75 Jahre danach: Kunst und Kirche


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Andreas Mertin

Selten habe ich so in sich ambivalente Bilder gesehen, wie die jüngst von der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Programmatik der Lutherdekade verbreiteten. „Am Anfang war das Wort“ – so lautet das gewählte Motto für die geplanten Aktivitäten.[1] Es stammt – man muss es in gebildeten Kontexten nicht eigens hervorheben – vom Anfang des Johannesevangeliums und dürfte als „Geflügeltes Wort“ bei den meisten Menschen auf Resonanzen stoßen. Man wird aber ebenso davon ausgehen können, dass die Mehrzahl der Hörer „das Wort“ im Sinne des gesprochenen oder geschriebenen Wortes verstehen werden. Scheinbar gut protestantisch bekommt so das Motto die Konnotation, dass am Anfang eben das Wort – und nicht das Bild oder die Handlung oder der Gedanke war. Diesem Missverständnis leistet auch die Bildpropaganda der EKD Vorschub, indem sie als visuelles Surrounding der Inszenierung die Worte AM ANFANG WAR DAS WORT durch ein entsprechend geformtes Büchergestell mit Büchern darin gestaltete.

So war das erste, was man wahrnahm: ein Bild. Ein Bild von einem Motto, das den Vorrang des Wortes zu behaupten schien, aber einer Bildinszenierung bedurfte, um sich eindrücklich zu machen. Dabei ist das nur konsequent. Heutige Journalisten und Medienkampagnen glauben dem Anfang des Johannesevangeliums nicht, das Wort (in welcher Form auch immer) steht für sie keineswegs am Anfang, sie setzen dezidiert auf das Bild und die visuelle Inszenierung. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Und weil die Organisatoren der Lutherdekade diese Meinung teilen, möchten sie den medialen Multiplikatoren auch entsprechende Bilder anbieten.

Und so steht in der Pressemeldung der EKD zu lesen, mit der vorgestellten Dachmarke "Am Anfang war das Wort" solle ein gemeinsames Band zwischen den vielen Veranstaltungen zur Lutherdekade erzeugt werden. Symbol der Kampagne seien aufgereihte, jeweils einem Buchstaben aus dem Motto "Am Anfang war das Wort" entsprechende Bücherregale. 18 dieser Komplett-Regale sollen in bundesweit 18 Orten für die Lutherdekade werben. Zudem sollen Bücher zum Thema Reformation an öffentlichen Plätzen verteilt werden, die dann von anderen mitgenommen, gelesen, getauscht und wieder an anderer Stelle abgelegt werden können.

Wenn das für das protestantische Verständnis von Wort stehen soll, dann ist es misslungen. So langweilig wie bei dieser Inszenierung habe ich mir den Protestantismus immer nur in Albträumen vorgestellt. Klar, Protestantismus – da fallen einem doch gleich Gelehrtenstuben und Bücherregale ein. Und wie in gebildeten Haushalten üblich, werden die Bücher als Bildungsgüter sorgsam drapiert, damit jeder Gast sie auch wahrnimmt und zu würdigen weiß. Und damit es etwas lockerer wirkt, ist es kein prall gefülltes Bücherregal, sondern nur ein dreiviertel volles. Es ist schließlich erst 2011 und bis 2017 wollen noch viele Bücher geschrieben sein. Und weil wir nicht mehr in der schönen Bibliothek des Erfurter Augustinerklosters leben, reicht ein Design-Bücherregal. Das verleiht einem zugleich einen Hauch von Esprit und Modernität.

Ich empfehle den Lesern, in der Bildersuche von Google einmal nach Bücherregal Design zu suchen. Der Wiedererkennungswert ist enorm.

Wenn man für Esoterik oder für die Naturwissenschaften eine Kampagne gemacht hätte, wäre dann vielleicht das nebenstehende Bücherregal herausgekommen. Aber dafür braucht man schon eine große Wohnung.

Avantgardistischer ist da schon das ABC-Regal von Eva Allessandrini und Roberto Saporiti, bei dem sich der bildungsbeflissene Impuls erst beim zweiten Hinschauen erschließt:

READ YOUR BOOKCASE! Das wäre doch ein guter Ansatz für eine Kampagne gewesen. Lest mehr Bücher! Wenn man sich darauf eingelassen hätte, wäre etwas Bedenkenswertes und nicht so Plakatives dabei herausgekommen.

