75 Jahre danach: Kunst und Kirche |
Der Protestantismus ist ein Papiertiger… und möchte es auch gerne bleibenAndreas Mertin |
Als Jugendlicher bekam ich von einer Tante, die einer religiösen Sekte, heute würden wir eher sagen, einer religiösen Gemeinschaft angehörte, immer religiöse Traktate mitgebracht. In aller Regel handelte es sich um erbauliche Geschichten, in denen von frommen Menschen auf verwinkelten Pfaden irgendwelche Missions- und Bekehrungserfolge erzielt wurden. Literarisch war das außerordentlich simpel gestrickt und sprachlich von einfacher Natur, sozusagen im stilus humilis geschrieben. Mit den Texten, die man zeitgleich in der Schule las (ich erinnere mich etwa an Alexander Solschenizyns „Der erste Kreis der Hölle“, der im 9. Schuljahr in Deutsch verhandelt wurde) hatte das ganze wenig zu tun. Die in den Traktaten erzählten Geschichten habe ich so schnell vergessen wie sie einem zur Lektüre unterkamen. Es war religiös-instrumentelle Verbrauchsware. An eine dieser Geschichten wurde ich aber dieses Jahr wieder erinnert, als ich eine Pressemeldung der Evangelischen Kirche in Deutschland las. In der Geschichte aus dem Bekehrungstraktat meiner Tante ging es darum, dass jeder seinen Beitrag zur Missionierung der Menschheit und der bösen abgefallenen Welt leisten könne. Und das wurde anhand eines kleinen, schwer kranken Mädchens exemplifiziert, dessen Krankheit ein Verlassen des Bettes unmöglich machte. Dieses Mädchen schrieb nun Verse aus der Bibel auf kleine Zettel, die es dann aus einem Loch im Fensterrahmen ihres Zimmers warf, in der Hoffnung, auf diese Weise irgend jemanden zur Lektüre und zum Weiterlesen und damit zur Bekehrung anstiften zu können. Und tatsächlich … Den Rest kann man sich denken. Derartige Geschichten haben nie etwas mit der erfahrenen Lebensrealität zu tun, sondern sind Ideologie durch und durch. An diese Geschichte jedenfalls wurde ich erinnert, als ich Ende Oktober die Pressemitteilung der EKD las. Dort wurde nämlich behauptet, es sei dem Kirchenamt der EKD gelungen, eine neue Art der Mission zu entwickeln. Angekündigt wurde das Ganze wortwörtlich so:
Ja, so habe ich spontan gedacht, genau so wird die Vermittlung des Evangeliums neu erfunden! Bisher haben wir den Segen Gottes immer noch erfleht, manchmal erkämpft (Gen 32, 27), normalerweise erbeten oder uns im Gottesdienst zusprechen lassen. Weil aber die Verkündigung des Wortes Gottes scheinbar bisher nicht funktionierte und alle Gottesdienste und aller Religionsunterricht vergeblich waren, versuchen wir es jetzt mit Papierfliegern, die unseren Segen in Form von Bibelversen über und unter die Menschen bringen. [Über die logische Verknüpfung zwischen dem ersten Satz der Ankündigung und dem zweiten Satz will ich nicht wirklich nachdenken, weil mich dann die Verzweiflung ob der sprachlichen Inkompetenz der Verfasser umtreiben würde: Etwas sanfter als Luther? Wie kann man Segen sanfter herab fliegen lassen als Luther seine Thesen befestigte??? Hat Luther („das sanftlebende Fleisch zu Wittenberg“ wie Thomas Müntzer ihn 1524 charakterisierte) die Thesen gewaltsam an Menschen befestigt? Oder hat er grob mit Hammer und Nägeln nach dem Thesenpapier geworfen, damit es an der Kirchtür hängen bleibt? Der Protestantismus scheint zunehmend eine Kirche des misslingenden Wortes und der falschen Metaphern zu werden.] Den kurz darauf im Text folgenden Satz „Das Medium der Reformation ist im Prinzip seit Luther gleich geblieben: Papier“ halte ich nun freilich für entlarvender, als es sich seine Verfasser gedacht haben. Ich fühlte mich an einen anderen Satz erinnert, der in meiner späteren Jugendzeit häufiger zitiert wurde und von Mao stammt: Der Imperialismus und