwankten. Solche Seelen gehorchen nur selten, oder spät und nicht ohne Widerstreben ihrem eignen Dämon. Das genauere, sagte schliesslich die Stimme zu Timarch, solle er in drei Monaten erfahren.

Als die Stimme verstummt war, wollte Timarch sich nach ihr umsehen, aber da fühlte er wieder heftiges Kopfweh, als ob der Kopf mit Gewalt zusammengedrückt würde und verlor die Besinnung. Bald aber kam er wieder zu sich und fand sich am Eingange der Trophoniushöhle liegen, da wo er sich zu Anfang niedergelegt hatte. Er kehrte darauf nach Athen zurück, und starb, wie die Stimme gesagt hatte, im dritten Monat.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/73/rv01.htm
© Richard Volkmann, 2011