Letztlich reicht es aber nur zu einer Präsentationsform, die den Charme eines IKEA-Ausstellungsraumes hat. Ähnliches findet man zunehmend auch in Fernsehstudios, wobei die dort platzierten Bücher in aller Regel solche ohne Inhalt sind. Aber das kann die EKD ja noch nachholen. Leere Phrasen liebt sie ja offenkundig. Oder wer sonst kommt auf die Idee, den ganzen Akt „Dachmarkenkampagne zum Luther-Jubiläum“ zu nennen?

Es ist durchaus interessant, den biblischen Kontext des Mottos „Am Anfang war das Wort“ noch einmal zu bedenken. Interessant ist das in mehrfacher Hinsicht. Zum ersten, weil man das Motto ausgerechnet dem bilderfreundlichsten Evangelium entnimmt und trotz dieser visuellen Orientierung ein Wortereignis daraus machen möchte (ohne es wirklich zu schaffen). Zum zweiten, weil man so tut, als ob das neutestamentliche logos ohne jeden Zweifel am präzisesten mit Wort zu übersetzen sei – nur weil Luther es so übersetzt hat. Aber wie wir wissen, hatte schon Goethe verschiedene Lesarten zur Hand. Und schließlich zum dritten, weil die optische Insinuation, beim johanneischen Stichwort Wort handele es sich um etwas, was mit Büchern (und nicht mit Jesus Christus) zu tun habe, ein theologischer Skandal ist, für den nun auch der Ratsvorsitzende, der sich in diese Kampagne hat einspannen lassen, mit verantwortlich ist.

Nichts in der visuellen Strategie der EKD deutet darauf hin, dass mit Wort Gottes Jesus Christus gemeint ist. Ganz im Gegenteil, alles wird getan, um die kulturhistorisch sedimentierten Vorstellung einer logischen Verbindung von Buch – Kanzel – Wort Vorschub zu leisten.

Ich sehe nicht, wie der Ratsvorsitzende aus diesem erschreckend eindimensionalen Bild herauskommt.

Denn man kann es nicht oft genug wiederholen: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“

Das Vorbild für das, was zu sagen und zu bekennen ist, findet sich auf der Predella des Wittenberger Altars präzise dargestellt. Was für ein Unterschied in der Inszenierung!

Nun aber zu den inhaltlichen und theo-ästhetischen Aspekten des Mottos.

Zum Ersten: Von allen vier Evangelien ist sicher das Johannes-Evangelium das bilderfreundlichste. Immer wieder wird das Sehen in den Vordergrund gestellt – und zugleich relativiert. Das Johannes-Evangelium vertritt sozusagen prominent das Anliegen des heutigen Augen- und Sinnen-Menschen angesichts einer zur damaligen Zeit dominanten Kultur der Narratio und des Hörens. „Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht“ sagt der ungläubige Thomas und beharrt auf einer Sichtkontrolle. Ohne Bild kein Glaube. Zunächst hat Jesus dem Wunsch der visuell-haptischen Verifizierung durchaus nachgegeben, wenn auch mit ironischem Unterton: „Dann sagte er zu Thomas: ‚Streck deinen Finger aus – hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!’“. Aber das letzte Wort ist das eben nicht. Letztlich setzt auch das Johannesevangelium nicht auf die Bildkultur (es zeigt nur, wie stark diese im Menschen verwurzelt ist), sondern auf den Glauben: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig, die nicht sehen und doch glauben.“ Die Frage ist, welche Konsequenzen theologisch daraus zu ziehen sind.

Dietrich Neuhaus hat 1987 eine Polemik publiziert, weniger gegen das Johannes-Evangelium, als vielmehr gegen die seinerzeitige Tendenz, alles in eine politische Bildtheologie zu verwandeln. „Im Schatten der Bilder“ sollte die Wort-Gottes-Theologie bleiben, d.h. sie sollte sie beharrlich befragen und kritisieren. „Die Metapher vom Schatten finde ich für das theologische Problem im Verhältnis von Wort und Bild phantasieanregend. Den Schatten mag man manchmal nicht. Das blühende Leben ist so schön und bunt, der Schatten ist so bizarr und flach und grau. Doch dem Schatten entkommt man nicht, auch wenn man noch so viele Haken schlägt und noch so schnell rennt. Je nach Beleuchtung ist der Schatten manchmal klein und manchmal groß und bedrohlich. Beim Laufen kann er uns überholen, dann auch wieder weit zurückbleiben. Es ist auf jeden Fall ein lebendiges und spannungsreiches Hin und Her mit dem Schatten. Auf das Verhältnis von Wort und Bild bezogen heißt das: Der Schatten der Bilder ist das Wort. Und die Aufgabe der Theologie ist nicht die Integration des Schattens. Vielmehr soll die Theologie selber ihren Beitrag dazu leisten, dass dieser Schatten ein Verfolger-Schatten bleibt.“[2] Wenn es aber die Aufgabe der Theologie ist, den Bildern ins Wort zu fallen, wie steht es dann mit der vorgestellten Kampagne der EKD?