alle Reaktionäre sind Papiertiger. Aktualisierend umformuliert: Die evangelische Kirche und alle ihre missionarischen Funktionäre sind bloße Papiertiger. Was immer Medientheorie in den letzten 100 Jahren an Erkenntnissen hervorgebracht hat, ein Satz wie „Das Medium der Reformation ist das Papier“ gehört sicher nicht dazu. Wer denkt sich so etwas aus? Das ist wirklich Schwachsinn. Das Medium der Reformation mag der Mensch sein, vielleicht das sich in der Neuzeit neu definierende Subjekt, vielleicht der Rekurs auf den Buchstaben und die Schrift, vielleicht sogar das Buch, aber ganz sicher nicht das Papier, das um die Zeitenwende von den Chinesen erfunden wird und lange vor der Reformation, nämlich seit dem 13. Jahrhundert in Europa quasi industriell genutzt wurde. Gemeint ist vermutlich der Buchdruck, aber das passt dann schlecht zu den Papierfliegern. Medientheoretisch wäre es auch falsch: die zentralen Medien der Reformation waren die bis dahin religiös ausgebeuteten und unterdrückten Menschen. Aber vielleicht ist der Satz zumal wenn man die Lesart von Mao zur Deutung hinzuzieht ja zutreffender, als man als Mitglied der Evangelischen Kirchen hoffen möchte. Vielleicht ist der Protestantismus am Beginn des 21. Jahrhunderts als religiöse Splittergruppe (um nicht zu sagen Sekte oder Gemeinschaft neben der römischen Weltkirche) ja tatsächlich zum Papiertiger geworden und richtet sich nun wohlig in diesem Selbstverständnis ein. Die Beschreibung jedenfalls, mit der diese vom Kirchenamt der EKD propagierte Aktion zur Nivellierung des Evangelischen auf Trivialevents begleitet wird, lässt Schlimmstes fürchten:
Ja, in diesem Text erkenne ich exakt die religiösen Ergüsse aus den Traktaten meiner Tante aus der frühen Jugendzeit wieder. Endlich hat die Evangelische Kirche in Deutschland es geschafft und die seinerzeit von Bischof Huber betriebene Annäherung an den evangelikalen Diskurs bis zur Ununterscheidbarkeit vorangetrieben. Lassen wir doch Vernunft und Bildung hinter uns und schmeißen wir Papierflieger vom Himmel. Im Ruhrgebiet würde man darauf antworten: Oh Herr, schmeiß lieber Hirn vom Himmel, die Menschen können es gebrauchen. Es wird jedenfalls Zeit, die Verantwortlichen im Kirchenamt der EKD zurück in die Gemeinde zu schicken, damit sie lernen, was Verkündigung heißt und vor allem: was das Wort Gottes ist. Aber wer will das/die wiederum den Gemeinden zumuten? P.S.: Damit keine Missverständnisse entstehen. Ich habe nichts gegen die Aktion mit den Papierfliegern an sich. Sie ist eine nette Unterhaltungsaktion für Konfirmanden und Jugendgruppen und beschäftigt zumindest den Küster für einige Zeit, der die Papierflieger wieder aufsammeln und zum Recycling in den Papierkorb schmeißen muss. Man könnte diese Aktion sogar noch erweitern: Texte mit einem Gummiband an Steine binden und diese in einen Teich werfen, um Fische zu bekehren. Oder Texte in leere Flaschen füllen und diese als Flaschenpost im örtlichen Bach oder Fluss aussetzen. Oder Texte an mit Heliumgas gefüllte Ballons binden und die aufsteigenden und verschwindenden Botschaften mit den Augen verfolgen. Über den Wolken soll die Freiheit ja grenzenlos sein und auch Vögel bedürfen wie wir seit Franz von Assisi wissen der Ansprache ... Ach ja, das Leben ist schön und lässt sich mit einer Reihe freizeitverzehrender Aktivitäten ausfüllen. Nur mit einem hat das Ganze nichts zu tun: Mit der Mission und Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi. Die Geistkraft weht zwar, wo sie will, man hört ihre Stimme, aber man weiß nicht, woher sie kommt und wohin sie geht. (Joh 3,8) Aber sie treibt keinesfalls Papierflieger an. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/74/am375.htm
|