Mein Verdacht ist nun, dass bei der Inszenierung der EKD konsequent der Versuch unternommen wird, den Schatten zu integrieren, sprich die Wort-Gottes-Theologie den Regeln einer politischen Bildertheologie zu unterwerfen. Statt die Differenz von Wort und Bild auszuhalten und produktiv zu machen, wird das Wort Gottes in eine Marketingstrategie eingebunden. Das geht nicht ohne Verluste und so zahlt man einen hohen Preis dafür. Ist es ein bloßer Zufall, dass bei der Präsentation der Kampagne von drei agierenden Personen zwei derzeit politische Funktionsträger sind? Und dass die Mehrzahl der angesprochenen Themen eher gesellschaftspolitischer statt theologischer Natur sind? Ich will nicht in das reaktionäre Gerede vom Verlust des Glaubens, der unser zentrales Problem sei, geraten, aber ein wenig mehr evangelische Theologie wäre doch angebracht. Selig, die nicht sehen und doch glauben.

Zum Zweiten: Hier erlaube ich mir, auf eine andere Bibelübersetzung als die von Martin Luther zu verweisen, eine Übersetzung, die bei dem ersten Vers des Johannesevangeliums programmatisch anders verfährt:

Die Bibel in gerechter Sprache, aus der dieser Vers unverkennbar stammt, begründet die Wortwahl für die Leserinnen und Leser im Glossar so: “Eine einmalige und herausragende Stellung hat die Rede von logos / Wort im Prolog des Joh: Danach war »das Wort« am Anfang vor der Schöpfung bei Gott (1,1) und dieses Wort wurde Fleisch (1,14). Dahinter steht eine lange und komplexe Geschichte des »Wortes«. Im AT kann, wie von anderen Größen (Ps 85,11 f), so besonders auch vom prophetischen Wort fast wie von einer eigenständigen Größe geredet werden. Gott sendet ein Wort aus, das in Israel niederfällt (Jes 9,7), das Wort Gottes »geschieht / ereignet sich« an und durch Propheten (Jer 7,1; 11,1), es bewirkt, wozu es gesandt ist (Jes 55,11). Vor allem gilt: »Durch ein Wort des Lebendigen sind die Himmel gemacht« (Ps 33,6; vgl. Gen 1,3). Noch deutlicher wird in Spr 8 von der Weisheit als einer personal vorgestellten, weiblichen Größe gesprochen, die als Erstling geschaffen wurde (V. 22), als Liebling der Gottheit vor ihr spielt (V. 30) und durch die Gott die Welt geschaffen hat (V. 23-29). Die Weisheit wird schließlich mit dem Wort zusammengebracht (Weish 9,1 f u. ö.), auch sie geht wie das Wort »aus dem Mund der Höchsten hervor« (Sir 24,3). Schließlich wird sie zudem mit der Tora gleichgesetzt (Sir 24,23 f), woraus sich die Vorstellung eines weisen Weltengesetzes ergibt, das im Sinne von »Naturgesetzen« der Schöpfung zugrunde liegt und in Israel durch Mose seinen Ort fand. Wenn in Joh 1 logos mit »Weisheit« wiedergegeben wird, wird damit ein Element aus der Vorgeschichte des Konzeptes einer personalen Größe »Wort«, die der Schöpfung vorangeht und ihr als Ordnung zugrunde liegt, zum Verständnis dieses Textes herangezogen.“[3]

Zumindest hat diese Übersetzung einen entscheidenden Vorteil: sie vermeidet den Kurzschluss von Wort und Wort Gottes, der in der deutschen Sprache so nahe liegt. Mit der Übersetzung des Wortes „logos“ durch Weisheit wird ja die personale Größe „Wort“ nicht in Frage gestellt, ganz im Gegenteil sie wird eher von den kirchengeschichtlichen Verengungen befreit und bereichert.

Es wäre sehr hilfreich, wenn auch die EKD in der kommenden Zeit deutlich machen würde, dass sie dem Missverständnis, sie meine mit „Wort“ so etwas wie Rede, Buch oder Text nicht Vorschub leisten will. M.a.W. die EKD muss klar erkennen lassen, dass sie künftig wieder Theologie treiben und nicht „Dachmarkenkampagnen“ betreiben will. Das Handbuch für Marketingstrategie ist ein schlechter Ratgeber für Evangelische Theologie.

Zum Dritten: Im Heft 17 des Magazins für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik hat Dietrich Neuhaus den Faden seines Aufsatzes von 1987 noch einmal aufgegriffen und seine Überlegungen im Blick auf das protestantische Verhältnis von Bild und Wort ergänzt und fortgeführt. Seine gegenüber 1987 erweiterte Fragestellung lautet: Macht es Sinn, bei einer sich auf Jesus Christus als dem Wort Gottes berufenden Religion, dieses Wort Gottes gegen das Bild auszuspielen? Wenn man nicht dem Missverständnis unterliegt, dass Wort das gesprochene oder geschriebene Wort meint, sondern ein lebendiges Handeln, welche Plausibilität macht es dann, dieses Wort assoziativ exklusiv mit Büchern und Reden zu verknüpfen? Wie kann man den Eindruck vermeiden, den Hugo Ball so formulierte: "Der Protestantismus ist eine Philologie, keine Religion"? 

Neuhaus skizziert zunächst den Weg, der „von dem offenbarungstheologischen Verständnis des Begriffes ‚Wort Gottes’ (= die Person Jesu Christi), über die missionstheologische ‚Verkündigung des Wortes Gottes’ (möglicherweise mit allen zu Gebote stehenden Mitteln) zur nur noch verbalen ‚Predigt des göttlichen Wortes’ führt. Obwohl es jeweils um drei vollkommen unterschiedliche Sinnebenen geht, wird der Anschein von stringenter Schlussfolgerung geweckt, weil es auf jeder Stufe irgendwie um ‚Wort’ geht. Auch bei wohlwollender Interpretation kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass hier Begriffs-Scharlatanerie getrieben wird.“[4] Man muss also die Differenz benennen und bewusst halten. Trotzdem kann und muss man die Frage der Bilder noch einmal dezidiert durchbuchstabieren: „Sofern die ‚Kirche des Wortes’ auch sichtbare Kirche, d.h. eine religiöse Institution in dieser Gesellschaft ist, kommt sie um positive religiöse Gestaltungsaufgaben nicht herum. Diese Gestaltungsaufgaben beinhalten die Schaffung von eigenen Bilderwelten in Auseinandersetzung mit anderen Bilderwelten; sie bedeuten, Menschen in Bilderwelten Orientierung zu geben und sie im Umgang mit Bildern anzuleiten.“[5]

Genau das geschieht aber mit der Kampagne der EKD nicht. Ihre visuelle Strategie ist eine der Verdummung unter Außerachtlassung zentraler Punkte evangelischer Verkündigung. In der Sache sind wir längst viel weiter. Eilert Herms hat bereits auf dem Kirchbautag 1983 entsprechende Überlegungen vorgelegt und die „szenische Erinnerung als das Medien (beschrieben), in dem das christliche Wahrheitsbewusstsein gegeben und mitgeteilt wird.“[6] Demgegenüber ist die visuelle Strategie der EKD zur Lutherdekade mit IKEA-Regalen als visuellem Kondensat des Wortes Gottes nur noch eine misslungene Möblierung des Religiösen.

Anmerkungen

[1]    http://www.ekd.de/aktuell/78859.html

[2]    Neuhaus, Dietrich (1987): Der Schatten der Bilder. Versuch eines Protestanten, den Bildern ins Wort zu fallen. In: Marquardt, Friedrich-Wilhelm; Schellong, Dieter; Weinrich, Michael (Hg.): Welch ein Mensch? Einwürfe 4. München: Kaiser, S. 79–114, hier S. 89.

[3]    Bail, Ulrike; Crüsemann, Frank; Crüsemann, Marlene, et al. (Hg.) (2007): Bibel in gerechter Sprache: Gütersloher Verlagshaus.

[4]    Neuhaus, Dietrich (2002): Wort und Bild. Die Bilderfrage als Problem der politischen Theologie. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 4, H. 17. https://www.theomag.de/17/dn2.htm.

[5]    Ebd.

[6]    Herms, Eilert (1984): Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes. In: Beck, Rainer (Hg.): Die Kunst und die Kirchen. Der Streit um die Bilder heute. München: Bruckmann (Pantheon Colleg), S. 242–259.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/74/am373.htm
© Andreas Mertin, 2011